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Die Trauer meines Großvaters

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Schöffling & Co.erschienen am01.03.20221. Auflage
In »Die Trauer meines Großvaters« erzählt der 1930 geborene Herbert Heckmann von seinem Aufwachsen in der Frankfurter Kuhwaldsiedlung, und er tut es wie kein zweiter. Doch Achtung, es gibt immer »zwei Vergangenheiten: eine, die aufgeschrieben ist, und eine, die gewesen ist«. Und so tritt neben das Interesse für die Vergangenheit auch die Lust am Fabulieren. Fesselnd und mit viel Witz berichtet der Erzähler von seinen ersten Schreiberfahrungen auf der Schiefertafel und der Freude darüber, allein in die Volksbücherei fahren zu dürfen. Aufgeregt und zugleich etwas ratlos beobachtet Herbert mit anderen Jungen durchs Fenster die hübsche Frau Senft, wie sie nackt vor dem Spiegel tanzt. Und in tiefes Unglück stößt ihn das Pech, als einziger unter den Schulkameraden nicht an Keuchhusten zu leiden und daher nicht an einem Flug über die Stadt teilnehmen zu dürfen, den die Frankfurter Ärzte sich als Therapie ausgedacht haben. Doch Herbert muss beim Besuch der Bücherei auch mitansehen, wie ein Jude schroff des Ortes verwiesen wird. Frau Senfts Mann fällt im Russlandfeldzug, und ein behindertes Kind aus der Nachbarschaft wird in ein Sanatorium gebracht und kommt nie wieder. Dunkel fallen der Nationalsozialismus und der Krieg in die kindlich-sinnliche Erlebniswelt des Erzählers ein.

Herbert Heckmann wurde 1930 in Frankfurt am Main geboren. Sein umfangreiches Werk umfasst neben Erzählungen und Romanen auch Kinder- und Kochbücher sowie ein Wörterbuch der Hessischen Mundart. Für den Roman »Benjamin und seine Väter«, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung vorabdruckte, wurde er mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Er war Mitherausgeber der Neuen Rundschau, freier Mitarbeiter beim Hessischen Rundfunk, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und gehörte zahlreichen Jurys an. Er starb 1999 in Bad Vilbel. Hans Sarkowicz studierte Germanistik und Geschichte und veröffentlichte kultur- und mediengeschichtliche Werke sowie Biographien, etwa über Erich Kästner. Von 1979 bis 2021 war er beim Hessischen Rundfunk tätig, zuletzt als Leiter der Kulturwelle hr2. Dort arbeitete er eng mit Herbert Heckmann zusammen.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextIn »Die Trauer meines Großvaters« erzählt der 1930 geborene Herbert Heckmann von seinem Aufwachsen in der Frankfurter Kuhwaldsiedlung, und er tut es wie kein zweiter. Doch Achtung, es gibt immer »zwei Vergangenheiten: eine, die aufgeschrieben ist, und eine, die gewesen ist«. Und so tritt neben das Interesse für die Vergangenheit auch die Lust am Fabulieren. Fesselnd und mit viel Witz berichtet der Erzähler von seinen ersten Schreiberfahrungen auf der Schiefertafel und der Freude darüber, allein in die Volksbücherei fahren zu dürfen. Aufgeregt und zugleich etwas ratlos beobachtet Herbert mit anderen Jungen durchs Fenster die hübsche Frau Senft, wie sie nackt vor dem Spiegel tanzt. Und in tiefes Unglück stößt ihn das Pech, als einziger unter den Schulkameraden nicht an Keuchhusten zu leiden und daher nicht an einem Flug über die Stadt teilnehmen zu dürfen, den die Frankfurter Ärzte sich als Therapie ausgedacht haben. Doch Herbert muss beim Besuch der Bücherei auch mitansehen, wie ein Jude schroff des Ortes verwiesen wird. Frau Senfts Mann fällt im Russlandfeldzug, und ein behindertes Kind aus der Nachbarschaft wird in ein Sanatorium gebracht und kommt nie wieder. Dunkel fallen der Nationalsozialismus und der Krieg in die kindlich-sinnliche Erlebniswelt des Erzählers ein.

Herbert Heckmann wurde 1930 in Frankfurt am Main geboren. Sein umfangreiches Werk umfasst neben Erzählungen und Romanen auch Kinder- und Kochbücher sowie ein Wörterbuch der Hessischen Mundart. Für den Roman »Benjamin und seine Väter«, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung vorabdruckte, wurde er mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Er war Mitherausgeber der Neuen Rundschau, freier Mitarbeiter beim Hessischen Rundfunk, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und gehörte zahlreichen Jurys an. Er starb 1999 in Bad Vilbel. Hans Sarkowicz studierte Germanistik und Geschichte und veröffentlichte kultur- und mediengeschichtliche Werke sowie Biographien, etwa über Erich Kästner. Von 1979 bis 2021 war er beim Hessischen Rundfunk tätig, zuletzt als Leiter der Kulturwelle hr2. Dort arbeitete er eng mit Herbert Heckmann zusammen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783731762096
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum01.03.2022
Auflage1. Auflage
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2294 Kbytes
Artikel-Nr.8972852
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Die Trauer meines Großvaters

Soll ich mit meinem Großvater beginnen oder mit seiner Trauer? Da die Trauer in vielerlei Gestalt schon vor meinem Großvater die Menschen bedrückte, müßte ich zuerst von ihr reden. Aber kann man von ihr reden, ohne der Menschen zu gedenken, die unter ihr litten? Natürlich tun das viele, und sie erheben die Trauer ganz in das Reich des Allgemeinen, wo alle Katzen grau sind und der Hund des Saturn schwarz. Allgemeine Worte sind leicht zu fangen - wie die Fliegen im Herbst. Aber welche Einsicht hat man dabei gewonnen? Daß die Trauer sehr traurig ist? Und die Fliegen im Herbst sehr müde?

Also beginne ich mit meinem Großvater. Was geht mich Ihr Großvater an? werden Sie fragen, ein Mann, den Sie gar nicht gekannt haben? Nichts! muß ich antworten, aber warten Sie ab. Vielleicht glimmt doch ein bißchen Interesse in Ihnen für meinen Großvater auf, der sich, Sie sollen das wissen, sein Leben lang nicht um das scherte, was andere Leute über ihn sagten.

Ich lernte meinen Großvater kennen, als mein Bewußtsein sich der Welt öffnete, das heißt, als ich den ersten Schritt machte und auf die Nase fiel.

»Das nenne ich einen guten Anfang«, soll er ausgerufen haben, und ich soll nach Ohrenzeugenberichten jämmerlich geplärrt haben, aber das bezog sich keineswegs auf die Anwesenheit meines Großvaters, sondern auf meine blutige Nase. Wer nicht gefallen ist, kann nicht aufstehen.

Mein Großvater war ein Mann von fast einsneunzig ohne Hut und mit einem Schnauzbart, der sich wie ein finsteres Tor über seinen Mund spannte. Wenn er redete, tanzte der Schnauzbart, aber mein Großvater redete nicht viel. Er zog es vor zuzuhören - und er tat dies mit einer derartigen Angespanntheit, daß dem Redenden das Wort auf der Zunge verdorrte. So hatten viele Leute Respekt vor ihm, ohne zu wissen warum. Wenn er ging, hatte man fast den Eindruck, ein Gebäude würde sich fortbewegen. Sein Schritt beherrschte das Trottoir. Er hatte Schuhgröße 46. Das waren keine Schuhe mehr, sondern Boote, und mein Großvater wirkte in ihnen wie ein Kapitän auf hoher See. Er ging sehr zielstrebig, selbst auf Spaziergängen, bei denen es um kein Ziel ging. 230 Pfund wog er, und so etwas mußte bewegt werden. Er schaute stets geradeaus. Wenn er seinen Hut zog, glich das einem Staatsakt.

