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Zuckergässchen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
440 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am12.03.2020
Der einst stolze Herrscher der Familie, Abd al-Gawwad, verfolgt, gealtert und durch Krankheit gezähmt, das Straßentreiben vor seinem Palast. Die gute alte Zeit ist für ihn dahin und die Kinder sind längst erwachsen: Chadiga lebt glücklich verheiratet in der Zuckerstraße; Aisha hat durch Typhus ihren Mann und ihre Söhne verloren; Yasin fühlt sich bei der ehemaligen Mätresse geborgen, während Kamal seine Leiden in den Armen einer Prostituierten zu stillen sucht. Als der Zweite Weltkrieg Ägypten erreicht, beginnt auch für Abd al-Gawwads Familie eine schwierige Zeit, die zur Zerreißprobe wird.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextDer einst stolze Herrscher der Familie, Abd al-Gawwad, verfolgt, gealtert und durch Krankheit gezähmt, das Straßentreiben vor seinem Palast. Die gute alte Zeit ist für ihn dahin und die Kinder sind längst erwachsen: Chadiga lebt glücklich verheiratet in der Zuckerstraße; Aisha hat durch Typhus ihren Mann und ihre Söhne verloren; Yasin fühlt sich bei der ehemaligen Mätresse geborgen, während Kamal seine Leiden in den Armen einer Prostituierten zu stillen sucht. Als der Zweite Weltkrieg Ägypten erreicht, beginnt auch für Abd al-Gawwads Familie eine schwierige Zeit, die zur Zerreißprobe wird.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293305922
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum12.03.2020
Seiten440 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3878 Kbytes
Artikel-Nr.8862292
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1


Die Köpfe schoben sich über dem Kohlebecken zusammen, die Hände streckten sich über der Glut aus: Aminas mager und stark geädert, Aischas wie aus Stein gemeißelt, Umm Hanafis mit der Haut einer Schildkröte. Doch es gab auch ein strahlend weißes, schönes Händepaar - das von Naima. Die Januarkälte wollte sich schier als Eis im Salon festsetzen, jenem Raum, der mit den bunten Matten und den Kanapees sein altes Aussehen bewahrt hatte. Einzig die alte Gaslampe gab es nicht mehr, stattdessen strahlte elektrisches Licht von der Decke herab. Nicht nur die Kaffeerunde wurde wieder im ersten Stockwerk abgehalten, sondern alles Leben spielte sich nun unten ab, konnte doch damit dem Vater geholfen werden, dessen schwaches Herz es nicht mehr erlaubte, die steile Treppe hinaufzusteigen. Auch die anderen Mitglieder der Familie waren von tiefgehenden Veränderungen gezeichnet. Amina war abgemagert, ihr Haar leuchtete schlohweiß. Obwohl sie die sechzig noch nicht erreicht hatte, sah sie wie eine Siebzigjährige aus, was aber unerklärlich war, verglich man Aminas Zustand mit dem Aischas, der von Zusammenbruch, ja, Verfall sprach. War es zum Lachen oder zum Weinen, dass sie noch immer blondes Haar und blaue Augen hatte? Denn ihr Blick wirkte wie erloschen, ließ einen kaum glauben, dass noch Leben in ihr war. Die blasse Haut - von welcher Krankheit kündete sie? Dieses Gesicht, in dem die Knochen scharf hervortraten, die Augen in tiefen Höhlen lagen und die Wangen eingefallen waren - sollte das das Gesicht einer Frau von vierunddreißig Jahren sein? Doch da war noch Umm Hanafi, und sie schien trotz aller Bejahrtheit nichts von ihrer Kraft verloren zu haben. Beleibt wie eh und je, schob sich das Fett an Nacken und Kinn zu Polstern und Wulsten zusammen. Ihr ernster Blick aber sprach davon, wie sehr sie die stille Trauer der Familie teilte. Naima wirkte in diesem Kreis wie eine frische Rose, die an einem Grab blüht. Ein schönes Mädchen von sechzehn Jahren, und mit dem blonden Haarschopf und den blauen Augen war sie hübsch wie Aischa in ihrer Jugend, vielleicht sogar noch reizvoller. Doch zart und schlank gewachsen, hatte sie etwas vom durchscheinenden Wesen eines Gespensts. Die Augen blickten sanft und träumerisch drein, sprachen von Unschuld und Naivität, als fühlte sie sich fremd in dieser Welt. Sie schmiegte sich an ihre Mutter, wollte sich keinen Moment von ihr trennen.

