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Suite française

Roman
TaschenbuchKartoniert, Paperback
508 Seiten
Deutsch
btberschienen am17.02.20076. Aufl.
Eine der größten literarischen Wiederentdeckungen der letzten Jahre

Sommer 1940: Die deutsche Armee steht vor Paris. Voller Panik packen die Menschen ihre letzten Habseligkeiten zusammen und fliehen. Angesichts der existentiellen Bedrohung zeigen sie ihren wahren Charakter ...

Der wiederentdeckte Roman "Suite française" von Irène Némirovsky wurde 2005 zur literarischen Sensation. Über 60 Jahre lag das Vermächtnis der französischen Starautorin der 30er Jahre unerkannt in einem Koffer - bis der Zufall dieses eindrucksvolle Sittengemälde aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ans Licht brachte.
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Produkt

KlappentextEine der größten literarischen Wiederentdeckungen der letzten Jahre

Sommer 1940: Die deutsche Armee steht vor Paris. Voller Panik packen die Menschen ihre letzten Habseligkeiten zusammen und fliehen. Angesichts der existentiellen Bedrohung zeigen sie ihren wahren Charakter ...

Der wiederentdeckte Roman "Suite française" von Irène Némirovsky wurde 2005 zur literarischen Sensation. Über 60 Jahre lag das Vermächtnis der französischen Starautorin der 30er Jahre unerkannt in einem Koffer - bis der Zufall dieses eindrucksvolle Sittengemälde aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ans Licht brachte.
Details
ISBN/GTIN978-3-442-73644-7
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Verlag
Erscheinungsjahr2007
Erscheinungsdatum17.02.2007
Auflage6. Aufl.
Seiten508 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht418 g
Artikel-Nr.10753626
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
STURM IM JUNI1 Der Krieg Warm, dachten die Pariser. Frühlingsluft. Es war Nacht im Krieg, Alarm. Aber die Nacht vergeht, der Krieg ist weit. Alle, die nicht schliefen, die Kranken in ihrem Bett, die Mütter, deren Söhne an der Front waren, die liebenden Frauen mit ihren tränenwelken Augen hörten den ersten Atemzug der Sirene. Noch war es erst ein tiefes Einatmen gleich dem Seufzer, der einer beklommenen Brust entweicht. Einige Augenblicke würden vergehen, ehe der ganze Himmel sich mit Geheul füllte. Es kam aus der Ferne, aus der Weite des Horizonts, ohne Hast, hätte man meinen können! Die Schlafenden träumten vom Meer, das seine Wellen und seine Kiesel vor sich herschiebt, vom Sturm, der im März den Wald schüttelt, von einer Rinderherde, die schwerfällig rennt und den Boden mit ihren Hufen erschüttert, bis endlich der Schlaf zurückwich und der Mann, kaum die Augen öffnend, murmelte: «Alarm?» Nervöser, flinker, waren die Frauen schon auf den Beinen. Einige legten sich wieder hin, nachdem sie Fenster und Läden geschlossen hatten. Tags zuvor, am Montag, dem 3.Juni, waren zum ersten Mal seit Beginn dieses Krieges in Paris Bomben gefallen; aber die Bevölkerung blieb ruhig. Dabei waren die Nachrichten schlecht. Man glaubte nicht daran. Ebensowenig hätte man der Ankündigung eines Sieges geglaubt. «Davon verstehen wir nichts», sagten die Leute. Im Licht einer Taschenlampe zog man die Kinder an. Mit beiden Armen hoben die Mütter die schweren und warmen kleinen Körper hoch: «Nicht doch, hab keine Angst, weine nicht.» Es war Alarm. Alle Lampen erloschen, aber unter diesem goldenen, durchsichtigen Junihimmel war jedes Haus, jede