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Warum kämpfen wir? Und wie hören wir auf? Imitation und Streit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
120 Seiten
Deutsch
Reclam Verlagerschienen am11.10.20221. Auflage
Menschen und Gemeinschaften begehren Objekte nicht um ihrer selbst willen - sondern sie imitieren das Begehren anderer. Durch dieses »mimetische Begehren«, ein Grundkonzept im Denken des Kulturanthropologen und Religionsphilosophen René Girard (1923-2015), entstehen Rivalität und Konflikte. Wie diese zu einem Ende finden, beschreibt Girard mit einem »Sündenbock-Mechanismus«: Die mimetische Vergiftung bewegt sich weg vom Sehnen hin zu einem Opfer, das alle Schuld zu tragen hat - als ob es tatsächlich verantwortlich wäre. Girard gilt als Theoretiker der Stunde: Seine Überlegungen über Konflikte und Ideologien, wie sie das titelgebende Gespräch und sein letzter Essay »Über Krieg und Apokalypse« pointiert zugänglich machen, lassen uns die Entwicklungen der Gegenwart besser verstehen.

Renè Girard (1923-2015), französischer Kulturanthropologe, Literaturwissenschaftler und Religionsphilosoph, gilt als einer der prägenden Denker der letzten Jahrzehnte. Girard studierte Geschichte an der École nationale des chartes in Paris. 1947 ging er in die USA, wo er zweimal ein Guggenheim-Stipendium erhielt und 1979 ein Mitglied der American Academy of Arts and Sciences wurde. Er hatte mehrere Professuren inne, zuletzt seit 1981 an der Stanford University, Kalifornien. Sein Werk untersucht die Ursachen von Konflikten und Gewalt und bietet eine ?mimetische Theorie? des Ursprungs der Kultur und des menschlichen Verhaltens. Er inspirierte Schriftsteller wie Milan Kundera und den Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee und wurde zu einem der '40 immortels' der 'Académie française' ernannt. Die Herausgeberin: Cynthia L. Haven ist Publizistin und Buchautorin. Sie hat unter anderem Studien über die Lyriker Czes?aw Mi?osz und Joseph Brodsky vorgelegt. 2018 erschien ihre Girard-Biographie 'Evolution of Desire: A Life of René Girard'; 2020 der Band 'Conversations with René Girard: Prophet of Envy'.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR6,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR5,49

Produkt

KlappentextMenschen und Gemeinschaften begehren Objekte nicht um ihrer selbst willen - sondern sie imitieren das Begehren anderer. Durch dieses »mimetische Begehren«, ein Grundkonzept im Denken des Kulturanthropologen und Religionsphilosophen René Girard (1923-2015), entstehen Rivalität und Konflikte. Wie diese zu einem Ende finden, beschreibt Girard mit einem »Sündenbock-Mechanismus«: Die mimetische Vergiftung bewegt sich weg vom Sehnen hin zu einem Opfer, das alle Schuld zu tragen hat - als ob es tatsächlich verantwortlich wäre. Girard gilt als Theoretiker der Stunde: Seine Überlegungen über Konflikte und Ideologien, wie sie das titelgebende Gespräch und sein letzter Essay »Über Krieg und Apokalypse« pointiert zugänglich machen, lassen uns die Entwicklungen der Gegenwart besser verstehen.

