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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Hirnkosterschienen am05.09.2024
Flüchtlinge gibt es nicht nur im Hier und Heute, sondern auf fer­nen Planeten, in der Zukunft, unter Wasser, in alternativen Welten, unter Drachen und Einhörnern. Zu­mindest wenn man den Autor:innen dieser Anthologie glauben darf. Eins ist allen Geschichten gemein: Sie unterhalten, ohne zu belehren, und sie gehen ans Herz.mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR32,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextFlüchtlinge gibt es nicht nur im Hier und Heute, sondern auf fer­nen Planeten, in der Zukunft, unter Wasser, in alternativen Welten, unter Drachen und Einhörnern. Zu­mindest wenn man den Autor:innen dieser Anthologie glauben darf. Eins ist allen Geschichten gemein: Sie unterhalten, ohne zu belehren, und sie gehen ans Herz.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783988570550
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum05.09.2024
SpracheDeutsch
Dateigrösse14671 Kbytes
Artikel-Nr.17512952
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


DIE GESCHICHTE VON ZWEI REISEN

Vincent Voss


Mein Name ist José Garcia Goncalves, ich bin 49 Jahre alt, war mehr als 20 Jahre Fischer, bin dann Strandgutsammler, Geschichtenerzähler und Bestatter geworden. Als Geschichtenerzähler verdiene ich seit nunmehr fünf Jahren mein Geld und verdiene gut. Ich erzähle Geschichten über den Tod und die Zeit darüber hinaus. Das ist das, was die Leute hier im Süden an der Küste interessiert, wenn sie in ihren Hotelenklaven nach Entspannung und Abenteuern mit Lokalkolorit suchen. Wenn sie Hummer in Knoblauchsauce essen, Portwein trinken und ihnen nach Zerstreuung und fremder Kultur verlangt. Es geht um das Mittelmeer und um all die verstorbenen Menschen darin. Um ihre Geister, die zu einem weltweit bekannten Phänomen geworden sind, ähnlich dem Seeungeheuer von Loch Ness. Über 125.000 Menschen sind darin ertrunken. 125.000, deren Leichen geborgen werden konnten; man kann davon ausgehen, dass es weitaus mehr Tote sind.

Wann genau das mit den Geistererscheinungen begann, lässt sich nicht recht festmachen, aber ich mutmaße, dass es in den späten 2030ern war und mit dem Schicksal der La Laguna zusammenhing. Ein ehemaliger Frachter mit über 500 Menschen aus dem Sudan, dem Jemen und Eritrea. Alte, Frauen, Kinder, die es bis zur Küste geschafft hatten und jetzt all ihre Hoffnung und ihre Gebete in eine reibungslose Überfahrt legten. Griechenland, Italien, Portugal und sogar die Kanarischen Inseln wiesen die La Laguna auf einer wochenlangen Tortur ab, und die ersten Menschen starben auf dem Schiff. Zwar gab es Unterstützung von mehreren NGOs, die das Schiff mit Medikamenten und ärztlicher Unterstützung versorgten, dennoch waren die Zustände dramatisch. Über das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik ist damals ausreichend berichtet worden, die Bilder der sterbenden Kinder an Bord des Schiffes waren entsetzlich, aber ehe die EU sich zu einem gerechten Verteilungsschlüssel der Geflohenen auf die verschiedenen Länder durchringen konnte und die Menschen gerettet werden konnten, sank das Schiff in einem Herbststurm vor der Küste Frankreichs - und mit ihm das europäische Gewissen, das Europa sich bis dahin noch in der Flüchtlingspolitik bewahrt hatte. Und danach begannen die Geschichten von der La Laguna.

Als Erstes berichteten die Fischer darüber. Von Schreien und Klagen aus dem Nebel, von blinkenden Positionslichtern, ehe man die abgeblätterte weiße Farbe des Schiffsnamens erkennen konnte: La Laguna. Und langsam zog das dunkle Schiff, das übrigens nie geborgen wurde, an den Fischern vorbei. Was die Geschichte zu einer wirklich guten Geschichte werden ließ, einer Geschichte, der man glauben konnte, war, dass sie unabhängig voneinander an verschiedenen Orten gleichzeitig erzählt wurde. Und immer dort, wo die La Laguna in einem Hafen um Hilfe gebeten hatte.

Sie fragen sich sicherlich, ob ich deswegen Geschichtenerzähler geworden bin. Ja und nein. Ich habe vorher immer bei uns im Valle Gran Rey, einem kleinen Fischerstädtchen, das aufgrund seiner idyllischen Lage in einer kleinen Bucht am Hang einer Steilküste mehr und mehr Touristen anzog, abends Geschichten in meiner Stammtaverne La Vida erzählt. Alte Sagen und Märchen und ein paar ausgedachte Geschichten über die Seefahrt und die Fischerei. Manolo, der Wirt, stellte fest, dass immer, wenn ich Geschichten erzählte, mehr Gäste anwesend waren, und er fragte mich, weil er wusste, dass ich mich mit Sprachen, vor allem Englisch und Deutsch, leichttat, ob ich nicht auch einmal in der Woche Geschichten für die Touristen erzählen wollte. Er offenbarte mir seinen gewöhnlichen Umsatz eines Wochentages und schlug mir vor, die Hälfte des zusätzlichen Gewinns mit mir zu teilen. Ich vertraute Manolo und ließ mich auf das Geschäft ein. Und es funktionierte. So gut, dass ich mir ein Repertoire an Geschichten für jeden Wochentag aneignete. Ich fischte nur noch, weil ich die See liebte, aber mein Geld verdiente ich als Geschichtenerzähler.

Inspiration holte ich mir auf langen Strandgängen, für die ich jetzt Zeit hatte. Nach Norden ging ich die Küste oft bis zum kleinen Leuchtturm in Targuirra, ungefähr neun Kilometer. Dieser Strandabschnitt war wenig erschlossen, vor allem touristisch. Und das obwohl er in meinen Augen wunderschön war. Immer noch paarte sich hier der raue Atlantik mit dem gemäßigten Mittelmeer, die Steilküste ragte erst nach 40 bis 50 Metern feinem, fast weißem Strand auf, einige Felsformationen bildeten Höhlen und kleine schattenspendende Überhänge. Da nur kleine Trampelpfade und selten ein landwirtschaftlich genutzter Feldweg bis zur Küste führten, war dieser Strandabschnitt nur Einheimischen oder Insidern bekannt, oft jungen Familien oder Paaren, die manchmal für Tage in einer Höhle Unterkunft fanden, auf offenem Feuer kochten und den Tag einen lieben Tag sein ließen.

Anfangs hat mich Politik noch wenig geschert. Mein erträgliches Auskommen mit Seemannsgeschichten, mein neues Leben als Berühmtheit einer kleinen Küstenstadt, eine glückliche Frau, zwei große Kinder - ich würde sagen, das Leben meinte es verdammt gut mit mir. Auf meinen Strandspaziergängen las ich immer öfter Strandgut auf, und eine dunkelbraune, antik aussehende Rumflasche mit verwittertem Etikett, auf dem man mit etwas Fantasie ein Piratenschiff erkennen konnte, weckte die Muse in mir. Noch auf dieser Wanderung ersann ich eine Piratengeschichte, und die gefundene Rumflasche stand im Mittelpunkt dieser Erzählung. Und während ich sie dann meinem Publikum vortrug und die Flasche zum Ansehen herumreichte, erntete ich ein erstauntes Raunen. Die Geschichte war an sich schon gut, aber so wurde sie anfassbar, beinahe zu einem Erlebnis. Ich beschloss, immer wieder nach passendem Strandgut Ausschau zu halten und mir dazu eine Geschichte auszudenken. Und was sich am Strand alles finden ließ! Kisten, Truhen, alte Flaschen, Fischernetze, zerrissene Taucheranzüge, Werkzeug, aber der Höhepunkt war ein von Muscheln bewachsener, echter Totenschädel, den ich unter einer Felsplatte, halb im Sand begraben, gefunden hatte. Und schon hatte ich einen echten Piratenkapitän für eine weitere Geschichte, in die ich auch die Flasche Rum einwob.

