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Der Schrei des Löwen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Carlsen Verlag GmbHerschienen am21.03.2011Auflage
Der 16-jährige Yoba und sein kleiner Bruder Chioke leben als Straßenkinder in Nigeria. Als Yoba einen Auftrag für den örtlichen Gangsterboss erledigt und plötzlich in den Besitz einer Tasche mit Geld gelangt, ist das ihre große Chance: Sie fliehen und lösen bei einem Menschenschleuser ein Ticket nach Europa. Wie so viele andere wollen sie es auf eines der Flüchtlingsboote nach Sizilien schaffen. Doch der Weg dorthin ist lang - und viel gefährlicher als gedacht.

Ortwin Ramadan ist Halb-Ägypter und wurde 1962 in Aachen geboren. Er lebt am Ammersee und arbeitet seit seinem Politik- und Ethnologiestudium als Drehbuchautor und freier Autor.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR8,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextDer 16-jährige Yoba und sein kleiner Bruder Chioke leben als Straßenkinder in Nigeria. Als Yoba einen Auftrag für den örtlichen Gangsterboss erledigt und plötzlich in den Besitz einer Tasche mit Geld gelangt, ist das ihre große Chance: Sie fliehen und lösen bei einem Menschenschleuser ein Ticket nach Europa. Wie so viele andere wollen sie es auf eines der Flüchtlingsboote nach Sizilien schaffen. Doch der Weg dorthin ist lang - und viel gefährlicher als gedacht.

Ortwin Ramadan ist Halb-Ägypter und wurde 1962 in Aachen geboren. Er lebt am Ammersee und arbeitet seit seinem Politik- und Ethnologiestudium als Drehbuchautor und freier Autor.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783646921236
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2011
Erscheinungsdatum21.03.2011
AuflageAuflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse988 Kbytes
Artikel-Nr.1021332
Rubriken
Genre9201
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Inhalt/Kritik

Leseprobe



2.

Adaeke kauerte vor dem Lehmofen und legte ein Stück Wurzelholz in das aufflackernde Feuer. Wie die meisten Mädchen in Westafrika trug sie ein farbenfrohes, mit traditionellen Stammesmustern bedrucktes Kleid. Ihr Haar war von einem kunstvoll arrangierten Kopftuch bedeckt, dessen leuchtendes Gelb sorgfältig auf das Grün-Schwarz des knöchellangen Kleides abgestimmt war. Sie warf ein weiteres Holzstück in die Flammen und hatte Mühe, mit ihrem verletzten Bein wieder aufzustehen. Ihre Mutter war wie jeden Freitagmorgen mit dem Moped-Taxi zum Markt gefahren, und solange sie fort war, trug Adaeke die Verantwortung für das Geschäft.

Ihre mit Brettern überdachte Straßenküche stand unter einer großen Werbetafel für eine einheimische Biermarke, auf der ein junges und vor Glück strahlendes afrikanisches Pärchen den Passanten verheißungsvoll entgegenlächelte. Die Garküche selbst bestand lediglich aus dem Lehmherd, einem großen, zerbeulten Aluminiumtopf und zwei schiefen Plastiktischen samt Kisten zum Sitzen. Diese ärmliche Ausstattung tat der Beliebtheit der Küche jedoch keinen Abbruch, was nicht zuletzt an Mama Kambinas Kochkunst lag. Manche behaupteten, ihre Bitterblatt-Suppe sei die schärfste der Stadt, was in Nigeria durchaus als Kompliment zu verstehen war. Soweit Adaeke wusste, stammte die Rezeptur von ihrer Ur-Ur-Großmutter, und über das Geheimnis der Zutaten wachte ihre eigene Mutter ebenso eifersüchtig wie über die Jungfräulichkeit ihrer Tochter.

Adaeke warf eine Handvoll Chilischoten und ein mittelgroßes Stück Räucheraal in den riesigen Topf auf dem Herd. Anschließend rührte sie mit einem Holzlöffel um. Noch war die dickflüssige Suppe lauwarm. Aber das war kein Problem. Die meisten ihrer Kunden waren Besucher des gegenüberliegenden Gefängnisses und das öffnete seine Tore ohnehin erst am späten Vormittag. Vorausgesetzt natürlich, man verfügte über das nötige Bestechungsgeld für die Wärter. Plötzlich riss sie eine gut gelaunte Stimme aus ihren Gedanken.

»Guten Morgen, du schönste aller Blumen Afrikas!«

Adaeke stieß vor Schreck einen Schrei aus und fuhr herum. Hinter ihr standen zwei verdreckte Jungen in zerrissenen Hosen. Es waren Yoba und sein kleiner Bruder.

»Müsst ihr mich so erschrecken?«, schimpfte Adaeke. Dabei fuchtelte sie mit dem übergroßen Holzlöffel in der Luft herum.

»Tut mir leid«, erwiderte Yoba und setzte seine beste Unschuldsmiene auf. »Aber Chioke und ich haben Hunger.«

»Ach ja? Und was geht mich das an?« Adaeke rammte den Löffel zurück in den Topf und rührte zornig darin herum. »Außerdem ist die Suppe noch nicht heiß. Ich habe gerade erst Feuer gemacht.«

»Hast du noch Schmerzen in deinem Bein?«, erkundigte sich Yoba. »Hat die Polizei den Okada-Fahrer gefunden?«

»Machst du dich etwa lustig über mich?« Adaeke hörte mit dem Rühren auf. Gleichzeitig warf sie einen schuldbewussten Blick über die Schulter. »Ich erzähle euch was. Aber ihr müsst mir versprechen niemandem etwas davon zu sagen. Vor allem meiner Mutter nicht!«

»Keine Sorge.« Yoba knuffte seinen Bruder in die Seite. »Der hier kriegt den Mund sowieso nicht auf.«

Er setzte sich an einen der Tische. Adaeke wischte sich die Hände an einem schmutzigen Tuch ab und beugte sich zu ihm hinunter. »Ich war in der Kirche«, raunte sie geheimnisvoll.

»Na und?« Yoba wunderte sich. »Was soll daran so besonders sein?«

Erneut sah sich Adaeke hastig um. Dann flüsterte sie: »Da habe ich zu Jesus gebetet, damit der Fahrer einen Unfall hat. Er soll genauso viele Schmerzen haben wie ich!«

Nach diesem Geständnis rührte Adaeke weiter in der Suppe und wirkte irgendwie zufrieden. Yoba hingegen konnte seine Verwunderung kaum verbergen. Wenn er den Pfarrer in seinem Dorf richtig verstanden hatte, flehten Christen den Heiland um Beistand an. Nicht, um jemandem zu schaden.

»Das wirkt ganz sicher!«, versicherte Yoba seiner Freundin mit dem gebührenden Ernst. »Der Mann wird bestimmt einen Unfall haben.« Nebenbei linste er in den Topf. »Wann ist die Suppe denn fertig?«

Adaeke verdrehte die Augen. Sie ging zu einem mit Wasser gefüllten Eimer und nahm zwei bunte Plastikschüsseln heraus. Erst jetzt sah man, dass sie schwer hinkte. Ein betrunkener Okada-Fahrer hatte ihr am Unabhängigkeitstag das Knie zertrümmert. Während Adaeke blutend auf der Straße gelegen hatte, war der Mann einfach in Schlangenlinien davongefahren. Yoba und Chioke waren zufällig Zeuge gewesen und hatten Adaeke geholfen, bis jemand einen Transport ins Krankenhaus organisiert hatte. Auf diese Weise hatten sie sich kennengelernt.

Mit gekonntem Schwung löffelte Adaeke die Suppe in die beiden Plastikschüsseln und stellte sie auf den schiefen Tisch. »Guten Appetit!«

Yoba ließ sich nicht zweimal bitten. Nachdem Chioke neben ihm Platz genommen hatte, fielen sie wie ausgehungerte Raubtiere über den ebenso köstlichen wie scharfen Suppeneintopf her. Mit bloßen Fingern fischten sie die verschiedenen Fisch- und Fleischeinlagen heraus, und als Adaeke ihnen noch dazu einen Kloß aus Maniokmais auf den Tisch legte, fühlten sich die Brüder endgültig wie im Paradies. Yoba riss mit zittrigen Händen ein Stück aus dem weißen Teig, formte eine Kugel und tunkte sie in die Schüssel. Dann biss er hinein. Die curryfarbene Suppe tropfte ihm aus den Mundwinkeln und er spürte, wie sein leerer Bauch in Erwartung der ungewohnten Nahrung rebellierte. Magenkrämpfe schüttelten ihn, aber als die ersten Bissen den geschrumpften Magen zu weiten begannen, durchflutete ihn eine wunderbare Wärme. Yoba fühlte sich wie neugeboren.

»Mehr!« Chioke hatte seine Schüssel bereits leer gegessen und hielt sie Adaeke hin.

»Sei nicht so gierig!«, schalt ihn Yoba mit vollem Mund. »Sonst hast du später nur Bauchweh!«

»Schon gut«, entgegnete Adaeke. »Lass ihn.« Sie nahm Chioke die Schüssel aus der Hand. Kaum war sie wieder gefüllt, riss er die Schale wortlos an sich und vergrub sein Gesicht erneut in dem köstlichen Essen. Adaeke setzte sich auf eine geflickte Holzkiste und sah dabei zu, wie Chioke die Suppe in sich hineinschlang.

»Seit wann ist dein Bruder eigentlich so?«, fragte sie Yoba stirnrunzelnd. »Ich habe nie gehört, dass Chi-Chi mehr als zwei Wörter sagt.«

»Da ist mal was passiert«, wich Yoba aus und stopfte eine weitere Maniokkugel in sich hinein. »Vorher war es nicht so schlimm.«

Entgegen seiner Hoffnung ließ Adaeke jedoch nicht locker. »Was ist denn passiert?«, bohrte sie weiter. »Nun sag schon! Ich erzähle es auch keinem weiter!«

Yoba schob Adaeke seine Schüssel hin. »Kann ich auch noch was haben?«

Adaeke sah ihn prüfend an. Endlich nahm sie die Plastikschüssel und humpelte zu dem Topf. »Ich hoffe nur, meine Mutter erfährt nie etwas davon«, stöhnte sie. »Sonst muss ich für meine Gutmütigkeit ewig büßen!«

»Keine Angst. Wenn ich meinen Onkel gefunden habe, zahle ich alles zurück«, verkündete Yoba großzügig. »Ich halte mein Wort.«

»Ist dein Onkel denn reich?«

»Klar«, erwiderte Yoba mit einer großspurigen Geste. »In Europa ist doch jeder reich.«

»Dein Onkel ist in Europa?« Adaeke war überrascht. Gleichzeitig war sie skeptisch. »Und wo da?«

Yoba angelte sein Notizbuch aus der Hose und entnahm ihm ein sorgfältig zusammengefaltetes Stück Papier. Seine kranke Mutter hatte ihm den Zettel auf dem Sterbebett zugesteckt und geflüstert, ihr ausgewanderter Zwillingsbruder Abeche würde sich um sie kümmern. Anscheinend ahnte sie, was nach ihrem Tod geschehen würde.

Yoba faltete das Papier vorsichtig auseinander und strich es behutsam glatt. Auf ihm stand nur ein einziges Wort: HAMBURG.

»Wo soll das denn sein?«, erkundigte sich Adaeke. Sie konnte nicht lesen. Ihre Mutter hatte sich das Schulgeld nie leisten können.

Yoba zuckte mit den Achseln. »Das ist irgendein Ort in Europa. Mehr weiß ich auch nicht«, schmatzte er mit vollem Mund. »Auf jeden Fall werde ich meinen Onkel bald besuchen.«

»Du willst nach Europa?«, empörte sich Adaeke. »Du bist verrückt! Und was wird aus Chi-Chi?«

Yobas Bruder leckte sich völlig in sich versunken die Finger ab. Wie immer schien er nichts von dem mitzubekommen, was um ihn herum geschah.

»Wenn ich gehe, nehme ich Chi-Chi mit«, erklärte Yoba seelenruhig. »Wer weiß, vielleicht finde ich sogar einen Doktor, der ihn wieder gesund machen kann. Europäische Ärzte sind viel besser als unsere!«

Adaeke lachte. »Pah! Weißt du überhaupt, wie viel die Reise nach Europa kostet? Woher soll ein zerlumpter Straßenjunge wie du schon Dollars oder Euros nehmen!«

»Bald verdiene ich genug Dollars und Euros!«, erklärte Yoba lässig. »Irgendwann gibt mir Big E eine Chance. Du wirst schon sehen!«

»Ach ja?«, schimpfte Adaeke. »Ich kann dir genau sagen, wie diese Chance aussieht: Big E schickt dich als Pick Pocket auf die Straße und früher oder später erwischen sie dich. Dann stecken sie dich da drüben ins Gefängnis.« Adaeke zeigte auf den hässlichen, mit Stacheldraht gesicherten Bau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Es ist besser, ihr beiden kehrt in euer Dorf zurück«, sagte sie mit strenger Miene.

»Das können wir nicht«, erwiderte Yoba, während er auf einer gegarten Schnecke herumkaute. Sie schmeckte göttlich.

»Und weshalb nicht?«, erkundigte sich Adaeke. »Habt ihr was angestellt?«

Yoba schüttelte den Kopf. »Es ist wegen meinem Vater.« Er zögerte. »Und wegen Chi-Chi«, fügte er leise hinzu.

Yoba mochte Adaeke. Er mochte ihre hohen Wangenknochen und er fand, sie war das hübscheste Mädchen, dem er jemals...


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