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Der Diversant

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Berlin Verlagerschienen am20.03.20171
»Diversant [lat.-russ.] der: (bes. DDR) Saboteur; jmd., der Störmanöver gegen den Staat mit Mitteln der Sabotage verübt.«(*) - Andree Hesse schildert die Geschichte eines jungen Menschen auf der Suche nach seinem Platz im Leben: von einem Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnissen und vom Zerfall einer Familie in der Nachkriegszeit. Der Roman handelt von der deutschen Teilung und einer doppelten Flucht, lässt eine Welt auferstehen, die unsere Gegenwart geprägt hat, in der Menschen lebten, die unsere Eltern und Großeltern sind, eine Generation, die bald sterben wird. Einfühlsam und packend direkt erzählt »Der Diversant« von dem, was lange verschwiegen wurde, und wie die Grausamkeit eines totalitären Sytems einfach jeden treffen kann - eine wahre Geschichte.

Andree Hesse, geboren 1966 in Braunschweig, wuchs in der Nähe von Celle auf. Nach einer Sattlerlehre studierte er an der Hochschule für Fernsehen und Film München. 2001 erschien sein erster Roman »Aus welchem Grund auch immer«, es folgten drei Krimis. Andree Hesse lebt und arbeitet als freier Schriftsteller und Übersetzer englischsprachiger Literatur in Berlin.
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Produkt

Klappentext»Diversant [lat.-russ.] der: (bes. DDR) Saboteur; jmd., der Störmanöver gegen den Staat mit Mitteln der Sabotage verübt.«(*) - Andree Hesse schildert die Geschichte eines jungen Menschen auf der Suche nach seinem Platz im Leben: von einem Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnissen und vom Zerfall einer Familie in der Nachkriegszeit. Der Roman handelt von der deutschen Teilung und einer doppelten Flucht, lässt eine Welt auferstehen, die unsere Gegenwart geprägt hat, in der Menschen lebten, die unsere Eltern und Großeltern sind, eine Generation, die bald sterben wird. Einfühlsam und packend direkt erzählt »Der Diversant« von dem, was lange verschwiegen wurde, und wie die Grausamkeit eines totalitären Sytems einfach jeden treffen kann - eine wahre Geschichte.

Andree Hesse, geboren 1966 in Braunschweig, wuchs in der Nähe von Celle auf. Nach einer Sattlerlehre studierte er an der Hochschule für Fernsehen und Film München. 2001 erschien sein erster Roman »Aus welchem Grund auch immer«, es folgten drei Krimis. Andree Hesse lebt und arbeitet als freier Schriftsteller und Übersetzer englischsprachiger Literatur in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783827079350
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum20.03.2017
Auflage1
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse828 Kbytes
Artikel-Nr.2134065
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2

Die wichtigsten Dinge im Leben können sich so schlagartig verändern, dass man völlig überrumpelt ist und im ersten Moment wie gelähmt. Was an diesem Tag geschehen war, schien wie zufällig, aus einer flüchtigen Laune heraus geschehen zu sein. Doch das stimmte nicht. Ich wusste noch nicht viel, ich hatte keine Ahnung, wohin Vater wollte oder was er vorhatte. Aber ein paar Dinge wusste ich bereits. Ich wusste, dass er vom Rande des Südharzes stammte und wie sehr es ihn mit Stolz erfüllte, dass man seinen Stammbaum weit zurückverfolgen konnte. All die Knechte und Mägde unter seinen Vorfahren waren seit über zweihundert Jahren im selben kleinen Dorf ansässig gewesen. Ich war nur ein oder zwei Mal nach Heringen gekommen, als Kleinkind noch während des Kriegs, doch ich kannte meine Großmutter, eine vollschlanke, strenge Frau, die das Oberhaupt der gesamten Familie war. Alle hörten auf ihr Kommando, Vater genauso wie Opa, ein hagerer, umgänglicher Eisenbahner, Tante Herta, die Schwester meines Vaters, genauso wie Onkel Albert. Tante und Onkel hatten zwei Kinder, Jens, in meinem Alter, und seine jüngere Schwester Bärbel, ein zartes, blondes Geschöpf. Großmutter spielte zudem die erste Geige in allen wichtigen Vereinen und Institutionen der Gemeinde. Und da sowohl mein Opa als auch mein Onkel in der Partei gewesen waren, waren beide nach dem Krieg in ein Lager weit weg von Heringen gekommen. Nach ihrer Entlassung hatte es sie mitsamt ihren Familien nach Braunschweig verschlagen, ich dachte auf Nimmerwiedersehen.