2014. Im November fand ich kurz hinter dem Trampelpfad nach Garancha, direkt am Strand in den heranrollenden Wellen, etwas Rotes, das von jeder Welle auf den Sand getragen und von jeder nächsten wieder ins Wasser gespült wurde. Meine Neugier war erwacht und ich eilte dorthin, um das Fundstück dem Atlantik zu entreißen. Es war ein Schuh. Ein roter Kinderschuh. Ein kleiner roter Mädchenschuh, und dem Schuh als Begleiter taumelte ein Stofftier, ein Hase in den Wogen.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich erfasste, dass es sich bei dem Schuh nicht unbedingt um den Schuh eines kleinen Mädchens gehandelt haben muss, der bei einem Familienurlaub am Meer einfach vergessen wurde. Er und Mr. Rabbit, das Lieblingskuscheltier. So etwas vergessen Mama und Papa nicht einfach. Vielmehr stellte ich mir mit der Wucht eines Geschichtenerzählers den Untergang eines Schlauchbootes vor, Vater und Mutter, die versuchten das kleine zweijährige Mädchen über Wasser zu halten. Das vielleicht vor Angst strampelte, einen Schuh und in der Panik sogar noch ihr Kuscheltier verlor, das sie die ganze Zeit über als Beschützer begleitet hatte. An diesem Tag unterbrach ich meine Wanderung zu meinem eigentlichen Ziel, kehrte um und erzählte auch keine Geschichte mehr. Stattdessen baute ich im Garten unseres kleinen Hauses eine Art Unterstand aus Holz und legte dort die Fundsachen ab. Auf einem verwitterten Holzbrett brannte ich mit Glut das Datum und den Fundort in das Brett und stellte es vor den Schuh und Mr. Rabbit. Und ich muss sagen, dass sich mit dem 14. November 2014 der Kurs meines weiteren Lebens verändern sollte.

Charles Dickens hat einmal gefragt, ob es eine bessere Form gibt, mit dem Leben fertig zu werden, als mit Liebe und Humor. Ich versuchte dies, obgleich mich der rote Schuh und der Stoffhase in meinen Träumen verfolgten. Ich rief auffällig oft meinen Sohn in Lissabon und meine Tochter in Porto an und erkundigte mich nach ihnen, sagte ihnen, wie sehr ich sie liebte und dass wir sie vermissten. Später erzählte mir meine Frau, dass Maria und Pablo sie anriefen, um zu fragen, ob ich eine schwere Krankheit hätte.

Ich erzählte in diesen Tagen eher lustige Geschichten, obwohl mein Herz ein sehr, sehr trauriges war. Und mit der Zeit veränderte ich mich, und meine Geschichten veränderten sich mit mir. Ich las viel in den Zeitungen von den Menschen, die vorwiegend aus Afrika zu uns kamen, die Gründe ihrer Flucht, die Gefahren, die auf sie lauerten, und von den erschwerten Fluchtrouten, die die Menschen an und ins Mittelmeer trieben. Auf meinen Strandgängen hielt ich jetzt vermehrt Ausschau nach Fluchthinterlassenschaften von durch das Mittelmeer geflüchteten Menschen und wurde immer häufiger fündig, vor allem, wenn ich ab Sagres die Mittelmeerküste hinauf wanderte. Kleidungsstücke, Schuhe, Spielzeug. Einmal fand ich das Portemonnaie eines jungen Mannes aus Afghanistan, wie man mir nachträglich...
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