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Pädagogisches Neusprech

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
260 Seiten
Deutsch
Kohlhammer Verlagerschienen am31.05.20231. Auflage
Als 'Neusprech' bezeichnet George Orwell in seinem dystopischen Roman 1984 die politisch gesteuerte Umformung der Sprache, mit der die in ihr aufbewahrte Vergangenheit dem Vergessen anheimgegeben, also unsagbar gemacht werden soll. Um solche Um- und Überformungsprozesse - in diesem Fall pädagogischer Begrifflichkeiten und Problemdebatten - meist im Namen von 'alternativlosen' Reformen geht es auch in diesem Band. Denn die gegenwärtige Umgestaltung der pädagogischen Praxis mit neuen, der Kritik per se entzogenen Vokabeln bedarf eines Perspektivenwechsels. Anders als bei Orwell lassen sich die 'Neuankömmlinge' jedoch nicht auf eine manipulierende Instanz wie den 'großen Bruder' zurückführen, sondern speisen sich aus ganz unterschiedlichen Quellen und Kontexten, die hier, in umgekehrter Blickrichtung, aufgedeckt und kritisch auf ihre ideologischen Funktionen und möglichen Konvergenzen hin analysiert werden. In diesem Sinne behandelt werden folgende Begriffe: Individualisierung, Selbststeuerung, Kompetenz Gender/Geschlecht, Resonanz, Achtsamkeit, Vielfalt/Diversität, Resilienz, Nachhaltigkeit und Evidenzbasierung.

Dr. Karl-Heinz Dammer ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Dr. Anne Kirschner ist Juniorprofessorin für Allgemeine Pädagogik an der PH Heidelberg.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR36,00
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR31,99

Produkt

KlappentextAls 'Neusprech' bezeichnet George Orwell in seinem dystopischen Roman 1984 die politisch gesteuerte Umformung der Sprache, mit der die in ihr aufbewahrte Vergangenheit dem Vergessen anheimgegeben, also unsagbar gemacht werden soll. Um solche Um- und Überformungsprozesse - in diesem Fall pädagogischer Begrifflichkeiten und Problemdebatten - meist im Namen von 'alternativlosen' Reformen geht es auch in diesem Band. Denn die gegenwärtige Umgestaltung der pädagogischen Praxis mit neuen, der Kritik per se entzogenen Vokabeln bedarf eines Perspektivenwechsels. Anders als bei Orwell lassen sich die 'Neuankömmlinge' jedoch nicht auf eine manipulierende Instanz wie den 'großen Bruder' zurückführen, sondern speisen sich aus ganz unterschiedlichen Quellen und Kontexten, die hier, in umgekehrter Blickrichtung, aufgedeckt und kritisch auf ihre ideologischen Funktionen und möglichen Konvergenzen hin analysiert werden. In diesem Sinne behandelt werden folgende Begriffe: Individualisierung, Selbststeuerung, Kompetenz Gender/Geschlecht, Resonanz, Achtsamkeit, Vielfalt/Diversität, Resilienz, Nachhaltigkeit und Evidenzbasierung.

Dr. Karl-Heinz Dammer ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Dr. Anne Kirschner ist Juniorprofessorin für Allgemeine Pädagogik an der PH Heidelberg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783170428119
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum31.05.2023
Auflage1. Auflage
Seiten260 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3641 Kbytes
Artikel-Nr.11816619
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Individualisierung
Karl-Heinz Dammer
1          Fallstricke der Individualität

Beim Begriff »Individualität« stellen sich, zumindest in unserem Kulturkreis, in der Regel positive Konnotationen wie »einmalig«, »unverwechselbar«, »originell«, »eigensinnig« etc. ein. Gibt man bei Google die Begriffe »Individuum« und »einzigartig« ein, so stößt man auf eine Fülle von Sinnsprüchen der Art: »Sei einzigartig«, »Sei immer du selbst« oder, wie an dem Stand eines Geschenkartikelladens, den ich in einer kleinstädtischen Fußgängerzone entdeckte:

Abb. 1:    Individualität (eigenes Archivbild)

Im Gegensatz zu den spontanen Konnotationen hinterlassen die zitierten Sinnsprüche einen zwiespältigen Eindruck: Die Sehnsucht nach Individualität ist offenbar ein Massenphänomen; man kann in dem abgebildeten Geschenkeartikelladen zwar eine durch den eigenen Vornamen individualisierte Tasse erwerben, von »Abbigail« bis »Zyprian« sind wir aber alle putzige Robben und insofern keineswegs »etwas ganz Besonderes«. Außerdem scheinen wir bei der Suche nach Individualität einem gewissen Druck zu unterliegen, sonst bräuchte man uns nicht imperativisch anzusprechen (»Sei einzigartig«). Wir mögen zwar alle mit einzigartigen Anlagen auf die Welt kommen, dies reicht aber offenkundig nicht, um gesellschaftlich als Individuum adressiert zu werden. Individuum werden wir erst, wenn wir uns selbst dazu machen; nur unter dieser Voraussetzung ist es überhaupt sinnvoll, von »Individualisierung« zu sprechen. Warum aber dieser Zwang?

Einen wesentlichen Grund dafür offenbart folgender Buchtitel: »Sei einzigartig! Wie Sie als Jungunternehmer erfolgreich werden.«1 Warum der Unternehmer einzigartig sein muss, ist nicht schwer zu erraten, denn nur mit originellen Ideen und deren Umsetzung in Produkte kann er auf dem Markt gegen die anderen einzigartigen Unternehmer bestehen, und diese Originalität muss er auch in seiner Person repräsentieren, woraus folgt, dass letztlich die Marktgesetze darüber bestimmen, wie Individualität zu inszenieren ist. Dies gilt nicht nur für den Unternehmer, sondern letztlich mehr oder minder für alle Menschen, die sich mit ihrem individuellen Profil auf dem Arbeitsmarkt behaupten müssen. Wer nicht besonders ist, erhöht sein Risiko, ausgesondert zu werden.

Diese Form der Individualisierung hat freilich ihren Preis, den der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seinem Buch »Das erschöpfte Selbst« beschreibt: Der Zwang zur individuellen Selbstbestimmung überfordert uns langfristig und ist eine der wesentlichen Ursachen für die Zunahme von Depressionen (Ehrenberg 2004).

Wir sehen also: Individualität und Individualisierung sind offenbar vertrackter, als die vordergründige Emphase es erscheinen lässt, weswegen es sinnvoll ist, einmal genauer nachzufragen, was heute, vor allem im Kontext von Schule und Lernen, mit »Individualisierung« gemeint ist und bezweckt wird. Dazu gilt es zunächst, den Begriff »Individuum« und dessen Verhältnis zur Gesellschaft näher zu bestimmen, bevor die schulischen Konsequenzen der Individualisierung zur Sprache kommen. Ihr liegt ein Verständnis von Individualität zugrunde, das sowohl aus den theoretischen Debatten des ausgehenden 20. Jahrhunderts sowie aus der sozioökonomischen Entwicklung seit Ende der 1970er Jahre resultiert, die kurz dargestellt werden sollen, bevor wir uns der sog. »neuen Lernkultur« zuwenden, deren erklärtes Ziel die Individualisierung von Lernenden ist. Abschließend werden im Rahmen einer kurzen Ideologiekritik einige hypothetische Antworten auf die Frage formuliert, warum die neue Lernkultur so viele Anhänger findet.
2          Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft

Der Begriff »Individuum« ist in der Philosophie seit der Antike geläufig und bezeichnete bis ins 18. Jahrhundert hinein ganz allgemein etwas Vereinzeltes, Besonderes, das in seiner konkreten Erscheinung einmalig und dadurch von anderen Erscheinungen zu unterscheiden ist. Als solches ist das Individuum unteilbar (»in-dividuus«); sobald man einen Teil oder eine Eigenschaft davon wegnimmt, verliert es seine spezifische Gestalt bzw. seinen unverwechselbaren Charakter. Aus diesem Grund lässt es sich auch nicht vollständig beschreiben, da dies auf eine Aneinanderreihung von Attributen und damit auf Kategorisierungen hinauslaufen würde, die von der nur ganzheitlich zu fassenden Besonderheit abstrahieren würden. Weil sich das Individuum diesem Zugriff entzieht, gilt in der Philosophie der Satz: »Individuum est ineffabile«, das Individuum ist nicht (in Begriffen) zu fassen, es ist unsagbar. Diesem grundsätzlichen philosophischen Verständnis nach sind mit dem Begriff keinerlei Wertungen verbunden, auch nicht bei der »Einmaligkeit«, die nur kategoriell den Wesensunterschied des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen bezeichnet.

Erst seit der Aufklärung wird der Begriff »Individuum« verstärkt nur noch auf den Menschen bezogen und damit, im Gegensatz zum vorherigen Begriffsverständnis, in mehrerlei Hinsicht mit normativen Vorstellungen aufgeladen.


  Moralisch: Das autonome Subjekt, das frei und eigenverantwortlich, d. h. ohne Rückgriff auf metaphysische oder weltliche Rechtfertigungsinstanzen, allein aus seiner Vernunft heraus ethisch richtige Entscheidungen treffen kann.

  Bildungstheoretisch: Der Mensch, der seine Individualität aus sich heraus in Auseinandersetzung mit der Welt formt und dadurch zum Subjekt, verstanden als Urheber seiner selbst, wird.

  Politisch: Der mündige Bürger, der zur Beurteilung öffentlicher Angelegenheiten von seinem eigenen Verstand Gebrauch macht und sich mit anderen darüber austauscht.

  Ökonomisch: Der Mensch als Eigentümer von Fähigkeiten und Privatbesitz, über die er frei verfügen kann, um sein materielles Überleben selbständig zu sichern, was dann zur Grundlage des Kapitalismus wurde. Eng mit diesem verbunden war die

  Anthropologische Bestimmung des Menschen als eines Einzelwesens, das egoistisch auf die Verfolgung und Durchsetzung seiner Interessen fokussiert sei. Aus den drei letztgenannten Aspekten resultierte dann auch die

  Gesellschaftliche Definition des Individuums als Träger spezifischer Eigenschaften, die es befähigen, bestimmte Leistungen für die Gesellschaft zu erbringen.


Die Ausdifferenzierung des Konzepts verdeutlicht, dass die »Erfindung des Individuums«, wie ich es hier einmal nennen möchte, zwar eine bis dahin undenkbare Freisetzung des einzelnen Menschen bedeutete, aber auch mit hohen normativen Erwartungen an ihn verbunden war, die ihm nicht mehr die Wahl ließen, sich anders zu verstehen, denn als Individuum.

Damit wurde die Frage akut, in welcher Beziehung das Individuum unter diesen neuen Bedingungen zur Gesellschaft stehen sollte. Ohne auf die unterschiedlichen Erklärungsansätze im Detail einzugehen, kann man feststellen, dass die meisten Philosophen, die sich mit dieser Frage auseinandersetzten, sei es Kant, Fichte, Humboldt, Hegel oder Marx, stets davon ausgingen, dass Individuum und Gesellschaft notwendig miteinander vermittelt sind, das eine also nicht ohne das andere denkbar ist. Wie man sich dies konkret vorstellen kann, hat Norbert Elias in seinem Aufsatz »Die Gesellschaft der Individuen« genauer zu fassen versucht. Sein Grundgedanke ist, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dass man sich also die Gesellschaft nicht als eine Ansammlung vereinzelter Menschen vorzustellen hat, sondern als ein komplexes Geflecht von Beziehungen, das diese Menschen untereinander herstellen und das einer eigenen Dynamik folgt, die weder aus dem Handeln und den Absichten der Einzelnen noch aus einer übergeordneten Gesetzmäßigkeit ableitbar ist. Dieses Geflecht kann sich zwar verändern, die Veränderungen sind aber nicht planbar. Die Verflechtung ist allerdings nicht nur etwas, das das Individuum als Begrenzung seiner Freiheit hinnehmen muss, sondern auf das es auch existentiell angewiesen ist, denn »nur in der Gesellschaft wird aus dem Kind mit seinen bildsamen und relativ undifferenzierten psychischen Funktionen ein differenziertes Wesen« (Elias 1987, S. 40). Elias benutzt in diesem Zusammenhang auch den Begriff der »Selbststeuerung«, der in der neuen Lernkultur, von der unten noch die Rede sein soll, eine tragende Bedeutung hat, und führt dazu aus: »So...
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Autor

Dr. Karl-Heinz Dammer ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Dr. Anne Kirschner ist Juniorprofessorin für Allgemeine Pädagogik an der PH Heidelberg.