Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Gedächtnislücken

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
204 Seiten
Deutsch
Aufbau Verlage GmbHerschienen am11.01.20121. Auflage
Zwei deutsche Legenden erinnern sich Egon Bahr, Grandseigneur der deutschen Sozialdemokratie, enger Wegbegleiter Willy Brandts, und Peter Ensikat, einer der bekanntesten Kabarettisten und Intellektuellen der DDR, sind seit vielen Jahren befreundet. Immer wieder trafen sie sich zu langen Gesprächen, in denen sie einander ihr Leben erzählten und ihr Nachdenken über die deutsche Nachkriegs- und Nachwendegeschichte teilten. Das Elend der Nachkriegszeit, der Mauerbau, der Aufstand am 17. Juni 1953, die zaghafte Politik des 'Wandels durch Annäherung' der beiden deutschen Staaten, die Bahr maßgeblich bestimmte, bis hin zum Fall der Mauer und den Debatten der Nachwendezeit - dieses Buch bietet einen ebenso kurzweiligen wie prägnanten Überblick über die jüngere deutsche Geschichte. 'Während Egon Bahr und Peter Ensikat amüsant und schlagfertig mit einander parlieren, bringen sie die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf die Reihe -- den beiden ist ein Meisterstück geglückt.' Franziska Augstein, Süddeutsche Zeitung 'Ein spannendes und aufregendes Gespräch. Greifen Sie zu diesem Buch!' Dieter Hildebrandt



Peter Ensikat, 1941 in Finsterwalde geboren, Schauspielstudium in Leipzig, schrieb erste Texte für das Studentenkabarett 'Rat der Spötter', das 1961 verboten wurde, und gehörte bald zum Autorenkreis der Berliner 'Distel', in den siebziger und achtziger Jahren war er der meistgespielte Kabarettautor der DDR, 1996 bis 2006 Künstlerischer Leiter der Distel. Er starb am 18. März 2013 in Berlin.Zahlreiche Bücher: zuletzt (zusammen mit Egon Bahr) 'Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich' (Atb, 2013).
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextZwei deutsche Legenden erinnern sich Egon Bahr, Grandseigneur der deutschen Sozialdemokratie, enger Wegbegleiter Willy Brandts, und Peter Ensikat, einer der bekanntesten Kabarettisten und Intellektuellen der DDR, sind seit vielen Jahren befreundet. Immer wieder trafen sie sich zu langen Gesprächen, in denen sie einander ihr Leben erzählten und ihr Nachdenken über die deutsche Nachkriegs- und Nachwendegeschichte teilten. Das Elend der Nachkriegszeit, der Mauerbau, der Aufstand am 17. Juni 1953, die zaghafte Politik des 'Wandels durch Annäherung' der beiden deutschen Staaten, die Bahr maßgeblich bestimmte, bis hin zum Fall der Mauer und den Debatten der Nachwendezeit - dieses Buch bietet einen ebenso kurzweiligen wie prägnanten Überblick über die jüngere deutsche Geschichte. 'Während Egon Bahr und Peter Ensikat amüsant und schlagfertig mit einander parlieren, bringen sie die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf die Reihe -- den beiden ist ein Meisterstück geglückt.' Franziska Augstein, Süddeutsche Zeitung 'Ein spannendes und aufregendes Gespräch. Greifen Sie zu diesem Buch!' Dieter Hildebrandt



Peter Ensikat, 1941 in Finsterwalde geboren, Schauspielstudium in Leipzig, schrieb erste Texte für das Studentenkabarett 'Rat der Spötter', das 1961 verboten wurde, und gehörte bald zum Autorenkreis der Berliner 'Distel', in den siebziger und achtziger Jahren war er der meistgespielte Kabarettautor der DDR, 1996 bis 2006 Künstlerischer Leiter der Distel. Er starb am 18. März 2013 in Berlin.Zahlreiche Bücher: zuletzt (zusammen mit Egon Bahr) 'Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich' (Atb, 2013).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783841204271
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum11.01.2012
Auflage1. Auflage
Seiten204 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1047474
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
1;Vorwort;6
2;Gedächtnislücken;8
mehr
Leseprobe


 

Egon Bahr und Peter Ensikat sitzen im April 2006 zwei Tage lang in einem Fernsehstudio und erzählen einander ihr Leben. Dazu angestiftet hat sie der Dokumentarist Thomas Grimm von »Zeitzeugen TV«. Die Gespräche wurden fortgesetzt. Sie bilden die Grundlage des vorliegenden Buches.