Opa August kam aus Westpreußen, aus einem kleinen Ort bei Danzig. Er war eines von dreizehn Kindern, von denen vier bereits im Säuglingsalter starben. Seine Eltern waren arme Kleinbauern und konnten die überlebenden Kinder kaum durchbringen. An eine gute Ausbildung war nicht zu denken, zu erben gab es erst recht nichts, und so zog er schon in jungen Jahren als Schnitter durch die Lande und half den Bauern bei der Ernte. Wenn in der Landwirtschaft keine Beschäftigung zu finden war, verdingte er sich als Hafenarbeiter, was ihn bis an die ferne Nordseeküste führte. Im Ersten Weltkrieg diente er als Füsilier in der Infanterie und kam nach Frankreich an die Front. Im Stellungskampf griff ihn ein feindlicher Soldat mit dem Bajonett an. Zum Glück traf der Franzose Opa nur am Kinn, wovon ihm eine lange, tiefe Narbe blieb.

Auf der Suche nach Arbeit gelangte er in den dreißiger Jahren in die Gegend südlich von Halle, wo man zu der Zeit das Buna-Werk erbaute. Er nahm dort eine Stellung an und lernte meine Großmutter kennen, deren Familie schon lange in Döllnitz lebte. Mein Urgroßvater war viele Jahre Wildhüter auf dem Rittergut des Dorfes gewesen. August blieb in Döllnitz und heiratete Erna. Beide hatten vor meiner Mutter bereits einen Sohn gehabt, doch der war als Jugendlicher bei einem Unfall ums Leben gekommen. Mein jüngster Bruder ist nach ihm benannt, sonst aber sprach in der Familie niemand über Onkel Wolfgang und dessen frühen Tod.

Zu Beginn des Krieges wurde Vater aus seinem Heimatdorf zum Arbeitsdienst nach Lochau abkommandiert, ein Nachbarort von Döllnitz. In dieser Zeit lernte er meine Mutter kennen. Sie war achtzehn, als ich auf die Welt kam. Vater war bereits zur Wehrmacht eingezogen worden, aber er bekam noch einmal Heimaturlaub, und schon war auch mein Bruder Richard auf dem Weg. Vater diente als Fernmelder mit Fahrrad bei einer Nachrichtentruppe an der Ostfront. Im Einsatz erlitt er einen Kopfschuss. Seine halbe Schädeldecke musste durch eine Silberplatte ersetzt werden. Die Delle auf der rechten Seite war trotzdem nicht zu übersehen. Auch nicht, dass seine linke Körperhälfte nahezu gelähmt war seitdem.

Ich kannte Vater nur mit der Delle im Kopf und dem schwachen linken Arm. Vielleicht war er einmal anders gewesen. Er war ein Bücherfreund und Musikliebhaber. Wagner und Beethoven interessierten ihn besonders. In guten Zeiten sprach er davon, dass ich, sein ältester Sohn, Geige lernen und Musiker werden sollte. Häufig kamen Nachbarn aus dem Dorf, um sich Bücher auszuleihen. Er gefiel sich in dieser Rolle, er belehrte gern. Das Ansehen nach außen war ihm wichtig, er legte auch Wert auf gute Manieren und ordentliche Kleidung. Zuweilen musste ich ihn im Sonntagsanzug begleiten, wenn er fremden Frauen im Dorf ein Buch brachte. Ich bekam Kekse und Limonade und musste warten, während er mit der Frau im Nebenraum verschwand. Doch zu Hause in den eigenen vier Wänden, da herrschte er mit kühlem Kommandoton, und alle, meine Mutter und die ganze Familie, hatten schwer unter seinen jäh ausbrechenden Wutanfällen zu leiden.

Bevor Wolfgang geboren wurde, wohnten wir zur Untermiete in Osendorf zwischen Döllnitz und Ammendorf. Zu Weihnachten hatte Mutter aus den spärlichen Vorräten ein festliches Mahl gekocht, aber Vater schmeckte es nicht. Richard und ich fielen vor Angst fast von den Stühlen, als er ohne Vorwarnung den gefüllten Teller durchs geschlossene Fenster auf den Hof schleuderte. Wir mussten sofort ins Bett, konnten aber beide nicht einschlafen. In der Stube brüllte Vater, Mutter hörten wir weinen. Mitten in der Nacht, als es still geworden war im Haus, standen Richard und ich auf und zogen uns an. Wir wollten uns an der Reide bis zur Weißen Elster nach Döllnitz zu Oma Erna und Opa August durchschlagen. Doch es war tiefer Winter und wir kamen nicht weit, die Schneeverwehungen waren doppelt so hoch wie wir.

Gegen Kriegsende zogen wir zu den Großeltern. Vater übernahm sogleich das Kommando im Haus, Opa August hatte nicht mehr viel zu sagen. Häufig mussten wir in die neue Schule gegenüber laufen, wo die Keller mit Holzbalken verstärkt und als Luftschutzbunker ausgebaut worden waren. Eines Nachmittags hatte es wieder Alarm gegeben, wir saßen bald mit der gesamten Nachbarschaft in diesem Gewölbe zusammen.

»Seid mal ruhig«, rief jemand.