Straße zu sehen. Und die Seine schien alle verstreuten Lichter in sich zu vereinen und sie wie ein Facettenspiegel hundertfach zu reflektieren. Die unzureichend abgedunkelten Fenster, die im leichten Dunkel schimmernden Dächer, die Eisenbeschläge der Türen, von denen jede einzelne Wölbung schwach glänzte, einige Rotlichter, die wer weiß warum länger brannten als die anderen ? die Seine zog sie an, fing sie ein und ließ sie in ihren Fluten tanzen. Von oben sah man sie sicher weiß wie ein Fluß aus Milch dahinfließen. Sie lenkte die feindlichen Flugzeuge, dachten einige. Andere behaupteten, das sei unmöglich. In Wirklichkeit wußte man nichts. «Ich bleibe im Bett», murmelten schläfrige Stimmen, «ich habe keine Angst.» ? «Trotzdem, einmal ist genug», antworteten die vernünftigen Leute. Durch die Glasscheiben, die in den neuen Wohnhäusern die Hintertreppen schützten, sah man ein, zwei, drei kleine Flammen hinabsteigen: Die Bewohner des sechsten Stocks flohen diese großen Höhen; ungeachtet der Vorschriften hatten sie ihre Taschenlampen angemacht. «Ich will mir auf der Treppe lieber nicht den Hals brechen, kommst du, Emile?» Instinktiv senkte man die Stimme, als wäre der Raum voll feindlicher Blicke und Ohren. Man hörte nacheinander die Türen zuschlagen. In den stark bevölkerten Vierteln wimmelte es in den Metros, in den übelriechenden Schutzräumen immer von Menschen, während die Reichen sich damit begnügten, bei ihren Pförtnern zu bleiben, auf die Einschläge und die Explosionen horchend, die das Fallen der Bomben verkünden würden, aufmerksam, die Körper aufgerichtet wie unruhige Tiere in den Wäldern, wenn die Nacht der Jagd naht. Die Armen waren nicht furchtsamer als die Reichen; sie hingen nicht stärker am Leben, aber sie folgten dem Herdentrieb in größerem Maße als sie, sie brauchten einander, hatten das Bedürfnis, einander beizustehen, gemeinsam zu stöhnen oder zu lachen. Bald würde es Tag werden; ein silbergrüner Schimmer legte sich auf die Pflastersteine, auf die Brüstungen der Kaimauern, auf die Türme von Notre-Dame. Sandsäcke umschlossen die wichtigsten Gebäude bis zur halben Höhe, verhüllten die Tänzerinnen von Carpeaux auf der Fassade der Oper, erstickten den Schrei der Marseillaise auf dem Arc de Triomphe. Noch ziemlich weit entfernt dröhnten Kanonenschüsse, dann rückten sie näher, und jede Fensterscheibe erbebte als Antwort. Kinder kamen in warmen Zimmern zur Welt, deren Fenster man abgedunkelt hatte, damit kein Licht nach außen drang, und ihr Weinen ließ die Frauen den Lärm der Sirenen und den Krieg vergessen. In den Ohren der Sterbenden klang der Kanonendonner schwach und schien keinerlei Bedeutung zu haben, ein Geräusch mehr in jenem schaurigen, vagen Rauschen, das den Sterbenden empfängt wie eine Flut. Die an die warme Hüfte ihrer Mutter geschmiegten Kleinen schliefen friedlich und schnalzten leicht mit den Lippen wie ein saugendes Lamm. Während des Alarms im Stich gelassen, blieben die Karren der fliegenden Händler mit ihrer Fracht frischer Blumen auf der Straße stehen. Die Sonne ging noch hochrot an einem wolkenlosen Himmel auf. Ein Kanonenschuß wurde abgefeuert, jetzt so nahe bei Paris, daß von jedem Denkmal die Vögel aufflogen. Hoch oben schwebten große schwarze Vögel, die in der übrigen Zeit unsichtbar sind, und breiteten unter der Sonne ihre rosa glasierten Flügel aus, dann kamen die fetten und gurrenden schönen Tauben und die Schwalben, die Spatzen hüpften in aller Ruhe in den menschenleeren Straßen. Am Ufer der Seine trug jede Pappel eine Traube kleiner brauner Vögel, die aus Leibeskräften zwitscherten. In der Tiefe der Keller vernahm man schließlich einen sehr fernen, durch die Distanz gedämpften Ruf, eine Art Fanfarenstoß mit drei Tönen. Der Alarm war vorüber. 