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Jahreszeit der Steine

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
338 Seiten
Deutsch
C.H. Beckerschienen am16.02.2023
Ein allzu frühes Erwachen im dörflichen Zuhause, der kleine Sohn des Ich-Erzählers liegt quer im Bett zwischen den Eltern - die tägliche Routine setzt ein, aber eine Spannung liegt in der Luft, das Paar mit seinen drei kleinen Kindern schweigt sich an, im Laufe des Tages baut sich immer mehr Druck auf, der sich einfach entladen muss. Doch wohin wird das führen? André Hilles Roman 'Jahreszeit der Steine' erzählt einen einzigen Tag von morgens bis Mitternacht, ein Tag voller Arbeit, Erledigungen, Kontakten, Auseinandersetzungen, Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Ein Tag voller Anspannung. Jeder Tag birgt ein ganzes Leben. Mit seinen Höhen und Tiefen, Ereignissen und Begegnungen, den Bildern und Überlegungen, die hervorgerufen werden. Konfrontiert mit den Wünschen und Eigenheiten der Kinder, die zärtlich und liebevoll beschrieben werden, erinnert sich der Erzähler an seine eigene, schwierige Kindheit im Osten, fragt sich, was es heißt, ein guter Vater zu sein und woher die Konflikte mit seiner Frau Levje rühren. Gedankenreich und berührend, entwaffnend ehrlich, gelegentlich zornig, dann wieder komisch, aber immer von einer geradezu magischen Präzision - 'Jahreszeit der Steine' ist ein Gegenwartsroman, der einen noch lange beschäftigt.

André Hille geboren 1974, gründete die "Textmanufaktur", heute eine der führenden Autorenschulen im deutschsprachigen Raum. Zehn Jahre lang unterrichtete er Kreatives Schreiben, u.a. an den Universitäten Leipzig und Saarbrücken und am mediacampus Frankfurt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Fischerhude. Im Herbst 2020 erschien sein erster Roman "Das Rauschen der Nacht".
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextEin allzu frühes Erwachen im dörflichen Zuhause, der kleine Sohn des Ich-Erzählers liegt quer im Bett zwischen den Eltern - die tägliche Routine setzt ein, aber eine Spannung liegt in der Luft, das Paar mit seinen drei kleinen Kindern schweigt sich an, im Laufe des Tages baut sich immer mehr Druck auf, der sich einfach entladen muss. Doch wohin wird das führen? André Hilles Roman 'Jahreszeit der Steine' erzählt einen einzigen Tag von morgens bis Mitternacht, ein Tag voller Arbeit, Erledigungen, Kontakten, Auseinandersetzungen, Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Ein Tag voller Anspannung. Jeder Tag birgt ein ganzes Leben. Mit seinen Höhen und Tiefen, Ereignissen und Begegnungen, den Bildern und Überlegungen, die hervorgerufen werden. Konfrontiert mit den Wünschen und Eigenheiten der Kinder, die zärtlich und liebevoll beschrieben werden, erinnert sich der Erzähler an seine eigene, schwierige Kindheit im Osten, fragt sich, was es heißt, ein guter Vater zu sein und woher die Konflikte mit seiner Frau Levje rühren. Gedankenreich und berührend, entwaffnend ehrlich, gelegentlich zornig, dann wieder komisch, aber immer von einer geradezu magischen Präzision - 'Jahreszeit der Steine' ist ein Gegenwartsroman, der einen noch lange beschäftigt.

André Hille geboren 1974, gründete die "Textmanufaktur", heute eine der führenden Autorenschulen im deutschsprachigen Raum. Zehn Jahre lang unterrichtete er Kreatives Schreiben, u.a. an den Universitäten Leipzig und Saarbrücken und am mediacampus Frankfurt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Fischerhude. Im Herbst 2020 erschien sein erster Roman "Das Rauschen der Nacht".
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406799921
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum16.02.2023
Seiten338 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1121 Kbytes
Artikel-Nr.10720390
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Entfernte Wärme


In mein Bewusstsein dringt ein angenehmer Ton, der eine unangenehme Empfindung in mir auslöst, etwas Fernes, auf das ich konditioniert bin, ich weiß nur noch nicht genau, was, ich komme gleich drauf, wenn er nur aufhören würde, der Ton, aber er hört nicht auf, und deswegen komme ich drauf: Es ist eine ansteigende Harfenmelodie, die angenehmste, die wir unter Apples Vorschlägen für einen Weckton finden konnten und die doch hinter ihrer sanft anmutenden Tonfolge die Grausamkeit der Erkenntnis, dass der Schlaf zu Ende ist, obwohl er doch gerade erst begonnen hat, nur schlecht verbergen kann. Ich höre, wie Levje sich bewegt, sie dreht sich um, die Decke raschelt, sie drückt auf die Schlummerfunktion, zehn Minuten Ruhe, noch einmal zurücksinken in die Bilder des Traumes: Ich mit Levje in einem Haus, ungewohnt viel Liebe zwischen uns, der Plan eines Umzugs, eines Aufbruchs steht im Raum. Gerade will ich mit ihr darüber sprechen, dass ich mir ein viertes Kind wünsche. Mich überkam im Traum eine plötzliche Sehnsucht nach einem weiteren Kind, für einen Moment stand mir die gesamte Existenz des vierten Kindes vor Augen, und ich war der festen Überzeugung, dass, wenn wir das Kind nicht bekommen, wir diese Existenz verhindern würden, und gerade hatte ich mich dazu durchgerungen, meinen Wunsch mit Levje zu teilen, in dem Wissen, wie freudig erregt sie jedes Mal gewesen war, wenn wir uns dazu entschlossen hatten, ein Kind zu bekommen, doch es war noch jemand im Haus, ein anderes Paar, eine andere Frau, die meine Nähe suchte und mich in einer ruhigen Minute in eine Ecke drückte und küsste, leidenschaftlich und lange und ohne, dass ihr Freund oder Levje daran Anstoß genommen hätten, und derart erotisiert war ich nun erst recht bereit dazu, ein weiteres Kind zu zeugen.

Doch dann kam die Harfe. Die Harfe kommt immer im falschen Augenblick.

Ich setze mich auf, um Levje zu signalisieren, dass ich wach bin. Es ist eine Abmachung zwischen uns: Sie kümmert sich nachts um die Kinder, dafür stehe ich morgens als Erster auf, doch heute bleibe ich, benommen von der kurzen Nacht, auf der Bettkante sitzen. Draußen heult der Wind um den Giebel, es ist kalt im Schlafzimmer, und was ich abends als angenehme Klarheit empfinde, nach dem gemeinsamen Sitzen im stickigen Wohnzimmer in ein kühles, gut gelüftetes Schafzimmer zu kommen, führt morgens zu einem fröstelnden Widerstand, in diesen Tag hinauszugehen. Ich sitze auf der Bettkante und versuche noch einmal, in den Traum zurückzufinden, zu dem Kuss der fremden Frau, dem Wunsch nach einem weiteren Kind, dieser ganzen euphorischen Stimmung des Aufbruchs, doch ich laufe nur noch durch Trümmer. Natürlich wäre es Wahnsinn, ein weiteres Kind zu bekommen, das hielten wir nicht durch. Mir kommt die Begegnung mit einer Nachbarin vor ein paar Tagen in den Sinn, sie wohnt weiter unten im Dorf, die unerwartet mit Mitte vierzig zum fünften Mal schwanger wurde. Das Kind starb während der Geburt, all das ist Jahre her, doch als sie mir davon erzählte, sagte sie mit tonloser Stimme, ein weiteres Kind hätte die Familie nicht verkraftet. Einer von beiden hätte die Existenz beenden müssen: die Familie oder das fünfte Kind. Während ich müde auf der Bettkante sitze, findet ein Kampf auf Leben und Tod in mir statt, in mir kämpfen Existenzen gegeneinander, die meiner Familie gegen die des ungeborenen Kindes, nein, nicht Existenzen, Schatten, Gedanken, es ist nichts als ein Spuk, ich kann all das mit einer Bewegung meines Körpers hinwegwischen.

Die Geister zurücklassen und den Tag bewältigen.

Ich sitze schon viel zu lange hier, und in mir regt sich, wie jeden Morgen, die Wut gegen dieses System, denn irgendein System muss es sein, dessen Wirkung allmorgendlich in unser Schlafzimmer hineinreicht, sonst würde ich jetzt nicht hier auf der Bettkante sitzen. So lange wie möglich hier zu sitzen, ist meine schärfste Form des Widerstands. Die Bettkante ist der Frontverlauf in diesem Krieg, meine Füße stehen schon auf feindlichem Terrain. Ich frage mich, ob es das System wirklich gibt, und wer genau es repräsentiert, oder ob es nicht nur die in meinen Körper eingeschriebenen Routinen meiner Kindheit sind, gegen die ich opponiere. Meine Mutter weckte mich früh, gegen fünf, halb sechs, und ich saß lange mit durchgestreckten Armen auf der Bettkante und ignorierte ihre Rufe, nicht aus Böswilligkeit, sondern weil ich nicht in der Lage war zu reagieren. Ich kann nicht unterscheiden zwischen dem System in mir und dem Realen, ich weiß nicht, was wahr ist und was nicht, ich stoße allmorgendlich an die Grenzen meiner Beurteilungsfähigkeit. Aber doch, es gibt Zeichen für seine Existenz. Wenn ich über die alte Grenze fahre, bei Gartow und Aulosen oder bei Helmstedt, sehe ich den Grenzturm, den Todesstreifen, die hundert Meter breite Schneise im Wald, ich sehe, wie sich die Straßendecke ändert und der Baumbestand und die Farbe der Häuser, und jedes Mal wieder sage ich dann zu Levje oder, nach hinten gewandt, zu den Kindern: Mensch, hier war die Grenze, unvorstellbar. Ich fahre hinein ins Altmärkische, das uns mit zwei Schildern begrüßt: Auf Wiedersehen Niedersachsen und Willkommen im Land der Frühaufsteher, und dann fühle ich mich darin bestätigt, dass irgendjemand ein Interesse daran hat, dass wir früh aufstehen, als sei das frühe Aufstehen eine Leistung an sich, ein erstrebens- und lobenswerter Zustand, der die Bevölkerung in zwei Arten Menschen unterteilt, die Frühaufsteher und - ja, wen eigentlich?

Sieben Uhr zehn. Levje muss wieder eingeschlafen sein, sonst hätte sie längst etwas gesagt. In spätestens fünfunddreißig Minuten muss ich mit Alma im Auto sitzen. Ich gebe den Kampf verloren und gehe hinunter ins Wohnzimmer. Polly liegt eingerollt in ihrem Korb, hebt nicht einmal den Kopf. An anderen Tagen steht sie schon vor der Tür, wedelt mit dem Schwanz und schaut mich erwartungsvoll an. Im Wohnzimmer sind achtzehn Grad. Obwohl die Fußbodenheizung die ganze Nacht durchheizt, hat sie in der Übergangszeit manchmal Probleme, den Raum zu erwärmen. Es riecht nach kaltem Rauch. Das kommt vom offenen Kamin. Wir hatten ihn gestern an, wie fast jeden Abend im aufkommenden Herbst, doch der Zug im Schlot zieht die Raumluft die ganze Nacht über nach draußen. Am Morgen bleibt nur der Geruch nach kaltem Rauch. Entfernte Wärme.

Ich schalte erst das kleine Küchenlicht an, um meine Augen an die Helligkeit zu gewöhnen, dann den Kippschalter der Kaffeemaschine, damit sie aufheizen kann, dann erst gehe ich ins Bad, checke auf der Toilette meine Mails, schaue in drei Apps, wie das Wetter wird, überfliege Instagram und Facebook. Isabel erzählt von den Erfahrungen bei einem Dreier, wer wann kommt, wer wem dabei zuschaut, Franziska ergänzt im Kommentar das Wort Dauerrausch. WhatsApp, Telegram, Signal. Eine Nachricht in der Männergruppe. Wir sind mitten in der Diskussion über einen Künstler, den wir auf Instagram entdeckt haben. Auf die letzte Frage, was mir an ihm gefalle, hatte ich noch nicht geantwortet. Ich tippe rasch: Vor allem die Farbigkeit. Ausgewogen, reduziert, aber trotzdem komplex. Diese Unschärfe erzeugt ein angenehmes Flirren, als würde etwas bei zusammengekniffenen Augen in der Sonne verschwimmen. Und dann noch der mitgemalte Rand - das Bild stellt seine eigene Bildhaftigkeit aus. Ich überfliege die Schlagzeilen von SPON, ZEIT, FAZ und ntv, meine Augen sind Krähen, sie jagen über die Zeilen und picken sich die schmackhaftesten Brocken aus dem Textfeld heraus. Ich muss schon lange keinen ganzen Artikel mehr lesen, um die wesentliche Information zu finden. Mein Denken kommt langsam in Gang, ein Schwungrad, auf das unmittelbar sämtliche Kräfte wirken, getrieben von der Frage, ob der Weltuntergang in der Nacht stattgefunden hat oder kurz bevorsteht. Aber nein. Das Übliche. Das meiste habe ich schon in der Nacht gehört, im Schlaf oder halb wach, morgens fällt es mir dann wieder ein. Es gab eine Zeit in meinem Leben, gut vier Monate, da lebte ich ohne Nachrichten. Ich überwinterte auf den Kanaren, Handys hatten noch Tasten, das Internet quälte sich durch ein 56-K-Modem, und Schröder war Kanzler. Die letzte Schlagzeile im November, als ich abflog, galt ihm, und als ich im Februar wieder in Deutschland landete und zum ersten Mal einen Blick auf die Nachrichten warf, war wieder Schröder auf der Titelseite, mit einem ähnlichen Bild und unter einer ähnlichen Überschrift. Mein Erstaunen darüber, wie wenig in dieser Zeit tatsächlich passiert war, ging einher mit einer Enttäuschung darüber, dass die Überwältigung durch etwas Unerhörtes,...
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André Hille geboren 1974, gründete die "Textmanufaktur", heute eine der führenden Autorenschulen im deutschsprachigen Raum. Zehn Jahre lang unterrichtete er Kreatives Schreiben, u.a. an den Universitäten Leipzig und Saarbrücken und am mediacampus Frankfurt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Fischerhude. Im Herbst 2020 erschien sein erster Roman "Das Rauschen der Nacht".