 

EGON BAHR: Wo fangen wir an? 1933, als die Nazis an die Macht kamen, hat mir mein Vater gesagt: »Hitler bedeutet Krieg.« Aber 1934 gab s keinen Krieg, 1935 auch nicht. 1936 kam die Welt nach Berlin und machte den Kotau vor unserem Führer und Reichskanzler. 1937 und 1938 - kein Krieg. 1939 begann es dann doch. Aber wie? Na fabelhaft! Zehn Tage Polen! Sechs Wochen Frankreich! Das hatte der Kaiser nicht mal in vier Jahren geschafft. Und dann noch »nebenbei« Norwegen und Dänemark. Das war damals für mich ungeheuer eindrucksvoll. Ich fühlte sogar ein bisschen Stolz. Aber dann kam der berühmte 21./22. Juni 1941, der Überfall auf die Sowjetunion. Es war ein Sonntag. Da habe ich zum ersten Mal die Fanfare gehört, diese geniale Bearbeitung von Liszts »Les Préludes«. Ich hatte das Gefühl, jetzt fängt die Erde an zu beben. Das war der Anfang vom Ende. Mein Vater hatte doch recht.

PETER ENSIKAT: Ihnen war also schon 1941 klar, das würde das Ende sein?

BAHR: Niemand hatte Russland besiegt, niemand kann es besiegen. An Russland hat sich noch jeder verhoben. Mein Vater sagte damals: »Jetzt kannst du nur noch versuchen, mit dem Arsch an die Wand zu kommen, damit du überlebst.«

ENSIKAT: Meine erste Erinnerung ist der Tag, an dem meine Mutter die Nachricht bekam, dass mein Vater gefallen ist. Da war ich knapp drei Jahre alt. Ich glaube aber mich zu erinnern, dass ich in dem Moment ahnte, dass was Schreckliches passiert war. Natürlich wusste ich nicht, was. Die nächste Erinnerung ist dann der 28. April 1945, der Tag nach meinem vierten Geburtstag. Wir wohnten in Finsterwalde, und die Russen marschierten ein, ohne dass ein Schuss fiel. Ein paar mutige Leute hatten am Wasserturm, dem höchsten Gebäude von Finsterwalde, eine riesige weiße Fahne gehisst. Die Russen marschierten einfach ein, und die »Verteidiger« waren so verblüfft, dass sie selbst auch nicht schossen. Wir vom Kirchplatz 7 saßen zusammen im Vorderhaus und mussten schließlich runter auf den Hof. Da standen dann wirklich Leute mit solchen Mongolengesichtern, wie ich sie von den Plakaten kannte. Bloß ohne Messer zwischen den Zähnen. Und längst nicht so groß, wie diese Teufel in meiner Vorstellung gewesen waren. Sie waren viel kleiner und sahen eigentlich eher jämmerlich aus. Mir fiel damals auf, dass der Saum an ihren Militärmänteln nicht umgenäht war. Und überhaupt - wie abgerissen die daherkamen. Zu uns Kindern waren sie sogar meist freundlich. Das hat aber unser Bild von Russen als Untermenschen allgemein nicht verändert. Das hielt sich lange, bis in die fünfziger Jahre. Obwohl wir sie anders erlebten, hielt die Wirkung der Nazi-Propaganda an.

BAHR: Ich habe ganz andere Erinnerungen daran, wie die Russen kamen. Ich war vorher zwei Jahre beim Kommiss, also bei der Wehrmacht, gewesen. Aber ich hatte das Glück, 1944 entlassen zu werden, weil sich herausgestellt hat, jedenfalls für die Nazis, dass meine Großmutter Jüdin war. Also wurde ich am 20. Juli entlassen. Ausgerechnet an dem 20. Juli, an dem die Offiziere vergeblich versucht hatten, Hitler umzubringen. Danach starben bis zum Ende des Krieges mehr Soldaten und Zivilisten als in den vier Kriegsjahren zuvor. Auf der Kriegsschule hatte ich gelernt, dass man eine Halbinsel schwer verteidigen kann. Und wo nicht verteidigt wird, wird auch nicht angegriffen. Also zog ich mit meiner Mutter auf so eine Halbinsel, nach Tegel Ort. Alles mit dem Fahrrad, schwer beladen. Und da wurde dann auch nicht gekämpft. Die Russen kamen eines Nachts einfach so an. Wir saßen im Keller und sahen, wie ein Bajonett um die Ecke kam. Nach dem Bajonett kam ein Soldat. Der ging durch, blieb aber plötzlich erschrocken stehen. Unterhalb des Stützbalkens hatte er einen Draht entdeckt. Ich weiß nicht, was er sich bei dem Draht gedacht hat. Wir sagten zu ihm, um ihn zu beruhigen: »Nur ein Radio.« Haben es angestellt. Nette Unterhaltungsmusik kam da raus. Dann ging er mir aber doch an die Kehle und wollte mich ⦠Ich weiß nicht, was ⦠Meine Mutter schrie schrecklich, meine spätere Frau auch. Da ließ er mich dann auch wieder los. Aber für uns begann jetzt die Zeit der Angst. Die haben sich natürlich die Frauen genommen. Meine Frau, die unübersehbar meinen späteren Sohn unterm Herzen trug, kroch einmal vor Angst mit ihrem dicken Bäuchlein unter ein Bett, kam dann aber allein nicht mehr raus, und wir mussten das Bett anheben, um sie zu befreien. Nein, angenehm war das alles nicht. Da spielte es auch keine Rolle, dass sie uns mal von ihrer wunderbar fetten Kohlsuppe was abgaben, sogar einen Schluck Wodka. Unsere Gefühle waren gemischt, sehr gemischt, jedenfalls nicht sehr angenehm. Man fühlte sich ihrer Willkür ausgeliefert. Aber den Eindruck, von dem Sie sprachen, hatte ich auch - das waren eigentlich arme Würstchen. Einer hat mal angesichts des fließenden Wassers bei uns in der Küche und im Klo in gebrochenem Deutsch gefragt: »Warum ihr Krieg?« Und es stimmt ja - wir waren im Vergleich zu denen so reich.

ENSIKAT: Von diesen Vergewaltigungen haben wir Kinder in Finsterwalde auch gehört. Immer wieder hörten wir von schlimmen Verbrechen der Russen oder der polnischen Fremdarbeiter, die sich jetzt an den Deutschen rächten. Selbst habe ich nichts davon erlebt. Es wurde damals aber sehr viel darüber gesprochen. Über deutsche Verbrechen habe ich kein Wort gehört. In meiner Erinnerung gab es in Finsterwalde ja auch plötzlich keine Nazis mehr.

BAHR: Ich wusste, dass es KZs gegeben hatte. Was dort passiert ist, die industrielle Menschenvernichtung, man konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass die Wehrmacht an solchen Verbrechen beteiligt war. Ich muss auch gestehen, dass ich in solchen Dimensionen damals gar nicht gedacht habe. Mein Gefühl nach dem 8. Mai war: Du hast es überstanden. Gesund. Hoffentlich kommt auch dein Vater bald zurück. Und dann wollte ich von Tegelort zurück nach Weißensee, nachsehen, wie es da in unserer Wohnung aussah, die zerbrochenen Fensterscheiben vielleicht durch Pappe ersetzen, was zum Heizen ranschaffen. Angesichts der Trümmerwüste war man ganz primitiv mit Überleben beschäftigt.

ENSIKAT: Ja, daran erinnere ich mich auch. Es ging nur ums Essen und im Winter ums Heizen. Ich erinnere mich, dass mein Bruder, der vier Jahre älter ist als ich, immer Kohlen klauen ging oder Kartoffeln. Meine Mutter wollte das nicht. Man klaut nicht! Wir hätten aber ohne zu klauen gar nicht überlebt.

BAHR: Ich auch nicht.