Ein eigenartiges Summen war zu hören, im Keller wurde das Geräusch immer beklemmender. Ein paar Männer hielten es nicht mehr aus und stiegen hinauf. Als Mutter nicht aufpasste, schlich ich ihnen hinterher und stellte mich zwischen die Erwachsenen. Geschützt von einer Hecke, die vor dem Dorfbrunnen den Schulhof eingrenzte, sahen wir hoch oben am Himmel unzählige Flugzeuge Richtung Osten fliegen.

»Die machen Leipzig platt«, meinte einer der Männer. Ich zitterte am ganzen Leib. Was im Keller ein beklemmendes Summen gewesen war, schwoll hier draußen an zu bedrohlichem Donnern und Grollen. Die Bomberstaffeln am Himmel wollten kein Ende nehmen. Wir sahen ihnen hinterher und lauschten, und mit einem Mal wurde es totenstill. Ich erstarrte, doch nichts geschah. Opa erzählte mir später, dass nicht Leipzig ihr Ziel gewesen war, sondern Dresden, und dass die Stadt in Schutt und Asche lag.

In unserem Dorf befand sich eine Malzfabrik, in der polnische Kriegsgefangene arbeiteten. Offenbar waren die Flieger über Dresden nicht alle Bomben losgeworden, denn auf ihrem Rückweg, als wir den Keller schon wieder verlassen hatten, waren noch welche für die Malzfabrik übrig. Niemand hat die Opfer je gezählt, doch bei dem Angriff starb auch ein kleines Mädchen, das ich kannte. Eine Bombe hatte ihr Elternhaus neben dem alten Friedhof getroffen, keine fünfhundert Meter von uns entfernt.

Nach dem Fliegerangriff kam uns zu Ohren, dass sich in den Kellerräumen des Ritterguts Unmengen an Fleisch- und Wurstkonserven befänden. Niemand wusste, woher sie stammten oder wem sie gehörten. Sofort machten sich meine Großeltern und Mutter mit dem Handwagen auf den Weg. Ich musste mitkommen. Das gesamte Dorf schien dieses Ziel zu haben. Und tatsächlich waren die Keller bis unter die Decke mit Konserven gefüllt. Wie alle beluden wir unseren Wagen, so voll es ging, und bunkerten die Dosen zu Hause.

In den letzten Tagen des Krieges kamen Flüchtlinge aus den Ostgebieten und wurden im Dorf untergebracht. Den meisten Leuten gefiel das nicht. Angeblich hatte niemand etwas gegen Flüchtlinge, im eigenen Haus aber wollte man sie nicht haben. Vater fühlte sich ungerecht behandelt, denn bei unserem Nachbarn, der ein hohes Tier bei der Feuerwehr war, wurde niemand einquartiert. Wir dagegen mussten eine Frau mit ihrem achtzehnjährigen Sohn bei uns aufnehmen. Ich hatte nichts gegen diese Leute, sie waren nett und lebten sehr zurückgezogen. Im April war der Junge nach Eisleben gefahren, um andere Familienmitglieder zu treffen. Eines Nachmittags kamen Richard und ich vom Spielen am Schulberg nach Hause, als an unserem Hoftor große Aufregung herrschte. Vater, Großvater und einige Nachbarn standen um den Burschen mit seinem Fahrrad versammelt. Er wäre auf dem Rückweg von Eisleben bis kurz vor Halle vor den Amerikanern hergefahren, erzählte er. Vater wollte es nicht glauben.

Nur wenige Tage später rückten die Amerikaner auf unser Dorf vor. Richard und ich schlichen mit den anderen Kindern zum Ortsrand. Erst war nur ein stetig lauter werdendes Brummen von schweren Motoren zu vernehmen. Als dann Panzer vor uns auftauchten, hörten wir das scheppernde Rasseln der Ketten. Wir bekamen es mit der Angst zu tun und liefen nach Hause. Versteckt hinter dem Gartenzaun, beobachteten wir die fremden Soldaten, die mit Gewehren auf den stählernen Ungetümen hockten.

Sie errichteten ihr Lager in der Schule, und da wir genau gegenüber wohnten, quartierten sich zwei Offiziere bei uns ein. Sowohl das Wohnzimmer der Großeltern als auch die gute Stube wurden in Beschlag genommen. Mutter war damals hochschwanger. Zu allem Überfluss kam in diesen Tagen auch noch das Gerücht auf, es solle eine Razzia geben, weil Konserven aus den Kellern des angrenzenden Ritterguts gestohlen worden waren. In Windeseile räumte Opa den Verschlag fürs Brennholz leer, verstaute unsere Beute dort und stapelte die Holzscheite davor. Richard...
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Andree Hesse, geboren 1966 in Braunschweig, wuchs in der Nähe von Celle auf. Nach einer Sattlerlehre studierte er an der Hochschule für Fernsehen und Film München. 2001 erschien sein erster Roman »Aus welchem Grund auch immer«, es folgten drei Krimis. Andree Hesse lebt und arbeitet als freier Schriftsteller und Übersetzer englischsprachiger Literatur in Berlin.