Mein Großvater fuhr jedoch auch ein Fahrrad, das er liebevoll Hirsch nannte. Die Art und Weise, wie er es bestieg, war sehenswert; daß es überhaupt gelang, ein Wunder. Mit einem Schwung des rechten Beines führte er einen hohen Bogen über den Sattel aus und stieß sich mit dem linken Fuß vom Boden ab. Das Fahrrad zitterte, mein Großvater zitterte und beruhigte sich erst nach einigen Metern kurviger Fahrt. Herr Dapper, ein pensionierter Nachbar, der seine freie Zeit mit der Betrachtung der Nachbarschaft verbrachte, rief ihm einmal nach, er sitze auf dem Fahrrad wie ein Affe auf dem Schleifstein. Daraufhin hielt mein Großvater umständlich an, stieg ebenso umständlich ab und forderte den Kritiker seiner Fahrweise auf, sich doch einmal selbst in den Sattel zu schwingen. Herr Dapper schaute sich das Fahrrad sehr genau an und schüttelte den Kopf. Der Sattel sei ihm viel zu hoch, meinte er.

Mein Großvater lachte höhnisch und sagte mit einem ironischen Seitenblick auf Herrn Dapper: »Feiglinge leben von Ausreden.«

Mein Großvater war kein Feigling. Schon allein die Tatsache, daß er überhaupt im hochgestellten Sattel seines Fahrrads fest sitzen blieb, ohne eine Miene zu verziehen, dürfte ein nicht geringes Argument für seine Furchtlosigkeit sein. Er selbst hatte nie von seiner Tapferkeit und seinen Heldentaten geredet, wie das viele taten, die im Ersten Weltkrieg gewesen waren. So erzählte uns Herr Dapper, der Wiederholungen liebte, wie er bei Sedan einmal ganz allein und ebenso furchtlos ein französisches Maschinengewehr erobert habe.

»Gott sei Dank hat es in Wirklichkeit gar nicht so viele Kriege gegeben, wie der Dapper behauptet, in ihnen eine Heldentat vollbracht zu haben.«

»Was hast du denn im Krieg gemacht?« fragte ich.

Mein Großvater zupfte versonnen an seinen Schnauzbartspitzen und schaute an die Decke, wo er immer hinschaute, wenn ihm etwas nicht paßte.

»Nichts!« gab er zur Antwort.

»Nichts?«

»Nichts für den Krieg.« Mehr sagte er nicht. Seine Augen schlossen sich über eine Erinnerung, und seine Finger trommelten ungeduldig auf die Tischplatte. Das war, wie ich schon oft festzustellen Gelegenheit hatte, ein Zeichen, daß er allein sein wollte. Leicht vornübergebeugt saß er da, als ich das Zimmer verließ.

»Was hat er nur?« fragte ich meine Mutter.

»Er kann nicht vergessen, daß er im Krieg seine Frau verloren hat, deine Großmutter, meine Mutter. Sie haben ihn von der Front nach Hause geschickt, und als er ankam, war sie schon beerdigt.«

Auf der Fotografie über dem Schreibtisch meines Großvaters trug meine Großmutter einen breiten Sommerhut, der ihr Gesicht halb überschattete. Ihre dunklen Augen glänzten, und sie hatte den linken Arm in die Seite gestemmt. Mit der rechten Hand stützte sie sich auf einen Schirm. Im Hintergrund sah man einen Springbrunnen. Je länger ich auf die Fotografie starrte, um so mehr hatte ich den Eindruck, daß meine Großmutter lächelte. Einmal hatte ich meine Mutter zu meinem Vater sagen hören: »Er sollte wieder heiraten.«

Ich nahm an, daß damit nur mein Großvater gemeint sein konnte. Wenn ich auch damals die Geheimnisse der Erotik noch nicht recht durchschaute, so war mir doch aufgefallen, daß mein Großvater, der auf die Sechzig zuging, dann und wann mit einer Frau bei uns erschien und sich sehr ungewöhnlich aufführte. Es war jedesmal eine andere, muß ich wahrheitsgemäß hinzufügen, allesamt seltsame Wesen, denen er sein Interesse zuwandte, im Gegensatz zu ihm zart und zerbrechlich. Er nannte sie seine Verhältnisse und versuchte sich neben ihnen so klein zu machen, wie er nur konnte. Es gelang ihm jedoch nicht, so daß die Verhältnisse bald wieder entschwebten und den Duft eines Parfüms oder einen weißen Handschuh oder einen Regenschirm hinterließen.

Jedesmal bevor mein Großvater mit einem Verhältnis ausging, rasierte er sich derart stürmisch, daß es ihm nicht gelang, mit dem Alaunstein das Blut zu stillen. Er klebte kleine Papierstückchen auf die Wunden, die ihn sehr lächerlich aussehen ließen. Das Schlimmste waren jedoch seine Anzüge, mit denen er sich seinen Verhältnissen anzupassen versuchte. Gewöhnlich trug er nur unauffällige graue Anzüge, die er noch nicht einmal mit einem Taschentuch in der Brusttasche verzierte. Wenn er jedoch auszugehen gedachte, ging er, wie meine Mutter meinte, entschieden zu weit. So brachte er es einmal fertig, in einem taubenblauen Anzug und mit gelblichen Schuhen einer Dame in einem knallroten Kleid und einem schwarzen Hut den Arm anzubieten. Da sah mein Großvater gar nicht wie mein Großvater aus, sondern wie ein Flaneur. Obendrein zwinkerte er mir noch zu.

»Vater, das steht dir überhaupt nicht!« stellte meine Mutter leicht entsetzt fest.

»Kleider machen Leute«, erwiderte mein Großvater und schwang sein Stöckchen gegen einen unsichtbaren Rivalen.

Einmal ist er nicht nur aus Rasierwunden blutend nach Hause gekommen. Er hatte sich mit einigen SA-Leuten geprügelt, die sein Verhältnis angepöbelt hatten, weil es stark geschminkt war. Mein Großvater war ein Kavalier der alten Schule, ja man kann schon sagen, der mittelalterlichen Schule, der sogar einen Drachen getötet hätte, um eine bedrängte oder beleidigte Frau zu retten. Im Grunde seines Herzens war er jedoch ein friedfertiger Mensch, der sich alle Mühe gab, nicht wie ein friedfertiger Mensch zu wirken. Dreizehn Jahre hatte er eine Uniform getragen. Er war bei den Hanauer Ulanen gewesen, was zur Folge hatte, daß er zu jedem Pferd, das er erblickte, eine persönliche Beziehung herzustellen versuchte. Den Reitern und Kutschern gefiel das gar nicht, und es kam schon einmal vor, daß sie ihm eifersüchtig mit der Peitsche drohten.

Fünf Jahre vor dem Ersten Weltkrieg hatte mein Großvater Abschied vom Militärdienst genommen, um nach Kamerun zu gehen. Er kam jedoch schon nach einem Jahr wieder zurück und schenkte einem Mädchen mit tizianrotem Haar einen breiten Sommerhut, das in diesem Hut seine Frau wurde.

»Er ist nur nach Afrika gegangen, um von dort seiner Braut einen Hut zu holen«, sagten die Hanauer.

War das nicht Grund genug?

Im ersten Kriegsjahr starb meine Großmutter. Viel, viel später hat dann meine Mutter den Hut als junge Frau getragen und mit ihm die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes auf sich gelenkt, der mein Vater wurde. Als ich zur Karnevalszeit mit eben diesem Hut, als Pancho Villa verkleidet, auf die Straße wollte, um gegen Indianer, Cowboys, Seeräuber und dergleichen mit Zündblättchen zu kämpfen, erwischte mich mein Großvater an der Haustür und beschlagnahmte meine Kopfbedeckung. Ohne Hut fühlte ich mich als Pancho Villa unvollständig und ließ mich von meiner Mutter zum Indianer einröten. Der Hut landete in unserer Mansarde, wo er auf einem Stoß Noten seinen endgültigen Platz fand. Er verdeckte Clementis Sonaten und bewahrte sie vor dem Staub.

Mein Großvater wohnte in der Wohnung über uns, und wenn ich nicht schlafen konnte, hörte ich seine Schritte noch bis spät in die Nacht. Jeden Abend aß er mit uns und kommentierte mit lauter Stimme die Ereignisse der Welt. Als Deutschland in die Tschechoslowakei einmarschierte, sagte er über einen dampfenden Kartoffelkloß hinweg, der auf seiner Gabel steckte: »Daran werden wir uns den Mund verbrennen.«

Ich besuchte ihn...

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