2Bei den Péricands hatte man im Radio in bestürztem Schweigen die Abendnachrichten gehört, sich jedoch enthalten, sie zu kommentieren. Die Péricands waren fromme Leute; ihre Traditionen, ihre Geisteshaltung, ein bürgerliches und katholisches Erbe, ihre Beziehungen zur Kirche (ihr ältester Sohn, Philippe Péricand, war Priester), alles trug dazu bei, daß sie die Regierung der Republik mit Argwohn betrachteten. Andererseits verband sie die Position von Monsieur Péricand, Konservator eines der staatlichen Museen, mit einem Regime, das seinen Dienern Ehren und Vorteile bescherte. Eine Katze hielt behutsam ein Stück Fisch voller Gräten zwischen ihren spitzen Zähnen: es zu fressen machte ihr angst, und es auszuspucken würde ihr leid tun. Schließlich meinte Charlotte Péricand, daß nur der männliche Geist derart befremdliche und ernste Ereignisse gelassen beurteilen könne. Doch weder ihr Mann noch ihr ältester Sohn waren zu Hause; ersterer speiste bei Freunden, letzterer weilte zur Zeit nicht in Paris. Madame Péricand, die mit eiserner Hand alles bewältigte, was den Alltag betraf ? ob nun die Führung des Haushalts, die Erziehung ihrer Kinder oder die Karriere ihres Mannes ?, Madame Péricand zog nie jemanden zu Rate. Doch dies hier war ein anderer Bereich. Zuerst mußte eine autorisierte Stimme ihr sagen, was zu glauben sich ziemte. Einmal auf den richtigen Weg gebracht, rannte sie los und kannte keine Hindernisse. Wies man ihr eindeutig nach, daß ihre Meinung irrig sei, antwortete sie mit kaltem, überheblichem Lächeln: «Das hat mir mein Vater gesagt. Mein Mann ist wohlunterrichtet.» Und mit ihrer behandschuhten Hand machte sie eine kurze, abschneidende Bewegung. Die Stellung ihres Mannes schmeichelte ihr (sie selbst hätte ein häuslicheres Leben vorgezogen, aber nach dem Beispiel unseres Süßen Heilands muß ein jeder hienieden sein Kreuz tragen!). Zwischen ihren Besuchen kam sie zwar stets kurz nach Hause, um die Schulaufgaben der Kinder, die Fläschchen des Kleinsten, die Arbeiten der Dienstboten zu überwachen, aber sie hatte keine Zeit, ihren Aufputz abzulegen. In der Erinnerung der jungen Péricands war ihre Mutter immer ausgehbereit, mit Hut und weißen Handschuhen. (Da sie sparsam war, hatten ihre gesäuberten Handschuhe einen schwachen Benzingeruch, Nachwehen ihres Aufenthalts in der Reinigung.) Auch an diesem Abend war sie gerade nach Hause gekommen und stand im Salon vor dem Rundfunkgerät. Sie war schwarz gekleidet und trug einen entzückenden kleinen Hut nach der neusten Mode, geschmückt mit drei Blumen und einer über der Stirn aufragenden seidenen Quaste. Ihr Gesicht darunter war blaß und verängstigt; es verriet deutlich die Spuren des Alters und der Erschöpfung. Sie war siebenundvierzig Jahre alt und hatte fünf Kinder. Es war eine Frau, die Gott offenkundig dazu bestimmt hatte, rothaarig zu sein. Ihre Haut war ungemein zart und von den Jahren welk geworden. Sommersprossen übersäten die kräftige, majestätische Nase. Der Blick ihrer grünen Augen war so scharf wie der einer Katze. Doch in letzter Minute hatte die Vorsehung vermutlich gezögert oder