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Die Rechenmachers

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
248 Seiten
Deutsch
Books on Demanderschienen am07.03.20231. Auflage
Am Beispiel einer unweit von Zürich gelegenen Gemeinde entwirft Adrian Naef in seinem fesselnden, ein ganzes Jahrhundert umspannenden Roman ein grosses Panorama der Schweiz. Sein Roman erzählt im Stil einer Familienchronik virtuos von den Zeiten, als noch Landstreicher durch die Schweiz zogen, die Kinder sich ihr Taschengeld durch Mäusefangen oder Maikäfersammeln verdienten und man noch »Mohrenkopf« oder »Wiibervolch« sagte. Doch die Industrialisierung der Nachkriegszeit brach mit ungehemmter Fortschrittswucht herein. Fortan wollten alle Mädchen im Dorf Hostesse und alle Jungs Pilot werden. Wie die Schweiz wurde, was sie heute ist: Das (und einiges mehr) erfahren die Leser aus diesem grossen Roman.

Adrian Naef, geboren 1948 in Wallisellen, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Schrieb und sang in Mundart, veröffentlichte Gedichte und zahlreiche Romane.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR19,80
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,49

Produkt

KlappentextAm Beispiel einer unweit von Zürich gelegenen Gemeinde entwirft Adrian Naef in seinem fesselnden, ein ganzes Jahrhundert umspannenden Roman ein grosses Panorama der Schweiz. Sein Roman erzählt im Stil einer Familienchronik virtuos von den Zeiten, als noch Landstreicher durch die Schweiz zogen, die Kinder sich ihr Taschengeld durch Mäusefangen oder Maikäfersammeln verdienten und man noch »Mohrenkopf« oder »Wiibervolch« sagte. Doch die Industrialisierung der Nachkriegszeit brach mit ungehemmter Fortschrittswucht herein. Fortan wollten alle Mädchen im Dorf Hostesse und alle Jungs Pilot werden. Wie die Schweiz wurde, was sie heute ist: Das (und einiges mehr) erfahren die Leser aus diesem grossen Roman.

Adrian Naef, geboren 1948 in Wallisellen, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Schrieb und sang in Mundart, veröffentlichte Gedichte und zahlreiche Romane.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783757865436
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum07.03.2023
Auflage1. Auflage
Seiten248 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.11167117
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Der Kaput

Mein Grossvater war ein strenger, zu Jähzorn neigender Viehzüchter, Bauer und Rechenmacher. Ein vergilbtes Foto zeigt ihn in jüngeren Jahren als untersetzten, sehnigen Mann mit kahlrasiertem Schädel und einem Schnäuzchen, wie es erst später in Verruf kam. Er lehnt an einer Kuh und blickt mit stechendem Blick in die Kamera. Das kann daher kommen, dass man damals noch den Atem anhalten musste beim Fotografiertwerden. Aber es deckt sich mit meiner Erinnerung: Mit ihm war nicht zu spassen.

Er arbeitete fast unerträglich langsam, aber genau und war bis zu seinen letzten Tage kaum einmal nach fünf Uhr morgens aufgestanden. Rechenmacher nannte man ihn in Badersdorf und uns die Rechenmachers, weil seit fünfhundert Jahren mehrere Familien unseres Namens stets über den Miststock geheiratet hatten und anders als durch Übernamen nicht mehr hätten voneinander unterschieden werden können. Es gab die Vorsingers, die Präsidenten, die Dreiärmelschneiders und andere mehr - Dreiärmelschneider übrigens, weil dieser Bauernschneider einmal im Suff drei Ärmel an ein Jackett genäht haben soll, und Rechenmacher, weil ein Bauer in dieser sumpfigen Nebelsenke ohne Nebenerwerb kaum ein Auskommen fand.

Grossvater betrieb also eine kleine Werkstatt hinter der Scheune, in der er Gabeln, Rechen und Leitern verfertigte, die im Dorf gerühmt wurden, weil sie leicht und biegsam waren. Das Beste aber war: Er baute exklusiv für uns Enkel die schnellsten Schlitten weit herum, mit denen wir Rechenmacherkinder jedes Schlittelrennen mit Leichtigkeit gewannen, vor allem auf hartem Schnee und Eis, weil er jene schmalen Kufen anbrachte, die man sonst nur für Schlittschuhe verwendete. Für die Bögen an den Schlitten und Gabeln nahm er Eschenholz, das er in einer Eisenröhre über dem Feuer kochte, bevor er es in spezielle Formen spannte, die er in grösserer Zahl an der Wand der Werkstatt hängen hatte.

Wenn in einer Generationenfolge eine Gabel auf einen Rechen folgt, wie man bei uns sagt, dann war Grossvater ein Rechen, das heisst, einer, der zusammenträgt und aufbaut und das Übernommene nicht verzettet; er war einer, der rechnet und streitet für das Wohl seiner Sippe. Für ein vages Wegrecht durch das Feld eines Grossbauern -wir waren vielleicht dreimal in zwei Jahrzehnten über seine Wiese gegangen - konnte er Prozesse führen, die er allesamt gewann. Er war nicht eben beliebt, aber was heisst das schon.

Wenn man Liebe beweisen soll, so war er ein Liebender auf seine Weise, es ging jedenfalls stetig aufwärts mit den Rechenmachers; in den Kriegsjahren - die für den »Nährstand«, wie man sagte, hierzulande keine schlechten waren - und auch danach, als ich bald geboren wurde, mit vier Jahren Abstand letzter von drei Buben. Da und dort wurde ein neues Fenster eingesetzt, eine Pumpe angeschafft, wo früher geschöpft werden musste, oder ein Waschofen hingestellt statt des Kupferkessels und so weiter. Das zählte! Und das wusste jeder, wenn man auch gelegentlich, von einem Holzschuh knapp verfehlt, ins Freie rennen musste, wenn der Alte wieder mal tobte wegen einer Nichtigkeit. Ein falsch herum aufgehängter Stechbeitel in seiner Werkstatt, in der man als Kind, kaum dass man stehen konnte, schon Hand reichen musste, konnte ihn augenblicklich auf die Palme bringen. Oder schlecht gekämmte Rinder kurz vor der Prämierung im Bezirkshauptort, wo zweimal im Jahr der Viehmarkt stattfand und bunte Blechplaketten zu gewinnen waren, die er über die Stalltür nagelte.

Grossvater war also nicht gerade einer, von dem man erwarten würde, dass er Verständnis für Landstreicher und Vaganten hätte, die den Tag unter einer Weide verschlafen, in einen Mantel gehüllt, den Hut im Gesicht.

Aber so war es.

Vaganten gehörten damals zum Dorfbild, so wie freilaufende Ziegen und Schweine zum Stadtbild des Mittelalters gehört hatten. Als ein Brandstifter, ein Tagelöhner aus dem Toggenburg, ein Bauernhaus nach dem andern abfackelte und schon bald ein Drittel der Badersdorfer Höfe geschafft hatte, lief mein Grossvater mit der Flinte ums Haus, kaum dass sich ein Huhn gerührt hatte. Und er hätte ihn erschossen, diesen Lumpen, daran war kein Zweifel.

Aber jedes Mal, wenn ein Vagant die Abkürzung zum Hof herunterkam, ergriff ihn die bare Hilflosigkeit. Eine Aufregung machte sich in ihm breit, die man von ihm nicht kannte. Flink wie ein Wiesel lief er mit einer leeren Flasche in den Keller, um Bätziwasser abzufüllen, unseren geläufigen Obstlerschnaps. Denn dass die Gestalt im schweren grünen Mantel darum fragen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber ebenso klar war dem Landstreicher, dass er Geschichten erzählen musste, wenn er an das klare Wasser herankommen wollte: Geschichten vom Zirkus, von der Rheinschifffahrt, vom Gefängnis, von Afrika. Wir Kinder sassen dann mit offenen Mündern auf der Treppe zur Mostpresse, wobei er hinter und vor dem schwingenden Tor vormachte, wie er damals aus der Deckung gesprungen, die Granate geworfen und mit einer Rolle hinter den Felsen den Zweiten erledigt hatte. In regelmässigen Abständen musste Grossvater Schnaps nachgiessen, und zwar in ein gerilltes Mostglas, das der Held in grossen Schlucken leerte. Grossvater hörte nicht zu. Er kam immer nur schweigend mit der Flasche aus der Werkstatt, und als es eindunkelte und die Flasche halb leer war, wollte Grossvater das Rauchzeug und die Zündhölzer haben und liess den Vaganten mit dem Rest der Flasche auf den Heustock kriechen, aus dem dieser erst anderntags gegen Mittag wieder herunterkam, Strohhalme im Bart.

