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Politische Emotionen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
596 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am06.10.20141. Auflage
Wie viel Gefühl verträgt eine Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt? Nicht viel, könnte man meinen und auf die Gefahren politischer Instrumentalisierung von Ängsten und Ressentiments verweisen. Emotionen, so eine verbreitete Ansicht, setzen das Denken außer Kraft und sollten deshalb keine Rolle spielen. Martha C. Nussbaum hingegen behauptet: um der Gerechtigkeit politisch zur Geltung zu verhelfen, bedarf es nicht nur eines klaren Verstandes, sondern auch einer positiv-emotionalen Bindung der Bürgerinnen und Bürger an die gemeinsame Sache. Manche sprechen von Hingabe, Nussbaum nennt es Liebe. Sie zeigt, welche Ausdrucksformen diese und verwandte politische Emotionen annehmen können und wie sie sich kultivieren lassen.


Martha C. Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Sie ist Mitglied der American Philosophical Association und der American Academy of Arts and Sciences. Für ihr Werk wurde sie mit über dreißig Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. 2009 erhielt sie mit dem vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) verliehenen A.SK Social Science Award einen der weltweit höchstdotieren Preise für Sozialwissenschaften.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR26,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR25,99

Produkt

KlappentextWie viel Gefühl verträgt eine Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt? Nicht viel, könnte man meinen und auf die Gefahren politischer Instrumentalisierung von Ängsten und Ressentiments verweisen. Emotionen, so eine verbreitete Ansicht, setzen das Denken außer Kraft und sollten deshalb keine Rolle spielen. Martha C. Nussbaum hingegen behauptet: um der Gerechtigkeit politisch zur Geltung zu verhelfen, bedarf es nicht nur eines klaren Verstandes, sondern auch einer positiv-emotionalen Bindung der Bürgerinnen und Bürger an die gemeinsame Sache. Manche sprechen von Hingabe, Nussbaum nennt es Liebe. Sie zeigt, welche Ausdrucksformen diese und verwandte politische Emotionen annehmen können und wie sie sich kultivieren lassen.


Martha C. Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Sie ist Mitglied der American Philosophical Association und der American Academy of Arts and Sciences. Für ihr Werk wurde sie mit über dreißig Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. 2009 erhielt sie mit dem vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) verliehenen A.SK Social Science Award einen der weltweit höchstdotieren Preise für Sozialwissenschaften.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518737422
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum06.10.2014
Auflage1. Auflage
Seiten596 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1516452
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
472.
Gleichheit und Liebe:
Rousseau, Herder, Mozart

Ich habe keine Ahnung, wovon die beiden italienischen Damen gesungen haben. Um ehrlich zu sein, will ich es auch gar nicht wissen. Manche Dinge bleiben besser ungesagt. Ich stelle mir vor, daß sie von etwas so Wunderbarem gesungen haben, daß es sich nicht mit Worten ausdrücken läßt, und es geht einem deswegen so sehr zu Herzen […] und für einen winzigen Augenblick fühlte sich jeder Mann in Shawshank frei.

Red (gespielt von Morgan Freeman) in Die Verurteilten über die »Canzonetta sull'aria« aus dem 3. Akt von Die Hochzeit des Figaro.

Meine große Friedensfrau hat nur einen Namen: sie heißt allgemeine Billigkeit, Menschlichkeit, tätige Vernunft […]. Gemäß ihrem Namen und ihrem Wesen obliegt es ihr, allen Bürgern Friedensgesinnungen einzupflanzen.

Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (1793-1797)
I. »Ach, so sind wir alle zufrieden«

Das Ancien régime singt mit lauter und autoritärer Stimme »Nein, nein, nein, nein, nein, nein«. Kurz vor dem Ende von Mozarts Oper Die Hochzeit des Figaro weist der Graf, dessen Stellung unangefochten ist, die eindringlichen Bitten der anderen Personen zurück, die nacheinander vor ihm niederknien und Gnade und Mitgefühl erflehen. Für Almaviva ist die Rache für seine gekränkte Ehre das allerwichtigste (»Allein schon die Hoffnung, daß ich mich rächen kann, tröstet diese Seele und läßt mich jubeln«).[1] Den flehenden, demütig Niederknienden 48mit Freundlichkeit zu begegnen ist ein Vorrecht des Adels, keine allgemeine menschliche Tugend. Er kann sie gewähren oder verweigern. Wenn er sich für letzteres entscheidet und die verletzte Ehre über ein großmütiges Verzeihen stellt, kann niemand sagen, er handle falsch. Das Ancien régime funktioniert auf der Basis einer statusgestützten Moral, königlicher Vorrechte und von Schmach und Schande.