gemeint, daß glänzendes Haar weder Madame Péricands untadeliger Moral noch ihrem Rang anstünde, und sie hatte ihr stumpfes braunes Haar verliehen, das seit der Geburt ihres letzten Kindes büschelweise ausfiel. Monsieur Péricand war ein strenger Mann: Seine religiösen Skrupel untersagten ihm zahlreiche Gelüste, und die Sorge um seinen guten Ruf hielt ihn von übelbeleumdeten Orten fern. Und so war der kleinste Péricand erst zwei Jahre alt, und zwischen dem Abbé Philippe und dem Letztgeborenen verteilten sich drei weitere Kinder, die alle am Leben waren, sowie das, was Madame Péricand schamhaft «drei Vorkommnisse» nannte, bei denen das fast bis zum Ende der Schwangerschaft ausgetragene Kind nicht gelebt hatte und die die Mutter dreimal an den Rand des Grabes gebracht hatten. Der Salon, in dem gerade das Radio tönte, war ein weitläufiger, wohlproportionierter Raum, dessen vier Fenster auf den Boulevard Delessert gingen. Er war auf herkömmliche Art mit großen Sesseln und goldgelb bezogenen Kanapees möbliert. In der Nähe des Balkons stand der Rollstuhl des gebrechlichen alten Monsieur Péricand, der infolge seines hohen Alters bisweilen kindisch wurde. Seine ganze Hellsichtigkeit erlangte er nur dann wieder, wenn von seinem beträchtlichen Vermögen die Rede war (er war ein Péricand-Maltête, Erbe der Lyoner Maltêtes). Der Krieg und seine Wechselfälle jedoch berührten ihn nicht mehr. Er hörte gleichgültig zu, wobei er rhythmisch seinen schönen silbergrauen Bart schüttelte. Hinter der Hausmutter standen im Halbkreis die Kinder, bis auf den Jüngsten, den seine Kinderfrau auf dem Arm trug. Diese, deren drei Söhne an der Front waren, hatte gerade den Kleinen gebracht, damit er der Familie gute Nacht sage, und nutzte die Gelegenheit, daß sie vorübergehend Zutritt zum Salon hatte, um mit ängstlicher Aufmerksamkeit den Worten des Sprechers zu lauschen. Hinter der halb geöffneten Tür erriet Madame Péricand die Anwesenheit weiterer Dienstboten: Das Zimmermädchen Madeleine, von Unruhe getrieben, wagte sich sogar bis zur Türschwelle, und dieser Verstoß gegen die Gepflogenheiten schien Madame Péricand ein unheilvolles Zeichen zu sein. So finden sich bei einem Schiffbruch alle Klassen auf dem Deck ein. Aber das Volk besaß keine Nervenstärke. ?Wie sie sich gehen lassen?, dachte sie mißbilligend. Madame Péricand gehörte zu jenen Bürgerlichen, die dem Volk vertrauen. «Nicht bösartig, wenn man sie zu nehmen weiß», sagte sie in dem nachsichtigen und ein wenig betrübten Ton, den sie angeschlagen hätte, um über ein Tier im Käfig zu sprechen. Sie schmeichelte sich, ihre Dienstboten sehr lange zu behalten. Sie legte Wert darauf, sie eigenhändig zu pflegen, wenn sie krank waren. Als Madeleine eine Angina gehabt hatte, hatte Madame Péricand das Gurgelwasser persönlich zubereitet. Da sie tagsüber keine Zeit hatte, tat sie es abends, wenn sie vom Theater kam. Aus dem Schlaf gerissen, zeigte Madeleine ihre Dankbarkeit erst nachträglich und zudem mit recht kühlen Worten, dachte Madame Péricand. So war das Volk eben, nie zufrieden, und je mehr Mühe man sich mit ihm gibt, desto launischer und undankbarer erweist es sich. Aber eine Belohnung erwartete Madame Péricand ohnehin nur vom Himmel. Sie wandte sich an das Dunkel des Vestibüls und sagte mit großer Güte: «Ihr könnt die Nachrichten hören, wenn ihr wollt.» «Danke, Madame», murmelten ehrerbietige Stimmen, und die Dienstboten schlichen sich auf