Umm Hanafi rieb die Hände über dem Kohlebecken und sagte: »In dieser Woche werden die Bauleute fertig, nach anderthalb Jahren.«

»Das Haus von Amm Bajumi, einem Saftverkäufer«, machte sich Naima lustig.

Aischa blickte kurz auf, ohne aber etwas zu bemerken. Seit Langem war bekannt, dass das Haus, das einst Herrn Mohammed Radwan gehörte, abgerissen werden sollte und Amm Bajumi ein neues, vierstöckiges bauen wollte. Alte Erinnerungen stiegen auf - Marjam und Jasin, und wo mochte Marjam heute sein? Marjams Mutter und Amm Bajumi, der es teils durch Erbschaft, teils mit Geld geschafft hatte, als einfacher Saftverkäufer sich des Hauses zu bemächtigen. Damals - das waren noch Zeiten, die es lohnte zu leben, Tage, in denen das Herz noch sorglos schlug.

»Das Schönste, meine Herrin«, fuhr Umm Hanafi fort, »ist das neue Geschäft von Amm Bajumi, mit Säften, Eis und Süßigkeiten, und alles ist voller Spiegel und elektrischer Lampen, und das Radio spielt Tag und Nacht. O weh, die anderen, Friseur Hassanein, Bohnenverkäufer Darwisch, Milchmann al-Fuli, Röstereibesitzer Abu Sari, sie alle stehen in ihren schäbigen Läden und starren zum Geschäft und Haus ihres alten Kameraden hinüber.«

Amina zog das Tuch straffer über die Schultern. »Dank deinem Gott, dass er dir genügend Gutes tut.«

Naima umschlang ihre Mutter mit den Armen. »Das Gebäude versperrt von einer Seite die Dachterrasse; wenn da lauter Leute wohnen, wie sollen wir dann noch oben sitzen und plaudern?«

Um Aischa zu schonen, wollte Amina die Frage der Enkelin nicht einfach überhören, und so erwiderte sie: »Was gehen dich die neuen Bewohner an? Tu einfach das, was dir gefällt.« Sie schaute verstohlen zu Aischa hinüber, um zu sehen, wie diese die wohlwollende Antwort aufnahm. Es war, als fühlte sie vor lauter Angst um Aischa schon wieder Furcht vor ihr. Aber Aischa war damit beschäftigt, in den Spiegel über der Anrichte zu schauen, die zwischen dem Zimmer des Vaters und ihrem stand. Noch immer besah sie sich gern in Spiegeln, auch wenn es sinnlos geworden war. Im Verlauf der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, vor dem ausgemergelten Gesicht nicht mehr zu erschrecken. Wann immer eine innere Stimme sie nach der Aischa von einst fragte, fiel als Antwort die Gegenfrage, wo denn Mohammed, Othman und Chalil geblieben seien. Wenn Amina Aischa beobachtete, verkrampfte sich ihr Herz, und es dauerte nicht lange, da spürte auch Umm Hanafi Beklemmung, gehörte sie doch so sehr zur Familie, dass deren Sorgen auch sie bedrückten.

Naima erhob sich und ging zum Radio, das zwischen Salon und Esszimmer stand. Sie stellte es an und sagte: »Jetzt kommt Schallplattenmusik, Mama.«

Aischa zündete sich eine Zigarette an und zog heftig. Amina sah dem Rauch nach, der über dem Kohlebecken als kleines Wölkchen schwebte. Im Radio sang jemand: »Gefährten aus schönen Zeiten, wie gern säh ich euch wieder â¦«

Naima kehrte auf ihren Platz zurück, strich sich das Kleid glatt. Wie ihre Mutter, damals, in unbekümmerten Tagen, liebte auch sie den Gesang. Sie verstand, genau hinzuhören, sich die Melodie zu merken und sie mit hübscher Stimme wiederzugeben. Dieses Vergnügen wurde nicht durch die tiefe Gläubigkeit gedämpft, die ansonsten all ihr Fühlen beherrschte. Sie betete mit Eifer, hielt seit dem zehnten Lebensjahr das Fasten im Ramadan streng ein, sann verträumt über die Welt des nicht Fassbaren nach und stimmte mit übergroßer Freude zu, wenn die Großmutter sie zum Besuch der Grabstätte al-Hussains einlud. Trotzdem hätte sie nie aufs Singen verzichten wollen, und wann immer sie allein war, in ihrem Zimmer oder im Bad, tat sie es auch.