Renè Girard (1923-2015), französischer Kulturanthropologe, Literaturwissenschaftler und Religionsphilosoph, gilt als einer der prägenden Denker der letzten Jahrzehnte. Girard studierte Geschichte an der École nationale des chartes in Paris. 1947 ging er in die USA, wo er zweimal ein Guggenheim-Stipendium erhielt und 1979 ein Mitglied der American Academy of Arts and Sciences wurde. Er hatte mehrere Professuren inne, zuletzt seit 1981 an der Stanford University, Kalifornien. Sein Werk untersucht die Ursachen von Konflikten und Gewalt und bietet eine ?mimetische Theorie? des Ursprungs der Kultur und des menschlichen Verhaltens. Er inspirierte Schriftsteller wie Milan Kundera und den Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee und wurde zu einem der '40 immortels' der 'Académie française' ernannt. Die Herausgeberin: Cynthia L. Haven ist Publizistin und Buchautorin. Sie hat unter anderem Studien über die Lyriker Czes?aw Mi?osz und Joseph Brodsky vorgelegt. 2018 erschien ihre Girard-Biographie 'Evolution of Desire: A Life of René Girard'; 2020 der Band 'Conversations with René Girard: Prophet of Envy'.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783159620763
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum11.10.2022
Auflage1. Auflage
Seiten120 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse969 Kbytes
Artikel-Nr.9957539
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Über Krieg und Apokalypse (2009)

Meine Arbeit wird oft als eine Erörterung über archaische Religionen mit den Mitteln der komparativen Anthropologie bezeichnet. Ihr Ziel ist es, den Prozess der Menschwerdung zu beleuchten: den faszinierenden Übergang vom Tiersein zum Menschsein, der sich vor Tausenden Jahren ereignete.

Die zentrale Hypothese meiner Theorie dreht sich in allen Fällen um Mimesis2: Da die Menschen einander imitieren, mussten sie ein Mittel finden, mit der ansteckenden Ähnlichkeit umzugehen, die schlicht und einfach zum Verschwinden ihrer Gemeinschaft führen konnte. Der Mechanismus, mit dem sie dieses Problem bewältigten, war das Sakrifiz (die rituell überhöhte Opferung), das in eine Situation, da jeder jedem gleichsah, wieder Unterschiede einführte.

Dies bedeutet, dass unser Menschsein vom Sakrifiz herrührt; wir sind Kinder der Religion. Was ich, nach Freud, den Urmord nenne - die Vernichtung eines sakrifiziellen Opfers, das schuldig an Unordnung, aber gleichzeitig fähig ist, Ordnung wiederherzustellen -, hat sich in den Anfängen unserer Institutionen beständig vollzogen. Seit dem Anbruch des Menschseins wurden dergestalt Millionen unschuldiger Opfer getötet, damit ihre Mitmenschen miteinander zusammenleben konnten oder wenigstens nicht einander vernichteten.

Dies ist die unerbittliche Logik des Sakralen, die ursprünglich von Mythen verschleiert wurde; deren Verbergungspotenz nimmt aber ab, je mehr die Menschen ihrer selbst bewusst werden. Der entscheidende Punkt in dieser Entwicklung liegt in der christlichen Offenbarung. Rituale hatten in einem langsamen Prozess die Menschen erzogen; nach dem Christentum mussten sie ohne diese zurechtkommen. Anders gesagt: Das Christentum hat die Religion demystifiziert.

Nun ist Demystifikation, absolut gesehen, ja etwas Gutes; relativ betrachtet jedoch hat sie sich als etwas Schlechtes herausgestellt, denn wir waren nicht darauf vorbereitet, ihre Konsequenzen zu schultern. Wir sind nicht christlich genug.

Das Paradox lässt sich auch anders ausdrücken: Das Christentum ist die einzige Religion, die ihr eigenes Scheitern vorhergesehen hat. Diese Prophezeiung ist bekannt als die Apokalypse. Tatsächlich ist Gottes Wort in den apokalyptischen Schriften am energischsten: Dort geißelt er Missstände, die gänzlich von den Menschen verschuldet sind, welche sich immer weniger geneigt zeigen, die Mechanismen ihrer Gewalt anzuerkennen. Je länger wir im Irrtum verharren, desto mächtiger schallt Gottes Stimme aus der Verwüstung heraus. Deshalb mag niemand die apokalyptischen Texte lesen, von denen die synoptischen Evangelien und die Paulus-Briefe förmlich überquellen. Deshalb will auch niemand erkennen, dass diese Texte sich uns deshalb wuchtig entgegenstellen, weil wir das Buch der Offenbarung ignoriert haben. Einmal in der Geschichte wurde die Wahrheit über die Identität aller Menschen ausgesprochen, und niemand wollte es hören; dafür halten wir umso wahnhafter an unseren unechten Unterschieden fest.

Zwei Weltkriege, die Erfindung der Atombombe und all die übrigen Schrecken der Moderne haben nicht genügt, um die Menschen - und am allerwenigsten die Christen - davon zu überzeugen, dass die apokalyptischen Texte ein Desaster betreffen könnten, das sich auf dem Weg zu uns befindet. Gewalt wurde über die ganze Welt losgelassen, und wir befinden uns in folgender paradoxer Situation: Indem wir näher an Alpha kommen, gehen wir auf Omega zu: Indem wir den Ursprung besser verstehen, können wir jeden Tag ein bisschen klarer sehen, dass der Ursprung näher rückt. Infolge des Urmordes3 wurden uns Fesseln angelegt, die infolge der Passion wieder fielen - mit der Konsequenz einer Freisetzung von Gewalt weltweit.

Wir können die Bande nicht wieder festzurren, weil wir wissen, dass die Sündenböcke im Sakrifizprozess unschuldig sind. Die Passion Christi hat den sakrifiziellen Ursprung der Menschheit ein für alle Mal enthüllt. Sie demontierte das Heilige und offenbarte seine Gewalt. Und doch: Als die Passion das Heilige freisetzte, setzte sie gleichzeitig auch die Gewalt frei. Die moderne Form des Heiligen ist daher keine Rückkehr zu einer archaischen Form. Es ist ein Heiliges, das satanisiert wurde durch die Tatsache, dass wir uns seiner bewusst sind, und durch seine Exzesse signalisiert sie uns das Bevorstehen der Zweiten Wiederkunft.

 

»Krieg ist«, schrieb Heraklit, »von allem der Vater.«4 Dieses Gesetz der menschlichen Beziehungen wurde im 19. Jahrhundert neu formuliert, ein paar Jahre nach Napoleons Sturz, in einer Amtsstube der Berliner Militärakademie. Und diese Neuformulierung erfasste einen bestimmten Zug der Politik, nämlich die Neigung zu Extremen und die Unfähigkeit, das gegenseitige Hochschaukeln von Gewalt unter Kontrolle zu halten. Der Autor dieser Äußerung, Carl von Clausewitz (1780-1831), konnte sein Buch Vom Kriege nicht mehr vollenden, aber es ist vielleicht der bedeutsamste Text, der je zu diesem Thema geschrieben wurde: eine Abhandlung, welche die Engländer, die Deutschen, die Franzosen, die Italiener, die Russen und die Chinesen wieder und wieder gelesen haben, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag.

Clausewitz´ Vom Kriege tritt auf mit dem Anspruch, eine Arbeit über Strategie zu sein. Es untersucht die seinerzeit jüngsten Beispiele für die Neigung zu Extremen, die denen, die sie praktizierten, wie üblich nicht bewusst waren. Clausewitz spricht zu uns über sein Spezialgebiet, als hätte er mit den realen Waffengängen ringsherum nichts zu tun oder nichts zu tun gehabt, und das Ergebnis seiner Analyse hat Implikationen, die weit über seine Rede hinausgehen. Er formulierte und half zu identifizieren, was man ein Preußentum in seiner verstörendsten Form nennen könnte, ohne allerdings die Konsequenzen dessen zu Ende zu denken, was er da identifiziert hatte.

Wir sind die erste Gesellschaft, die weiß, dass sie sich selbst vollständig zerstören kann. Doch fehlt uns der Glaube, der sich unter diesem Wissen halten könnte. Nicht Theologen haben uns auf den Weg der neuen Rationalität geführt; dies leistete jemand, der 1831 mit 51 Jahren starb. Clausewitz war ein Militärtheoretiker, den Frankreich, England und die Sowjetunion verachteten, ein temperamentvoller Schreiber, der niemanden gleichgültig ließ. Seine Thesen zum damaligen Ist-Zustand haben keine Zukunft. Doch weisen sie eine Unterströmung auf, die man laut verlesen sollte, weil er eine verborgene Wirklichkeit offenbaren könnte.