Zehenspitzen in den Salon. Madeleine, der Kammerdiener Auguste und die Köchin Maria, die als letzte kam, weil sie sich ihrer nach Fisch riechenden Hände schämte. Im übrigen waren die Nachrichten beendet. Jetzt vernahm man die Kommentare zu der «zwar ernsten, aber nicht beunruhigenden» Lage, wie der Sprecher versicherte. Er sprach mit so aufrichtiger, so gelassener, so großväterlicher Stimme, die jedesmal ein wenig schmetterte, wenn er die Wörter «Frankreich», «Vaterland» und «Armee» aussprach, daß er in den Herzen seiner Zuhörer Optimismus verbreitete. Er hatte eine ganz besondere Art, das Kommuniqué zu erwähnen, in dem es hieß, daß «der Feind weiterhin mit Verbissenheit unsere Stellungen angegriffen hat, jedoch auf den kraftvollen Widerstand unserer Truppen stieß». Er las den ersten Teil des Satzes in einem leichten, ironischen und verächtlichen Ton, als wollte er sagen: ?Zumindest versuchen sie, uns das glauben zu machen.? Dagegen betonte er jede einzelne Silbe des zweiten Teils, wobei er das Adjektiv «kraftvoll» und die Wörter «unserer Truppen» mit solcher Zuversicht hervorhob, daß die Leute unweigerlich denken mußten: ?Bestimmt machen wir uns ganz umsonst solche Sorgen!? Madame Péricand sah die auf sie gerichteten fragenden und hoffnungsvollen Blicke und verkündete entschlossen: «Mir scheint das nicht absolut schlecht zu sein!» Nicht, daß sie es glaubte, aber es war ihre Pflicht, die Menschen in ihrer Umgebung aufzumuntern. Maria und Madeleine seufzten: «Madame glaubt das?» Nur Hubert, der zweite der Péricand-Söhne, ein pausbäckiger, rotwangiger Junge von achtzehn Jahren, schien bestürzt und verzweifelt zu sein. Nervös betupfte er seinen Hals mit seinem zerknüllten Taschentuch und rief mit durchdringender, bisweilen heiserer Stimme: «Es ist nicht möglich! Es ist nicht möglich, daß es soweit mit uns gekommen ist! Sagen Sie, Mama, worauf warten sie denn, bis sie alle Männer zu den Waffen rufen? Alle Männer zwischen sechzehn und sechzig, sofort! Das müßten sie doch tun, meinen Sie nicht, Mama?» Er rannte ins Arbeitszimmer, kam mit einer großen Landkarte zurück, die er auf dem Tisch ausbreitete, und maß fieberhaft die Entfernungen. «Wir sind verloren, unweigerlich verloren, es sei denn ?» Er schöpfte wieder Hoffnung. «Ich verstehe, was man tun wird», verkündete er schließlich mit breitem, all seine weißen Zähne entblößendem jugendlichen Lächeln. «Ich verstehe es genau. Man läßt sie vorrücken, immer weiter vorrücken, und dann erwartet man sie dort und dort, sehen Sie, Mama! Oder auch ?» «Ja, ja», sagte seine Mutter. «Geh dir die Hände waschen, und kümmere dich um diese Strähne, die dir in die Augen fällt. Schau nur, wie du aussiehst.» Wütend faltete Hubert seine Landkarte wieder zusammen. Nur Philippe nahm ihn ernst, nur Philippe sprach mit ihm wie mit seinesgleichen. «Familien, ich hasse euch», deklamierte er innerlich, und als er den Salon verließ, verstreute er aus Rache mit einem heftigen Fußtritt das Spielzeug seines kleinen Bruders Bernard, der zu brüllen begann. Das wird ihm beibringen, wie das Leben ist, dachte Hubert. Eilig brachte die Amme Bernard und Jacqueline weg, das Baby Emmanuel schlief bereits auf ihrer Schulter. Sie ging mit großen Schritten, Bernard an der Hand, um ihre drei Söhne trauernd, die sie im Geiste alle tot sah. «Trübsal und Unglück, Trübsal und Unglück!» wiederholte sie leise und schüttelte ihr graues Haupt. Sie drehte die Wasserhähne