Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
heptagonerschienen am26.08.20191. Auflage
Wolfgang Blankenburg (1928-2002) gilt als einer der großen Denker der Psychopathologie sowie der Psychiatrischen Anthropologie und Philosophie. Nachdem er an den Universitäten in Freiburg und Heidelberg gelehrt hatte, war er zuletzt Ordinarius und Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie in Marburg. Die Schrift Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit ist sein bekanntestes Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Es wird mit dieser Neuausgabe wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR40,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextWolfgang Blankenburg (1928-2002) gilt als einer der großen Denker der Psychopathologie sowie der Psychiatrischen Anthropologie und Philosophie. Nachdem er an den Universitäten in Freiburg und Heidelberg gelehrt hatte, war er zuletzt Ordinarius und Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie in Marburg. Die Schrift Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit ist sein bekanntestes Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Es wird mit dieser Neuausgabe wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783934616189
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Verlag
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum26.08.2019
Auflage1. Auflage
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse687 Kbytes
Artikel-Nr.4867720
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
II. Die Frage nach einer »Grundstörung«



Wenn sich das Interesse der vorliegenden Arbeit auf die symptomarme Form der Schizophrenie konzentriert, so hat das nicht nur den Sinn, die Aufmerksamkeit auf ein psychopathologisch relativ wenig bearbeitetes Gebiet zu lenken. Leitend sind vielmehr grundsätzlichere Probleme. Es geht um die Freilegung dessen, was bei Schizophrenen im Grunde ihres Menschseins »gestört« ist. In diesem Sinne sprechen wir von Grundstörung.

Dabei ist zu beachten: Das Wort »Grundstörung« ist ebenso wie »Primärsymptom« und ähnliche Bezeichnungen mehrdeutig. Wegen ihrer Belastungen mit Äquivokationen würden sie besser vermieden. K. Schneider (1957) hat sechs verschiedene Bedeutungen von »primär« nachgewiesen und gegeneinander abgegrenzt. Hier nur soviel: »Grundstörung« meint in unserem Zusammenhang nichts Ätiologisches. Die Frage richtet sich ausschließlich auf das Wesen jener Veränderungen, die wir in der klinischen Empirie als »schizophrene« bezeichnen, nicht auf die Bedingungen, unter denen sie in Erscheinung treten, - also auf das Was und nicht auf das Wodurch. Beides ist scharf auseinanderzuhalten4. Es darf diesbezüglich an die Mahnung des Begründers der Kybernetik, Norbert Wiener, erinnert werden, über der so notwendigen Forschung nach dem »to know how« nicht das »to know what« als wissenschaftliches - und d.h. der Einzelwissenschaft zugehöriges - Problem aus den Augen zu verlieren. Diesem Ziel will die phänomenologisch-eidetische Forschung dienen5. - Dabei beanspruchen wir keineswegs, so etwas wie »die« Grundstörung schlechthin zu beschreiben. Die Geschichte der Schizophrenieforschung mahnt solchen Vorhaben gegenüber zur Skepsis. Es genügt uns, ein basales anthropologisches Strukturmoment freizulegen und näher zu untersuchen.

Es stellt sich nun die Frage, ob über die symptomarme, einfache Schizophrenie, bei der nach E. Bleuler die »Grundsymptome« das Feld beherrschen, eher an eine solche Grundstörung heranzukommen ist als über die anderen Formen. Diese Frage hat sich erstmals J. Wyrsch (1940) gestellt. Gegenüber der Meinung E. Bleuers, die farblose Eintönigkeit dieser Verläufe lasse es nicht lohnend erscheinen, sie genauer zu beschreiben, machte er geltend, daß man doch gerade hier erwarten sollte, auf die »Grundstörung« als solche zu stoßen. Wir befinden uns dabei auch heute noch in einem eigentümlichen Dilemma: Dort, wo uns die Symptome deutlich, sprechend, d.h. annähernd spezifisch6 vor Augen treten, etwa im paranoid-halluzinatorischen Syndrom, haben wir allen Grund daran zu zweifeln, daß wir in ihnen auf das Eigenwesentliche der Schizophrenie stoßen. Dort aber, wo wir in der symptomarmen Hebephrenie oder Schizophrenia simplex oder im sog. »Defekt« (sei er nun residuär oder »vorauslaufend« im Sinne von Janzarik) die Grundstörung (den Potentialverlust nach Conrad) isoliert vor uns zu haben glauben, ist diese kaum noch als etwas Spezifisches faßbar. Sie begegnet zum Beispiel als blandes Leistungsversagen inmitten einer Zone relativ »stummer Symptome« (Jacob) und erscheint gelegentlich so uncharakteristisch, daß gerade in den letzten Jahren Stimmen laut wurden, die sich für die gänzliche Unspezifität solcher Basissyndrome oder Basisstadien (Huber 1966) aussprachen7. Wo also die Symptome charakteristisch sind, scheinen sie nicht originär, sondern bereits Folge einer Auseinandersetzung mit der Krankheit zu sein, wo sie dagegen als originär angesehen werden können, geben sie sich uncharakteristisch.

Es sind immer wieder Versuche gemacht worden, die vermutete Grundstörung als eine rein quantitative Defizienz anzusetzen, die im Vordergrund stehende qualitativ abnorme Symptomatik dagegen als Ereignis sekundärer Verarbeitung bzw. von Anpassungs- (E. Bleuler), Selbstheilungs- (Klaesi) oder Rückordnungsversuchen (Kisker). So sah z.B. Llavero in jedem Symptom eine »Resultante« zwischen »einwirkender Noxe« und bestimmten »psychischen Kompensationsmechanismen«. Binder unterschied schon früher (allerdings im Hinblick auf Zwangserscheinungen) »Störungs«- und »Abwehrpsychismen«, und M. Müller fragte, von einem ähnlichen Konzept ausgehend, nach den »Heilungsmechanismen« bei der Schizophrenie. Janzarik (1959) suchte Anhaltspunkte zu gewinnen für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen »einbrechender Dynamik« und »stabilisierender Intentionalität«. Simkó (1968) zieht zum Vergleich die beiden Komponenten des vestibulären Nystagmus heran8. Die Analogie ist einleuchtend. Nur treten uns bei der Schizophrenie die beiden Komponenten kaum je so schön säuberlich getrennt gegenüber wie im Modell des Nystagmus; sie bleiben weitgehend hypothetisch, da wir meist nur das Resultat ihres Zusammenwirkens vor Augen geführt bekommen Daß es aber in diesem Sinne überhaupt einen Unterschied gibt zwischen primären und sekundären Veränderungen des seelischen Lebens, ist sehr wahrscheinlich. Weitbrecht (1963, 368) sieht darin sogar »eine der fruchtbarsten Einsichten der Psychopathologie überhaupt«. Wo jedoch der Schnitt zwischen ihnen anzusetzen ist, läßt sich bislang empirisch kaum bestimmen, sondern hängt noch weitgehend von der jeweils herangetragenen psychopathologischen Grundkonzeption des einzelnen Forschers ab. Vor allem ist unklar, ob die Schizophrenie ihre relativ spezifische Symptomatik nur den sekundären Reaktionsformen verdankt oder auch - und dann inwieweit? - den primären Veränderungen. Heute gewinnt die erstere Auffassung zunehmend an Boden. Danach findet das »Primäre« seinen unmittelbarsten Niederschlag im Unspezifischen des »reinen Defekts« (Huber).

Dennoch bleibt der Eindruck bestehen - zunächst ist es nicht mehr als ein Eindruck, der auf seine Berechtigung hin zu prüfen ist -, daß auch da etwas qualitativ Spezifisches vorliegt, wo es sich in Simplexverläufen oder Defektsyndromen nur um ein uncharakteristisches Versagen zu handeln scheint. Es fragt sich, ob die ausgebreitete Fülle apophäner Symptomatik hier am Ende nur zusammengeschrumpft ist zu einem punktuellen Aliter, bei dem das qualitative Anderssein nicht mehr zur Entfaltung kommt, aber dennoch als ein Ineffabile den Kern dieser Symptomatik ausmacht9. Es geht also um die Spezifität im scheinbar Unspezifischen. Von daher ist es verständlich, wenn Wyrsch der reflektierten Form der Schizophrenia simplex trotz ihrer extremen Seltenheit eine so große Bedeutung beimaß.

Die Fragestellung von Wyrsch läßt sich noch weiter zurückverfolgen. H. Kunz hatte schon 1931 in einer Arbeit über »Die Grenze der psychopathologischen Wahninterpretationen«, z.T. im Anschluß an Gedankengänge von Kronfeld, gefordert, vom Paranoid aus zurückzufragen nach dem Boden, auf dem es wachse. Er betonte, »innerhalb dieser unendlichen Möglichkeiten« des Schizophrenwerdens müsse »vor allem auch die eine hervorgehoben werden: daß ... die Verrückung als solche primär wahnlos« geschehe, bzw. wenn ein Wahn einsetze, dieser nicht »der Existenzumwandlung als solcher entspringe, sondern ... auf einem (wahnlos) verrückten Boden« einsetze. In diesem Zusammenhang betonte er auch, daß »man an den einfachen hebephrenen Versandungen und den übrigen unproduktiven Formen nicht achtlos und betreten vorübergehen« dürfe (1931, 692). Als Grundstörung wird bei ihm (und in den gleichzeitigen Arbeiten von Storch) erstmals eine Existenzwandlung angesprochen. Damit ist in eine bestimmte Richtung gewiesen. Bis in unsere Zeit hinein hat sich die anthropologische Wahnforschung mit diesem Problem beschäftigt. Die Wahninterpretationen L. Binswangers stellen über weite Strecken, teils implizit, teils explizit (1958, 187 ff.; 1965, 13 ff.) eine Auseinandersetzung mit den Gedankengängen von Kunz dar. Die klinisch-psychopathologische Frage nach dem »Vorbereitungsfeld des Wahns« (K. Schneider, Huber) geht in dieselbe Richtung.

Wenn die Aufgabe lautet, vom Wesen des schizophrenen Wahns zurückzufragen nach dem Wesen der vorparanoiden schizophrenen Daseinsweise, ist es gut, kurz zu rekapitulieren, was wir von ersterem wissen: Auf dem Weg zu einer Wesensbestimmung des Wahns sind in den letzten beiden Jahrzehnten nicht viele, aber doch einige bedeutsame Fortschritte gemacht worden. Seit Mayer-Gross hat es nicht an Versuchen gefehlt, den Wahn als (pathologischen) Spezialfall des Glaubens zu interpretieren. Bash sah z.B. in ihm, ausgehend von C.G. Jungs Konzeption der vier Grundfunktionen des Seelischen, eine Abart der Intuition. Dem hat Matussek (1963) die neueren Auffassungen entgegengehalten, wonach nicht ein pathologischer Glaube, sondern ein pathologischer Glaubensverlust grundlegend ist für den Wahn. Schon früher hatte Valenciano (1957, 1961) im Anschluß an Gedankengänge Ortega y Gassets die Bedeutung eines »vitalen Zweifels« für die Psychopathologie der Schizophrenie herausgearbeitet. Dabei hängt natürlich alles von hinlänglich klaren Differenzierungsmöglichkeiten zwischen einem »normalen« und einem »vitalen pathologischen« Zweifel ab. Welche Kriterien gibt es für das Vitale eines Zweifels? Rührt nicht jeder tiefere existenzielle Zweifel an die vitalen Grundfesten der Person? Wenn von »Glaubensverlust« als Voraussetzung des Wahns die Rede ist, kann nicht dasselbe gemeint sein, was fast jeder Gesunde mehr oder weniger irgendwann in seiner Entwicklung erfährt, ohne etwa darüber schizophren zu werden. Auf der anderen Seite lassen sich, gerade wenn man ihre Dialektik ins Auge faßt, gewisse Parallelen...
mehr