ENSIKAT: Meine Mutter hat dann natürlich die geklauten Kartoffeln gekocht, aber meinen Bruder dabei beschimpft, dass er sie geklaut hatte.

BAHR: Ich hatte kein Geld, nicht mal so viel, um das bisschen zu kaufen, was es auf Lebensmittelkarten gab. Weil ich dummerweise gedacht hatte: Reich zu Ende, also auch Reichsmark zu Ende. Das war ein Irrtum. Dann dachte ich, ich könnte mit Schreiben was verdienen. Auch ein Irrtum. Die erste Zeitung, die in Berlin aufmachte, hieß »Tägliche Rundschau« und war das Organ der Roten Armee. Dahin wollte ich nicht. Die zweite Zeitung war die »Berliner Zeitung«. Die nannte sich eine »unabhängige deutsche Zeitung«. Hab ich gedacht, da gehst du mal hin. Ich bin auch hingegangen - von Weißensee nach Neukölln. Das war weit, ohne Verkehrsmittel. Man musste über zerstörte Brücken klettern. Also, das war zu Fuß ein Tagesausflug. Als ich da ankam, hab ich sofort gesehen, wie naiv ich war. Denn die Ersten, die mir da begegneten, waren natürlich Russen. Ein russischer Major war der Chef, ein Hauptmann sein Stellvertreter. Komischerweise war das dann bei den Amis und ihrer »Allgemeinen Zeitung« genauso. Der Chef Major, der zweite Hauptmann. Da habe ich dann angefangen zu arbeiten, als Reporter. Bei den Amis in Tempelhof habe ich das Handwerk gelernt. Wann, wer, wie, wo, was - das muss gleich im ersten Satz stehen. Als ich mal eine Meldung im Zweifingersystem in die Maschine tippte, guckte mir einer von ihnen über die Schulter und fragte: »Wollen Sie Krieg und Frieden neu schreiben?« Eine unglaubliche Zeit. Wir hatten Hunger, haben gefroren und uns von Kultur ernährt. Denn nun brachten alle vier Besatzer das Beste, was sie hatten, nach Berlin. Es begann der Kampf um die Seelen der Deutschen.

ENSIKAT: Davon war leider in Finsterwalde wenig zu spüren. Da waren die Russen allein, klar. Natürlich drangen sie auch plötzlich in unseren Alltag ein. Wir mussten eines von unseren drei Zimmern untervermieten, und unsere Untermieterin, sozusagen ein »deutsches Fräulein«, hatte einen russischen Freund. Was meine Mutter natürlich auch verurteilte. Aber dieser russische Soldatenfreund, Pjotr hieß er, hatte einen großen Vorteil: Er mochte Kinder. Er hat uns Zucker mitgebracht. Würfelzucker! Eine absolute Köstlichkeit damals. Auch dank dieser Liebschaft unserer Untermieterin mit einem russischen Soldaten haben wir überlebt. So komische Geschichten gab es. Und dann gab es natürlich auch die Hilfe von Finsterwaldern, denen es etwas besser ging als uns. Die Hilfsbereitschaft war damals sehr groß. Meine Mutter, allein mit drei Kindern! Ich weiß nicht, ob wir in Berlin überlebt hätten. Das haben wir nur geschafft, weil uns die Nachbarn geholfen haben, obwohl sie selbst ganz wenig hatten.

BAHR: Ich verdanke mein Überleben erstens der Tatsache, dass ich bei den Amerikanern war, bei der »Allgemeinen Zeitung«, übrigens ein fabelhaftes...

mehr

Autor

Peter Ensikat, 1941 in Finsterwalde geboren, Schauspielstudium in Leipzig, schrieb erste Texte für das Studentenkabarett "Rat der Spötter", das 1961 verboten wurde, und gehörte bald zum Autorenkreis der Berliner "Distel", in den siebziger und achtziger Jahren war er der meistgespielte Kabarettautor der DDR, 1996 bis 2006 Künstlerischer Leiter der Distel. Er starb am 18. März 2013 in Berlin.Zahlreiche Bücher: zuletzt (zusammen mit Egon Bahr) "Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich" (Atb, 2013).