der Badewanne auf, wärmte die Bademäntel der Kinder, murmelte unaufhörlich dieselben Wörter, die ihr nicht nur die politische Lage, sondern vor allem ihr eigenes Leben zu verkörpern schienen: die Feldarbeit in ihrer Jugend, ihr Witwenstand, der schlechte Charakter ihrer Schwiegertöchter und ihr Leben bei anderen, seit ihrem sechzehnten Lebensjahr. Auguste, der Kammerdiener, ging auf leisen Sohlen in die Küche zurück. Auf seinem feierlichen, törichten Gesicht spiegelte sich ein Ausdruck tiefer Verachtung, die vielerlei Dingen galt. Madame Péricand, diese ungemein tatkräftige Frau, verwandte die freie Viertelstunde zwischen dem Bad der Kinder und dem Abendessen darauf, Jacqueline und Bernard die Schulaufgaben abzuhören. Frische Stimmen erhoben sich: «Die Erde ist eine Kugel, die auf nichts ruht.» Im Salon blieben der alte Péricand und der Kater Albert allein zurück. Es war ein wunderbarer Tag. Das Abendlicht beleuchtete sanft die dichtbelaubten Kastanienbäume. Der Kater Albert, ein kleiner grauer Kater, der den Kindern gehörte, schien von einem Freudentaumel gepackt zu sein: er wälzte sich auf dem Rücken, auf dem Teppich. Er sprang auf den Kamin, knabberte an einer Pfingstrose in der großen nachtblauen Vase, versetzte dem aus Bronze gemeißelten Wolfsmaul an der Ecke einer Konsole einen vorsichtigen Hieb mit der Tatze, sprang dann mit einem Satz auf den Sessel des Alten und miaute in sein Ohr. Der alte Péricand streckte seine stets eiskalte, violette, zitternde Hand nach ihm aus. Der Kater bekam Angst und nahm Reißaus. Bald würde das Abendessen serviert werden. Auguste erschien, rollte den Sessel des Kranken ins Eßzimmer. Man hatte sich gerade zu Tisch gesetzt, als die Hausherrin plötzlich innehielt, den Löffel mit Jacquelines Stärkungssaft in der Hand. «Das ist euer Vater, Kinder», sagte sie beim Geräusch des sich im Schloß drehenden Schlüssels. Es war tatsächlich Monsieur Péricand, ein kleiner rundlicher Mann von sanftem, ein wenig linkischem Wesen. Sein gewöhnlich rosiges, ausgeruhtes, wohlgenährtes Gesicht war sehr blaß und wirkte nicht erschrocken oder besorgt, sondern außerordentlich erstaunt. Auf den Gesichtern von Menschen, die bei einem Unfall innerhalb weniger Sekunden den Tod gefunden haben, ohne daß sie Zeit hatten, zu leiden oder Angst zu haben, sieht man einen ähnlichen Ausdruck. Sie lasen gerade ein Buch, sahen aus dem Wagenfenster, dachten an ihre Geschäfte, gingen in den Speisewagen, und mit einem Mal befanden sie sich in der Hölle. Madame Péricand erhob sich ein wenig von ihrem Stuhl. «Adrien?» rief sie in ängstlichem Ton. «Nichts, nichts», murmelte er rasch mit Blick auf die Gesichter der Kinder, seines Vaters und der Dienstboten.mehr
Kritik
"Eines der besten Bücher, das je über die Zeit des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurde." Brigittemehr

Schlagworte

Autor

Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als "Suite française" veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.Eva Moldenhauer, 1934 in Frankfurt/Main geboren, ist seit 1964 als Übersetzerin tätig. Sie übersetzte u.a. Claude Simon, Jorge Semprun, Agota Kristof, Jean Paul Sartre und Lévi-Strauss. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. 1982 mit dem "Helmut-M.-Braem-Preis" und 1991 mit dem "Celan-Preis". 2005 wurde sie für ihre Neu-Übersetzung von Claude Simons "Das Gras" für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert.