Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Gott fährt Fahrrad

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am13.02.2012Auflage
Maarten 't Hart zeichnet voller Liebe das Porträt seines Vaters, eines wortkargen Mannes, der als Totengräber auf dem Friedhof seine Lebensaufgabe gefunden hat. Er ist ebenso fromm wie kauzig, ebenso bibelfest wie schlitzohrig. Die Allgegenwart des Todes prägte die Kindheit des Erzählers. Und so ist dieses heiter-melancholische Erinnerungsbuch ein befreiender und zugleich trauriger Versuch, einigen Wahrheiten auf den Grund zu kommen.

Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Werke machen ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextMaarten 't Hart zeichnet voller Liebe das Porträt seines Vaters, eines wortkargen Mannes, der als Totengräber auf dem Friedhof seine Lebensaufgabe gefunden hat. Er ist ebenso fromm wie kauzig, ebenso bibelfest wie schlitzohrig. Die Allgegenwart des Todes prägte die Kindheit des Erzählers. Und so ist dieses heiter-melancholische Erinnerungsbuch ein befreiender und zugleich trauriger Versuch, einigen Wahrheiten auf den Grund zu kommen.

Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Werke machen ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492954044
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum13.02.2012
AuflageAuflage
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3193 Kbytes
Artikel-Nr.1022025
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Auf dem Hafenkai

Während der Feiertage im Dezember begann ich, von Schiffen zu träumen, die sich lautlos vom Kai entfernten, bevor ich hätte an Bord gehen können. Wenn ich aufwachte, wußte ich, daß mit mir irgend etwas nicht stimmte, aber was es war, konnte ich nicht sagen. Jeden Abend, kurz nach acht, wurde ich unruhig, und die Schiffe trieben mich auf die Straße, wo ich dann mindestens eine Stunde lang herumlief. Dieses Herumlaufen brachte weder Klarheit darüber, was mich beschäftigen mochte, noch die geringste Vorstellung dessen, was mir fehlte. Ich hatte das absurde Gefühl, daß ich es nur herausbekommen könnte, wenn ich, mit dem Geruch von Mehl und Teeröl in der Nase, wieder einen Hafenkai entlanggehen würde.

Einen Tag nach dem Jahreswechsel besuchte ich meine Mutter, um ihr ein gutes neues Jahr zu wünschen. Ich kam am späten Nachmittag bei ihr an, aß mit ihr und wunderte mich über das nagende Glücksgefühl. Alles schien unverändert, das machte mich glücklich, die Uhr tickte mit derselben Nachdrücklichkeit wie früher, und jeden Augenblick konnte die Tür aufgehen, um meinen Vater hereinzulassen. Beim Eintreten würde er sagen: »Alldieweil wir in diesem Zustand leben …«

Er hatte diesen Satz nie zu Ende gesprochen, und ich hatte auch nie nach dem Schluß gefragt, nicht weil ich nicht neugierig darauf gewesen wäre, sondern weil ich meinte, daß ich ihn im voraus sagen konnte: Alldieweil wir in diesem Zustand leben, müssen wir uns in das Unvermeidliche fügen. Das Wort »leben« hatte er gebraucht. Daß er tot war, daran konnte ich mich einfach nicht gewöhnen.

»Ich will noch mal eben nach draußen«, sagte ich nach dem Essen.

»Bei diesem Wetter?« fragte meine Mutter.

»Es ist trocken«, sagte ich.

»Ja, aber es ist furchtbar kalt.«

Doch sie hielt mir schon die Tür auf, sie winkte mir sogar nach, obwohl ich am selben Abend zurückkehren würde, und ich war mutterseelenallein auf der Straße, an einem Sonntagabend. Der Tag nach Neujahr wurde von vielen Leuten anscheinend noch als Feiertag angesehen, denn in den Häusern sah ich Menschen um festlich gedeckte Tische sitzen, auf denen sich das Kerzenlicht im Silberbesteck spiegelte. Schon nachdem ich an drei solchen Häusern vorbeigekommen war, spürte ich, wie meine Stimmung sich besserte. Wenn ich an 365 Häusern vorbeiginge, in denen so gefeiert wurde, bestand die Aussicht, daß ich ein ganzes Jahr lang verschont bleiben würde von Träumen, in denen Schiffe ohne mich wegfuhren, vor allem wenn ich über diesen Häusern den Turm der Grote Kerk sehen konnte. Die Turmuhr schlug ruhig und gleichmäßig, während ich auf dem Deich entlangging, und es kam mir vor, als könnte ich jeden einzelnen Schlag riechen. Das lag vielleicht nur daran, daß ich bei jedem Schlag tief einatmete. Schon hier hing der Geruch von Mehl und Teeröl in der Luft, gleich, auf dem Hafenkai, würde ich ihn geradezu fühlen können.

Eines der Häuser auf dem Deich war mit Lämpchen rund um den Fensterrahmen geschmückt; zwischen den Lichtern hindurch blickte ich in ein Zimmer, in dem nur ein junger Mann und ein junges Mädchen zu sehen waren, obwohl der Tisch für mehrere gedeckt war. Das Mädchen trug ein rotes Kleid, das ihr bis zu den Füßen reichte. Sie stand auf Armeslänge entfernt von dem Jungen, ihre Hände ruhten auf seinen Schultern, und abgesehen davon, daß sie ihn mit ihren Händen berührte, blickten sie sich nur an, beide so ineinander versunken, daß ich fast melancholisch davon wurde. Es sah aus, als sei sie in dem roten Kleid größer als er, und doch war es umgekehrt.

»Als ob sie aus dem Himmel herabgekommen wäre«, murmelte ich beim Weitergehen, und Schauer liefen mir über den Rücken, weil ich noch immer diese zarten, warmen Blicke vor mir sah.

»So sollten sie nun für immer stehenbleiben«, sagte ich leise, »vielleicht gelingt es ihnen dann, immer glücklich zu sein.« Sagte ich das, weil ich am Haus von Thijs Loosjes vorbeiging? Daran dachte ich aber gar nicht; mir wurde erst bewußt, daß ich gerade an seinem Haus vorbeiging, als er in der offenen Tür erschien und mich sofort erkannte.

»Gratuliere mir«, sagte er. »Heute ist es fünfzig Jahre her, daß ich ihr den Ring an den Finger gesteckt habe. Ich bin auf dem Weg zu ihr. Das wird gefeiert heute abend, du verstehst, so zu zweit.«

Ich schüttelte ihm die Hand und fragte: »Warum zu zweit? Kommt niemand aus der Familie?«

»Alle tot, wir sind noch die einzigen, weil …«

»Ja, ja«, unterbrach ich ihn, »ich verstehe«, denn ich wollte nicht hören, was er sagen wollte, und lief weiter, während er seine Haustür abschloß.

Ich beschleunigte meinen Schritt. Was schon den ganzen Tag über gedroht hatte, passierte merkwürdigerweise, als ich den Hafen erreichte. Es begann, leicht zu regnen. Aber ich lief ruhig weiter, ohne mir irgendeiner Gefahr bewußt zu sein. Ich ging zur Mitte des Hafenkais, der abschüssig angelegt war, damit das Wasser, das bei Flut manchmal hinaufkroch, von selbst zurückfloß, wenn der Mond anderswo Flut verursachte.

Hier war jetzt Flut, das sah ich, aber das Wasser würde heute nicht weiter steigen. Zwischen dem Rand des Kais und der Wasseroberfläche waren bestimmt noch anderthalb Meter. Ich ging unbekümmert weiter, obwohl ich merkte, daß das Gehen schwieriger wurde, weil der Regen auf den Steinen gefror. Ich mußte allmählich immer langsamer gehen, um nicht auszurutschen. Das störte mich nicht, denn weit und breit war kein Mensch zu sehen. Der Hafenkai gehörte mir allein, und das würde bei Glatteis auch so bleiben. Kein Mensch würde sich jetzt noch hinauswagen. Dieser Gedanke machte mich auf einmal so glücklich, daß ich einen Hüpfschritt probierte, dort, mitten auf dem Kai. In diesem einen so kurzen Augenblick, in dem ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, wußte ich schon, daß ich einen Fehler gemacht hatte, und bereitete mich auf einen gefährlichen Sturz vor. Alle meine Muskeln spannten sich; ich hob meine Arme, aber ich stürzte nicht, als ich den Boden wieder berührte, ich schwankte nur merkwürdig mit dem ganzen Körper, so daß jedes Bewußtsein dafür, wohin Glieder und Kopf normalerweise gehören, für ein paar Sekunden verlorenging. Als ich wieder einigermaßen wußte, wo mein Kopf war, merkte ich, daß ich noch immer aufrecht stand, jedoch auf dem Kai in Richtung Wasser glitt. Das war ein ganz angenehmes Gefühl, vor allem weil es so langsam ging. Es mußte jetzt spiegelglatt sein. Ich hob einen Fuß, um einen Schritt zu tun, aber dadurch machte mein Körper eine erneute Bewegung, die schon fast ein Fallen war. »Du lieber Himmel«, murmelte ich. Ich glitt weiter auf das Wasser zu und mußte nun wohl wirklich etwas unternehmen, sonst würde ich wahrhaftig in dem kalten, stinkenden Maaswasser verschwinden. Ich wagte noch einmal den Ansatz zu einem Schritt, hob dabei meinen rechten Fuß sowenig wie möglich, stellte aber sofort fest, daß dies schlichtweg unmöglich war. Ich versuchte, mich zu retten, indem ich mich weiterschob, und das gelang auch, ich kam vorwärts, glitt aber gleichzeitig schneller auf den Rand des Kais zu.

In diesem Augenblick kam zum erstenmal so etwas wie Panik in mir auf; mir wurde klar, daß ich ganz einfach dazu verurteilt war, ins Wasser zu gleiten, und daß ich nichts mehr dagegen tun konnte. Ich wies diesen Gedanken sofort von mir; das wäre doch zu verrückt, ich war mitten auf dem Hafenkai und glitt zwar langsam abwärts, aber ich mußte doch wohl noch in der Lage sein, mich aus dem Bann der spiegelglatten Oberfläche der Straße zu lösen.

Während ich noch darüber nachdachte, hörte ich plötzlich das Geräusch eines fallenden Körpers. Ich sah auf der anderen Seite des Wassers eine dunkle Gestalt auf der Straße liegen. Er - oder war es eine Sie, ich konnte es nicht erkennen - versuchte aufzustehen und fiel wieder hin. Die Bewegungen hatten etwas Possierliches, etwas, das zum Lachen einlud, aber ich konnte dieses Lachen nicht zustande bringen, ich war eigentlich nur neidisch, weil die Gestalt dort lag, dort, wo der Hafenkai nicht so abfiel wie hier. Dennoch brachte sie mich auf eine Idee. Wenn ich mich jetzt auch einfach fallen ließe oder mich, besser gesagt, auf die Steine setzte, würde ich dadurch womöglich vermeiden, weiter abzurutschen? Vielleicht könnte ich sogar auf Händen und Füßen zum Bürgersteig vor den Häusern kriechen, wo ich weitgehend in Sicherheit wäre. Ich könnte mich dort jederzeit an einem Fenstersims festhalten, ich würde vielleicht sogar gehen können. Aber schnell wurde deutlich, daß ich mich nicht einmal auf das Pflaster setzen konnte, und außerdem stellte ich fest, daß jede Bewegung, die ich machte, lediglich bewirkte, daß ich schneller auf das Wasser zuglitt.

 Dennoch war ich noch nicht wirklich beunruhigt, schon deshalb, weil das Gleiten, wenn ich mich nicht bewegte, so langsam geschah, daß es kaum zu spüren war. Ich hatte den Eindruck, daß ich länger als eine Minute für einen Pflasterstein brauchte, und es waren noch so viele Pflastersteine zwischen mir und dem Rand des Kais, daß ich noch Meere von Zeit zu haben schien. Genug Zeit jedenfalls, um in Ruhe darüber nachzudenken, wie ich mich aus diesem doch recht unangenehmen Zustand befreien konnte.

»Ach, natürlich nicht allzu unangenehm«, sagte ich halblaut, aber ich schluckte die letzten Worte hastig herunter, denn sogar das Sprechen erhöhte die Geschwindigkeit des Gleitens. Bevor ich endgültig im Wasser verschwand, würde doch bestimmt jemand kommen, um mir zu helfen, oder jemand würde aus einem der erleuchteten Fenster wenigstens einen Blick nach draußen werfen. Genug Häuser hier und viele, viele Fenster. Hinter diesen Fenstern wurde gefeiert, und ich konnte mich...
mehr

Autor

Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Werke machen ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.