Irgendwo auf dem Weg zu unserem Hof musste ein Räuberzinggen Schnaps und Heustock versprechen, denn kaum war einer fort mit einem Laib Brot unter dem Arm, kam schon der nächste Mantelmann den Weg herunter mit noch haarsträubenderen Abenteuern.

Landstreicher, Hausierer und Kesselflicker gehörten überall noch bis weit über die Nachkriegszeit hinaus zum Dorfbild, auch wenn sich, wie in Badersdorf, längst ein Ring von nüchternen Gewerbebauten und Einfamilienhäusern um den alten Dorfkern gebildet hatte.

Was die Landstreicher betraf, die fast durchwegs Alkoholiker, das heisst Schnapstrinker waren, so tauchten sie auffällig häufig nach einem weiteren jährlich die Monotonie des Dorflebens durchbrechenden Ereignis auf: der mobilen Schnapsbrennerei, der »Schnapsi«, wie sie genannt wurde. Die Schnapsi war ein einer Lokomotive ähnlicher Wagen, der von einem Traktor Ende Herbst von Hof zu Hof gezogen wurde und einen Tag lang auf dem Hausplatz aufgebockt wurde. In grossen Holzfässern wurde bereits über Wochen der Trester, die Pressreste der Mosterei, gesammelt: der mindere Most, die minderen Spaliertrauben, die man Katzenseicher nannte, und die letzten Mostbirnen, alles, was durch Gärung Alkohol zu werden versprach. In einem Kupferkessel wurde der Sud erhitzt, der Alkohol verdampft, abgekühlt und in einem kleineren Kessel als Rinnsal aufgefangen. Wahlweise konnten Netze mit Kräutern in den Kessel gelegt werden, in welchem ein Messröhrchen schwamm und die Prozente anzeigte. Der Vorlauf, der erste ungeniessbare Alkohol, wurde abgefangen und kam im Stall zum Einreiben der Kühe zur Verwendung. Der Schnaps von guter Qualität wurde in Korbflaschen abgefüllt und kam in den Keller, wobei man je nach Anzahl Kühe der eidgenössischen Alkoholverwaltung den Grossteil abzuliefern hatte.

Ich pumpte von Hand mehr Badersdorfer Schnaps in Eisenbahnwagen, als die Alkoholiker des Kantons in einem Jahr austrinken konnten. Die beiden zurückbehaltenen Korbflaschen reichten, zusammen mit der heimlich abgezweigten dritten im hinteren Keller, bequem übers Jahr für den Eigenbedarf, wie es hiess, und eben - für die Landstreicher, die, kaum dass die Schnapsi weitergezogen war, zufällig am Hoftor auftauchten. Genau genommen zogen sie der Schnapslokomotive von Dorf zu Dorf nach, von Hof zu Hof, wie die Brämen dem Pferd, aufgehalten nur durch ihr Ausschlafen in Heustöcken oder Remisen. Die Spur der Schnapsi war auch kaum zu verfehlen, denn am Brenntag roch es weit über die Höfe hinaus nach nichts anderem als Schnaps, so wie es noch Tage nach dem Einfahren des Emdes nach Heublumen roch.

Ich sehe sie über den Hausplatz herankommen, die staubigen Gestalten in den langen grünen Mänteln, welche man Kaput nannte. Armeemäntel mit Messingknöpfen, wie sie in jedem Stall herumhingen, weil sie jeder Wehrmann nach dem Militärdienst behalten konnte. Auch das Gewehr kostete nur ein paar Batzen, was im Ausland niemand versteht. Schon gar nicht, was ein Mannsputzzeug sein soll, das jeder ausgemusterte Soldat, allein schon wegen der praktischen Federkielbürste, für den weiteren »inneren Dienst am Mann«, wie es hiess, mit sich nach Hause nahm. Mit einem Gewehr hätte man allerdings keinen vagabundieren lassen, aber alles andere, auch die zwei Paar Schuhe, mit und ohne Trigunninägel, die Hemden und die Mützen aus dem unverwüstlichen grünen Filz kleideten den halben Bauernstand und erst recht die Hungerleider auf dem Land.

Auf jedem Miststock, an den Sägen, am Fischgrund, auf der Jagd oder am Strassenrand auf die Besen gestützt waren die...
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