Doch plötzlich entledigt sich die Gräfin ihrer Verkleidung als Susanna, womit sie zugleich die List enthüllt, mit der sie ihren Ehemann getäuscht und der Heuchelei überführt hat. (Er hatte sich gerühmt, das Jus primae noctis zu beenden, während er durchaus vorhatte, davon Gebrauch zu machen.) Jeder Anwesende ruft mit verhaltener Stimme, daß er nicht weiß, was als nächstes passiert: »O Himmel, was seh ich! Ich träume, ich sehe Gespenster! Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Die Streichinstrumente, die im raschen Wechsel von einer hohen in eine tiefe Tonart übergehen, drücken starke Erregung und Ungewißheit aus. Rückblickend betrachtet, geht es um die Ungewißheit, die der Übergang zwischen zwei politischen Ordnungen mit sich bringt.

Jetzt kniet der Graf vor der Gräfin nieder und singt mit einer durch seine Verwirrung weicher gewordenen Stimme eine Phrase - lyrisch und legato, verhalten, fast sanft -, die man von diesem Mann bisher nicht gehört hat. »Gräfin, Vergebung!« Dann kommt eine lange Pause.[2] Aus der Stille heraus singt die Gräfin »più docile io sono, e dico di sì« (»gelehriger bin ich und sage: ja«).[3] Die musikalische Phrase schwingt sich 49sanft in die Höhe und senkt sich dann herab, als wolle sie den knienden Ehemann berühren. Und jetzt wiederholt die gesamte Gruppe mit gedämpften und feierlichen Tönen die musikalische Phrase der Gräfin, diesmal zu den Worten »tutti contenti saremo così« (»ach, so sind wir alle zufrieden«). Die Chorversion der Phrase erinnert an die feierliche Schlichtheit eines Chorals (der in diesem katholischen musikalischen Universum auf das plötzliche Fehlen einer Hierarchie verweist).[4] Es folgt ein zögerndes musikalisches Zwischenspiel des Orchesters.

Dann bricht es aus der Gruppe heraus, ein abrupter Freudentaumel:[5] »Diesen Tag der Qualen, der Launen und der Tollheit kann nur die Liebe enden in Zufriedenheit und Freude.« Liebe ist anscheinend der Schlüssel nicht nur zum persönlichen Glück der Hauptfiguren, sondern auch zum Glück aller, der gesamten Gruppe, wenn diese singt: »Corriam tutti a festeggiar« (»Eilen wir alle zum Fest!«).

Die Hochzeit des Figaro ist in jeder Hinsicht ein Schlüsseltext in der Geschichte des Liberalismus, denn hier wird die Ersetzung der Feudalordnung durch eine neue Ordnung der Brüderlichkeit und Gleichheit beschworen. Wer sich mit der Geschichte des Figaro befaßt, konzentriert sich zumeist auf das Theaterstück von Beaumarchais und läßt die 50Oper von Mozart und da Ponte außer acht. Doch die Oper ist wesentlich mehr als dieses Stück; sie ist der philosophische Text, mit dem sich jeder auseinandersetzen sollte, der über die Zukunft der liberalen Demokratie nachdenkt. Die Oper - und nicht das Stück - hält dem Vergleich mit den größten philosophischen Beiträgen des 18. Jahrhunderts zum Thema »Brüderlichkeit« stand - insbesondere mit denen von Rousseau und Herder -, weil es der Förderung und Pflege jener Emotionen einen zentralen Stellenwert einräumt, die erforderlich sind, damit Brüderlichkeit mehr als ein schönes Wort ist. Betrachtet man die Oper als eine philosophische Aussage, die im Dialog mit Rousseau und Herder steht, reicht es jedoch nicht aus, nur das Libretto zu studieren - denn die entscheidenden Erkenntnisse werden eher durch die Musik als durch das geistreiche, mitunter allerdings oberflächliche Libretto von da Ponte vermittelt.

Gewöhnlich heißt es, Mozarts Die Hochzeit des Figaro (1786) sei eine Art »Verlegenheitslösung«. Auf der Basis des radikalen Dramas von Beaumarchais (1778), das eine politische Stoßrichtung hat und Kritik an der Feudalordnung und ihren Hierarchien übt, hätten Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte ein harmloses Drama persönlicher Liebe verfaßt und den Text dadurch entschärft, daß beispielsweise Figaros langer Monolog im 5. Akt, in dem er die feudalen Hierarchien beklagt, weggelassen wurde; statt dessen sei Frauen und ihren persönlichen Wünschen breiter Raum gegeben worden. Das Stück von Beaumarchais, das weithin als ein wichtiger Vorbote der Französischen Revolution verstanden wird, durfte viele Jahre lang nicht aufgeführt werden, und selbst 1784, als es in Frankreich zur Aufführung kam und ungeheuer populär wurde, blieb es umstritten.[6] Mozart und da Ponte beschlossen (so jedenfalls die allgemeine Auffassung), jeder Kontroverse aus dem Weg zu gehen. Der relativ fortschrittliche Joseph II. 51hatte verboten, das Stück von Beaumarchais in Theatern seines Reichs aufzuführen. Da Ponte überzeugte den Kaiser jedoch, daß das Stück eine annehmbare Vorlage für eine Oper sein könne.[7] Doch dann hätten er und Mozart, so heißt es weiter,[8] zwar ein wunderbares Liebesdrama geschaffen, aber dem Radikalismus des Originals den Garaus gemacht.

Ich werde darlegen, daß die Oper nicht nur ebenso radikal und politisch wie das Theaterstück, sondern auch tiefgründiger ist, da sie den menschlichen Gefühlen nachspürt, die für die Begründung einer öffentlichen Kultur der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vonnöten sind. Da diese Gefühle in Mozarts Musik klarer als im Libretto zum Ausdruck kommen, werde ich näher auf musikalische Details eingehen.[9] Mozart stimmt (tatsächlich)[10] mit Rousseau darin überein, daß eine politische Kultur neue menschliche Einstellungen im Bereich der Liebe erfordert, teilt aber nicht Rousseaus Auffassung von der spezifischen Ausformung der neuen Einstellungen. Rousseau betont die Notwendigkeit staatsbürgerlicher Homogenität und Solidarität sowie einer Vaterlandsliebe, die auf männ52licher Ehre und der Bereitschaft, für die Nation zu sterben, basiert. Mozart hat hingegen eine sanftere, femininere, auf gegenseitigem Verstehen und Respekt fußende Vorstellung von dem neuen solidarischen Miteinander - sie ist »gelehriger«, um das Wort der Gräfin zu verwenden. Sie entspricht eher Rousseaus Abscheu vor kriegerischen Heldentaten als rousseauischen Vorstellungen von Tapferkeit. Mozart lehnt auch die von Rousseau geforderte Homogenität ab und betont, die neue Brüderlichkeit müsse Räume schützen, in denen sich Schalk, Kaprizen, Humor und Individualität entfalten können - in der Oper mit der Welt der Frauen verbunden. So entsteht eine Vision von politisch erwünschten Emotionen, die im 19. Jahrhundert von John Stuart Mill und im frühen 20. Jahrhundert von Rabindranath Tagore wiederbelebt werden wird.[11]
II. Das Ancien régime und die männliche Stimme

Der landläufigen Auffassung zufolge macht Beaumarchais den Gegensatz zwischen der alten, auf Hierarchie und Unterordnung basierenden Feudalordnung (verkörpert vom Grafen) und einer neuen, auf Gleichheit und Freiheit basierenden demokratischen Ordnung (verkörpert von Figaro) zum Gegenstand eines Theaterstücks. Der entscheidende Moment im Stück von Beaumarchais sei Figaros Monolog im 5. Akt, in dem er die erblichen Privilegien des Grafen kritisiert. Indem Mozart diese politischen Äußerungen weglasse, habe er die 53Oper entpolitisiert und den Konflikt zwischen dem Grafen und Figaro zu einem rein persönlichen Konkurrenzkampf um eine Frau gemacht.

Diese Auffassung enthält eine stillschweigende Prämisse: daß der Gegensatz, der uns als politisch Denkende interessieren sollte, der zwischen dem Grafen und Figaro ist. Da Mozart den Mittelpunkt des politischen Konflikts nicht hier ansiedelt, entsteht der Eindruck, seine Version sei überhaupt nicht...
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Autor

Martha C. Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Sie ist Mitglied der American Philosophical Association und der American Academy of Arts and Sciences. Für ihr Werk wurde sie mit über dreißig Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. 2009 erhielt sie mit dem vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) verliehenen A.SK Social Science Award einen der weltweit höchstdotieren Preise für Sozialwissenschaften.