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LaVons Lied

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
238 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am15.12.20171. Auflage
Die Ballade einer verhängnisvollen Leidenschaft Im New York der 50er Jahre erschießt die junge deutsche Pianistin Thilda Horn einen weltberühmten Jazzmusiker. Der Mann, der sie liebt, sieht fassungslos zu. Hinter den beiden steht - regungslos - seine Ehefrau. In diesem Moment verbinden sich die Schicksale dreier Menschen unwiderruflich zu einem Gespinst aus Vergangenheit und Zukunft, Liebe und Hass, Abhängigkeit und Stolz.

Katja Henkel, geboren 1967, ist als freie Autorin und Übersetzerin tätig.
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Produkt

KlappentextDie Ballade einer verhängnisvollen Leidenschaft Im New York der 50er Jahre erschießt die junge deutsche Pianistin Thilda Horn einen weltberühmten Jazzmusiker. Der Mann, der sie liebt, sieht fassungslos zu. Hinter den beiden steht - regungslos - seine Ehefrau. In diesem Moment verbinden sich die Schicksale dreier Menschen unwiderruflich zu einem Gespinst aus Vergangenheit und Zukunft, Liebe und Hass, Abhängigkeit und Stolz.

Katja Henkel, geboren 1967, ist als freie Autorin und Übersetzerin tätig.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783688107773
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum15.12.2017
Auflage1. Auflage
Seiten238 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse731 Kbytes
Artikel-Nr.2539992
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Kapitel 1

Wir haben uns vor dem Café verabredet, das für uns beide gleichermaßen gut zu erreichen ist, am Times Square, wo wir schon viele Donnerstage verbracht haben.

Wie immer ist Thilda zuerst da, wie immer wartet sie vor der Tür, obwohl es eisig kalt ist. Sie würde niemals allein ein Lokal betreten. Sie braucht jemanden an ihrer Seite, sogar wenn sie nur einen Kaffee trinken will. Als suche sie ständig nach einer Rechtfertigung dafür, an einem bestimmten Ort zu sein.

Seltsamerweise ist Thilda der pünktlichste Mensch, den ich kenne. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ein einziges Mal auf sie warten musste. Das ist umso ungewöhnlicher, wenn ich bedenke, wie sie lebt. Immer in der Hölle ihres eigenen Körpers gefangen, der nach nichts verlangt als nach Erleichterung. Ein paar Stunden ohne Schmerzen. Nichts sonst.

Ich bin überzeugt davon, dass Thilda auch kommen würde, wenn ich ihr kein Geld gäbe. Aber ich tue es gerne. Was wäre ich ohne sie. Was wären wir ohne sie.

Während ich mit hastigen Schritten auf sie zugehe, an den Lichttürmen und gigantischen Plakaten vorbei, die Arme um meinen Körper geschlagen, weil der Wind an meiner Jacke zerrt, umfasse ich ihre dünne Gestalt mit meinem Blick. Aus der Ferne sieht sie aus wie ein Kind. Umso größer ist jedes Mal mein Erschrecken, wenn ich ihr Greisengesicht sehe. Ich kann mich nicht daran gewöhnen. Ich stehe vor ihr und lächle sie an, öffne meine Lippen weit und zeige meine immer noch weißen Zähne, weil ich weiß, dass sie das mag, dass sie es gerne sieht, wenn ich lächle, obwohl sie nie zurücklächelt. Auf ihrem Gesicht spiegelt sich eine Lichtreklame und ich bin einen Moment verwirrt, weil sie fast gesund aussieht in dem rötlichen Schimmer. Auch bin ich es immer, die zuerst die Arme öffnet, in die sie sich einfach hineinsinken lässt, ohne meine Umarmung zu erwidern. Ich lege mein Kinn auf ihr nasses Haar und schaue über sie hinweg die Straße hinunter. Wir müssen ein seltsames Bild abgeben, zwei alte Frauen schweigend aneinander gelehnt, doch niemand beachtet uns. Nicht nur, weil das Wetter die Menschen zur Eile antreibt. In New York wird man sowieso niemals beachtet. Und wenn, dann bemerkt man es nicht.

Ich öffne ihr die Tür zum Café und schiebe sie hinein. Die Luft ist warm und angefüllt mit dem strengen Geruch frisch gemahlener Bohnen. Ich habe mir mein Leben lang gewünscht, Kaffee würde so gut schmecken, wie er riecht. Ich wähle den Tisch aus, wie immer, dann mache ich einen Schritt hinter sie und lege meine Hände auf ihre Schultern.

«Komm, ich helfe dir», sage ich, und gehorsam streckt sie ihre Arme ein wenig nach hinten, damit ich ihr den Mantel ausziehen kann. Seit wir uns regelmäßig treffen, also seit ungefähr vierzig Jahren, bin immer ich es gewesen, die ihr in oder aus einem Mantel hilft, obwohl es dafür keinen Grund gibt. Ich bin schließlich sogar ein paar Jahre älter als sie und ihr erst in den letzten Jahren körperlich überlegen. Eine Zeit lang habe ich darauf gewartet, dass sie wenigstens einmal abwinken würde, aber das ist nicht geschehen.

Wir setzen uns gegenüber, das grelle Licht drückt die Augenhöhlen noch tiefer in Thildas Gesicht.

«Du siehst ... besser aus», sage ich, und das ist nicht einmal gelogen. Natürlich sieht sie nicht gut aus, aber wirklich besser als das letzte Mal. Damals hatte sie gerade ein paar Tage Krankenhaus hinter sich, was sie mir erst erzählte, als wir uns trafen. Mich wunderte, dass sie Thilda überhaupt nochmal nach Hause ließen, und ich hätte zu gerne die Gesichter der Ärzte nach der ersten Untersuchung gesehen. Ich könnte wetten, dass sie so einen Fall wie Thilda zuvor nicht erlebt hatten. Dass jemand so lange wie sie überlebte, war doch bestimmt einmalig.

«Danke», antwortet Thilda, und möglicherweise errötet sie ein wenig. Ich bin mir nicht sicher. «Aber du brauchst nicht zu lügen.»

«Nein, wirklich!» Ich schaue sie sehr lange und möglichst ausdruckslos an. Das habe ich von Vernon gelernt, und es funktioniert fast immer. Wer so ruhig und unbeeindruckt in das Gesicht eines anderen sehen kann, muss doch die Wahrheit sagen.

«Das Übliche für dich?» Jetzt gestatte ich mir, mich wieder von ihrem mageren Gesicht abzuwenden. Ohne ihre Antwort abzuwarten, die ich sowieso kenne, bestelle ich Thilda einen Caffè latte mit Kakaopulver und Zimt und mir ein Glas Wasser. Es würde ihr gut tun, wenn ich ihre Hand hielte. Das weiß ich. Aber ich brauche noch eine Weile, und so sitzen wir und schweigen und warten, bis unsere Körper sich aufgewärmt haben und unsere Gedanken.

 

Es wollte mir nie gelingen, in Thilda eine Mörderin zu sehen. Obwohl ich alles beobachtete. Damals. Vor einem halben Jahrhundert. Obwohl ich neben ihr saß, als sie sich schwerfällig von ihrem Stuhl erhob, im Aufstehen noch schwankend, als gebe sie uns allen oder dem Schicksal noch die Chance, es zu verhindern. Ihr immer bleiches Gesicht war von einem Schimmer überzogen, der sie in dem dürftig beleuchteten Raum unwirklich erscheinen ließ, vermutlich schwitzte sie, aber das machte sie nur noch schöner.

Ich habe mich wieder und wieder gefragt, ob ich ahnte, was sie vorhatte, ob ich erkannte, dass sie einen Entschluss gefasst hatte, einen einsamen. Ob sie mir mit diesem langsamen, umständlichen Sichaufrichten Zeit geben wollte, ihrem Leben doch noch eine andere Wendung zu geben. Ich weiß nur, dass ich eine unbestimmte Bedrohung spürte, mir klar war, dass sich alles ändern würde, in wenigen Sekunden, aber ich konnte mir dieses Gefühl nicht genauer erklären und reagierte nicht. Meine Instinkte versagten kläglich, sie waren zu untrainiert nach so vielen Generationen von Entfremdeten. Zumindest habe ich all die Jahre daran glauben wollen.

Manchmal aber, wenn ich in meinem Bett liege, in diesem dumpfen Augenblick zwischen Wachen und Schlafen, wenn die Gedanken zu schweben beginnen, dann frage ich mich, ob in meiner Weigerung, irgendetwas zu tun, eine Absicht lag. Wahrscheinlich hätte es schon gereicht, meine Hand auf ihren Arm zu legen, sie zu fragen, ob sie noch etwas trinken möchte, zu husten. Egal, was. Und ein- oder zweimal in den vergangenen Jahren bin ich aufgewacht mit rasselndem Atem und einer vagen Ahnung, dass es meine Idee gewesen war, meine eigene. Nur ein- oder zweimal, Gott sei Dank, damit lässt sich ganz gut weiterleben.

Was Vernon dachte, als sie sich erhob, den Blick starr nach vorne gerichtet, das Gesicht ihres Opfers nicht aus den Augen lassend, weiß ich bis heute nicht. Er pflegt zu sagen, er habe Thilda in diesem Moment gar nicht richtig wahrgenommen, er sei vermutlich davon ausgegangen, dass sie auf die Toilette wollte. Er sagt, er habe sich auf die Musik konzentriert und sei völlig in Gedanken gewesen.

Ich habe ihm nicht vorgeworfen, dass er mich anlügt.

Nie hatte Vernon Thilda einmal nicht beachtet. Im Gegenteil. Er beobachtete und belauschte sie, ihm entging kein Seufzen, kein Zucken ihrer Mundwinkel, kein verschämtes Lächeln. Selbst wenn er nicht in ihre Richtung schaute, konzentrierte er sich mit allen anderen Sinnen auf sie, lauernd, wahrnehmend, auf der Hut - ohne eine erkennbare Reaktion zu zeigen. Er wies sie niemals zurecht, wenn sie in der Laune war, großzügig ihr Lachen und mehr an andere Männer zu verschenken, er wurde nicht böse, wenn sie ihn bloßstellte, und nicht eifrig, wenn sie ihn plötzlich mit Aufmerksamkeit überschüttete.

Aber es entging ihm nichts.

Nichts konnte ihn ernsthaft von ihr ablenken.

Solange sie zusammen waren.

 

Dafür habe ich ihn bewundert. Diese Absolutheit hielt mich gefangen, diese schier grenzenlose Fähigkeit, mit seinem ganzen Körper auch ihre unscheinbarsten Stimmungen zu erfassen, ich habe ihn dafür bewundert, obwohl er diese Aufmerksamkeit für mich nicht aufbringen konnte und bis heute nicht kann. Ich weiß nicht, ob das an mir liegt oder daran, dass er diese Gabe aufs Spiel setzte und verlor, als ihn nichts anderes mehr interessierte als das Rauschen in seinen Venen, der hässliche Ruf in seinem Kopf, die unbezähmbare Gier. Doch das war später. An dem Abend, an dem Thilda sich erhob, um zu töten, war sein ganzes Denken auf sie gerichtet. Deshalb kann ich behaupten, dass er log, als er sagte, er habe nicht auf Thilda geachtet. Ich will ihm nicht unterstellen, dass er wusste, was sie vorhatte - aber ich halte es für möglich.

Als Thilda sich endgültig aufgerichtet hatte, schien sich die Zeit wieder in ihrem üblichen Rhythmus zu bewegen, nicht mehr abwartend zu verharren - und dann ging alles sehr schnell. Sie lief zwei, drei Schritte um den Tisch herum und war ihm schon sehr nahe, denn wir hatten uns unweit von ihm, ihrem geheimen Opfer, einen Platz gesucht. Auch er sah sie jetzt an, nachdem er unvermittelt die Augen geöffnet hatte. Ich glaube, jeder in dem düsteren, stickigen Raum sah sie an.

Ihr schmaler Körper schwankte ein wenig wie betrunken, vermutlich war sie es, ich erinnere mich, dass ihr Alkoholkonsum im Prozess eine Rolle spielte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sich an ihrem Rücken rosa schimmernde Elfenflügel entfaltet hätten. Thilda hat mich damals immer an eine Elfe erinnert. Oder daran, wie ich mir Elfen vorstelle. Diese Vorstellung war allerdings ausschließlich von ihren Erzählungen geprägt, denn erst von ihr erfuhr ich, dass es Elfen tatsächlich gibt. Rabensteinelfen, leise singend, versteckt im Pfeifen des Windes. In vulkanischem Gestein lebend, auf Tautropfen tanzend, mit durchsichtigen, empfindlichen Flügeln. Thilda glaubte so fest an sie, dass ich es ihr unwillkürlich gleichtun musste, und manchmal kam es mir so vor, als sei sie selbst eine Elfe, die sich aus Versehen in unsere Welt verirrt hatte...
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