Es wäre heuchlerisch, Vom Kriege nur als technisches Buch zu sehen. Was geschieht, wenn wir die Extreme erreichen, die Clausewitz nur flüchtig streift, bevor er sie hinter seinen strategischen Überlegungen verbirgt? Dies ist die Frage, die wir uns heute stellen müssen. Clausewitz hat eine erstaunliche Intuition, was den beschleunigten Lauf der Geschichte betrifft, doch verschleierte er seine Erkenntnisse gleich wieder und versuchte seinem Buch den Ton einer technisch-wissenschaftlichen Abhandlung zu geben. Wir müssen daher Clausewitz vervollständigen, indem wir den Weg wieder aufnehmen, den er abgebrochen hat, und ihn zu Ende gehen. Die Interpretation des Werks Vom Kriege zu vervollständigen heißt zu erkennen, dass seine Bedeutung eine religiöse ist und dass nur eine religiöse Interpretation die Chance hat, zu dem vorzustoßen, was an ihm wesentlich ist. Durch Clausewitz´ Text wird die Relevanz apokalyptischer Texte augenscheinlicher und eindringlicher.

Wir dürfen den Autor des Buches Vom Kriege nicht zum Sündenbock machen, wie es in ihrer Zeit Stalin und einer von Clausewitz´ berühmtesten Kommentatoren, Liddell Hart5, getan haben. Uns stellt aber auch die Schüchternheit nicht zufrieden, mit der Raymond Aron6 versucht hat, ihn zu rehabilitieren. Der Grund dafür, dass der Text bis heute nicht völlig verstanden wurde, lieg vielleicht daran, dass er zu oft attackiert und verteidigt wurde. Es ist, als hätten wir noch nicht den Wunsch verspürt, die zentrale Intuition zu verstehen, die er zu verbergen sucht.

Diese ständige Verleugnung ist interessant. Clausewitz war wie alle großen Autoren besessen von Animositäten. Er wollte rationaler sein als die Strategen, die ihm vorausgegangen waren, und da geschah es ihm, dass er plötzlich seinen Finger auf einen Aspekt der Realität legte, der absolut irrational ist. Er schreckte zurück und versuchte, davor seine Augen zu verschließen.

 

Clausewitz nahm die Beziehungen zwischen den Menschen als mimetisch wahr, obwohl sein philosophischer Ansatz dem des Rationalismus der Aufklärung entsprach. Er lieferte alles, was notwendig war, um darzutun, dass die Welt mehr und mehr zu Extremen neigt, und doch behinderte und begrenzte seine Vorstellung seine Intuitionen. Clausewitz und seine Kommentatoren wurden von ihrem Rationalismus gehemmt. Dies beweist bestens, dass eine andere Art von Rationalität erforderlich ist, um die Wirklichkeit dessen zu verstehen, was er flüchtig beleuchtet hat.

Von einer »Wechselwirkung wider das Streben nach dem Äußersten« ist bei Clausewitz die Rede, und im ersten Kapitel schreibt er: Krieg sei »ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem andern das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum Äußersten führen muss.«7 Ohne es zu bemerken, erkannte Clausewitz nicht nur das apokalyptische Schema,...
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Autor

Renè Girard (1923-2015), französischer Kulturanthropologe, Literaturwissenschaftler und Religionsphilosoph, gilt als einer der prägenden Denker der letzten Jahrzehnte. Girard studierte Geschichte an der École nationale des chartes in Paris. 1947 ging er in die USA, wo er zweimal ein Guggenheim-Stipendium erhielt und 1979 ein Mitglied der American Academy of Arts and Sciences wurde. Er hatte mehrere Professuren inne, zuletzt seit 1981 an der Stanford University, Kalifornien. Sein Werk untersucht die Ursachen von Konflikten und Gewalt und bietet eine >mimetische Theorie