Aischa war mit allem einverstanden, was ihre Tochter, das einzige Licht der Hoffnung am dunklen Horizont, machte. Sie bewunderte ihre tiefe Gläubigkeit ebenso wie ihren Gesang, und auch in ihrer Anhänglichkeit, die grenzenlos zu sein schien, ermunterte sie sie; sie mochte es so sehr, dass sie keinerlei Bemerkung darüber ertragen konnte. Überhaupt vertrug Aischa keine Kritik, selbst wenn es dabei um Belangloses ging und in bester Absicht geäußert wurde. Dabei bot sie viel Anlass zu Unmut, denn sie tat nichts im Haus, hockte nur herum, trank Kaffee und rauchte. Bat die Mutter sie tatsächlich einmal um Hilfe, und zwar nicht so sehr, weil sie sie brauchte, sondern um Aischa aus ihren Grübeleien herauszureißen, dann reagierte sie verärgert und sprach den schon berühmten Satz: »Uff, lass mich in Ruhe!«

Auch Naima durfte keine Hand rühren, als fürchtete Aischa bei der geringsten Bewegung um sie. Wäre es möglich gewesen, statt ihrer zu beten, hätte es Aischa, um ihr die Mühe zu sparen, getan. Wie oft hatte die Mutter darüber schon mit ihr gesprochen, auch gesagt, dass Naima eine »Braut« sei und sich deshalb mit den häuslichen Pflichten vertraut machen müsse. Aber auf so etwas erwiderte Aischa nur mit deutlichem Unwillen: »Siehst du nicht, dass sie zart wie ein Gespenst ist? Meine Tochter verträgt keine Anstrengung, also lass sie in Frieden. Sie ist mein einziger Trost in dieser Welt.«

Amina beharrte nicht auf ihrer Meinung. Mit Trauer im Herzen bangte sie um Aischa, und wenn sie sie betrachtete, sah sie in ihr die fleischgewordene Enttäuschung aller Hoffnungen. Beim Anblick dieses unglücklichen Gesichts, das nur noch von der Sinnlosigkeit des Lebens sprach, wurde ihre Seele von tiefem Kummer ergriffen. Deshalb vermied sie es, Aischa zu behelligen, wie sie sich auch daran gewöhnte, großzügig alle Grobheiten und bissigen Bemerkungen zu überhören.

Noch immer tönte die Stimme im Radio: »Gefährten aus schönen Zeiten â¦« Aischa rauchte und hörte zu. Sie liebte dieses Lied von jeher. Aller Schmerz, alle Verzweiflung hatten ihr die Melodie nicht verleiden können, ja, vielleicht erfasste sie sie erst jetzt richtig, weil unendliche Trauer, unermessliches Leid darin mitschwangen. Daran änderte auch das Wissen nichts, dass keine Macht der Welt imstande war, die Gefährten aus guter alter Zeit zurückzubringen. Zuweilen fragte sich Aischa sogar, ob es die gute alte Zeit überhaupt gegeben hatte, ob nicht alles ein Traum, ein Wahn gewesen war. Wo war das von lustigem Treiben erfüllte Haus? Wo der gütige Gatte? Wo Othman? Wo Mohammed? Sollten wirklich nur acht Jahre vergangen sein?

Amina fand selten Gefallen an solchen Liedern. Ihrer Meinung nach bestand der Nutzen eines Radios zuallererst darin, dass ihr die Möglichkeit geboten wurde, die Koran-Rezitation und die Nachrichten zu hören. Die schwermütigen Lieder machten sie traurig, und sie bekam Angst, wenn Aischa ihnen immer wieder lauschte. Ja, eines Tages hatte Amina sogar Umm Hanafi gefragt: »Findest du nicht auch, dass das wie eine Totenklage klingt?« Da all ihre Sorge Aischa galt, kümmerte sie sich nur wenig um sich selbst, zum Beispiel um die Beschwernisse, die ihr der Blutdruck verursachte. Ihre einzige Freude bestand darin, die Grabstätte al-Hussains und anderer Heiliger aufzusuchen. Dank der Großzügigkeit des Herrn Gemahls, der ihr den Ausgang nicht mehr verbot, durfte sie ganz nach Belieben die Gotteshäuser aufsuchen. Doch sie war...


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Autor

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt