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Die Betäubung

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am24.09.2012
Der Tod eines geliebten Menschen trifft uns alle gleich. Aber jeder reagiert anders darauf: Die einen stürzen sich in die Arbeit, um sich abzulenken, andere beginnen an sich und der Welt zu zweifeln, verlieren den Boden unter den Füßen. Und so sehr wir uns auch vielleicht um eine Rückkehr zur Normalität bemühen, eine Frage bleibt: Können wir den Verlust eines geliebten Menschen wirklich jemals verwinden?

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextDer Tod eines geliebten Menschen trifft uns alle gleich. Aber jeder reagiert anders darauf: Die einen stürzen sich in die Arbeit, um sich abzulenken, andere beginnen an sich und der Welt zu zweifeln, verlieren den Boden unter den Füßen. Und so sehr wir uns auch vielleicht um eine Rückkehr zur Normalität bemühen, eine Frage bleibt: Können wir den Verlust eines geliebten Menschen wirklich jemals verwinden?

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641085636
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum24.09.2012
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1920 Kbytes
Artikel-Nr.1205269
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe




1

Drik de Jong wartet.

Er wartet in seinem eigenen Wartezimmer, das eigentlich kein Zimmer ist, sondern eine Nische unter der Treppe, in die nur ein einziger Sessel passt. An der geraden Wand hängt ein Foto von einer Baumreihe in einer Polderlandschaft.

Drik de Jong wartet auf einen neuen Patienten. Will er spüren, wie es für so jemanden sein mag, hier zu sitzen und zu warten? Unwahrscheinlich. Hier sitzt so gut wie nie jemand, denn Drik legt seine Termine so, dass reichlich Zeit dazwischen ist und sich die Patienten nicht über den Weg laufen.

Die Flügeltür zu seinem Sprechzimmer steht offen, die Lampen über dem Schreibtisch und schräg hinter dem Therapeutensessel sind an, obwohl es elf Uhr vormittags ist. Er hat kurz dort Platz genommen und auf die schmuddelige Gardine vor dem bewölkten Himmel geschaut - es ist Oktober, das Licht nimmt ab. Aber nicht hier, dachte er, in dieses Zimmer gehört warmes, gelbliches Licht. Einen Vorrat Glühbirnen anlegen, jetzt, da es noch geht, die vorgeschriebenen neuen Energiesparlampen sind grässlich. Gefängnisbeleuchtung.

Er blickt auf seine Armbanduhr. In drei Minuten. Noch kurz pinkeln? Lieber nicht. Da wäschst du dir dann gerade die Hände, und hinter dir gurgelt der Spülkasten, wenn es klingelt.

Nicht nur der Patient ist vor dem Erstkontakt angespannt. Auch für den Therapeuten ist das ein kritischer Moment. Da hat so vieles gleichzeitig zu geschehen. Hinschauen, zuhören, Kontakt herstellen, sich ein Bild machen, urteilen, entscheiden, einprägen. Während man sich bestmöglich konzentriert, muss man dennoch so entspannt sein, dass man auch wirklich einen Eindruck von seinem Gegenüber gewinnen kann. Drik holt tief Luft.

Er hat mehr als ein halbes Jahr lang nicht gearbeitet. Als seine Frau ernstlich krank wurde, hatte er seine Praxis zugemacht. Zwei Analysen konnte er noch abschließen, vorzeitig und etwas zu abrupt, aber es ging. Einen dritten Analysanden überwies er an einen Kollegen, ebenso wie einige Therapiepatienten. Neue Fälle nahm er nicht mehr an. Mit einem Mal waren die Tage leer, und er kam kaum noch in sein Sprechzimmer.

Das Gartenzimmer wurde zum Schwerpunkt des Hauses. Dort lag Hanna in so einem viel zu hohen Krankenhausbett und erwartete ihren Tod. Dort tauchten Sauerstoffflaschen, Morphinpumpe, Infusionsständer auf. Dort drängten sich viele Menschen - der Hausarzt, Freunde, Krankenschwestern, ein Anästhesiepfleger aus dem Krankenhaus. Drik selbst stand mit dem Rücken an der Wand und hielt sich aus allem raus. Seine Schwester war da, Suzan.

Er hatte sie immer als die kleine Schwester gesehen, die vier Jahre Jüngere. Jetzt übernahm sie die Regie. Zu seiner Verblüffung setzte sie ihre Beurlaubung auf unbestimmte Zeit durch. Es treffe sich gut, sagte sie, sie hätten ohnehin gerade zu viele Anästhesisten auf der Abteilung, weil die Hälfte der Operationssäle umgebaut werde, da könne sie getrost eine Zeitlang wegbleiben. Sie hatte Hanna gern und wollte ihm eine Stütze sein. Sie wollte es ihrer Schwägerin ermöglichen, den ganzen traurigen Weg in ihrem eigenen Haus, mit Blick auf den Garten zurückzulegen. Gegen Ende blieb sie oft über Nacht. Auf der Analysecouch.

Nicht daran denken jetzt. Nicht an das Ende. Die Beziehung zu Suzan, das ist etwas, woran er denken kann. Sie kam ihm so nahe wie früher, aber in einer anderen, vertauschten Rolle. Auf einmal war sie die Tonangebende, und er wurde von ihr abhängig. Dabei ist es in mancher Hinsicht auch geblieben. Mindestens dreimal die Woche setzt er sich bei seiner Schwester an den Tisch und isst mit ihr, ihrem Mann Peter - der zugleich sein bester Freund ist - und manchmal auch ihrer beider Tochter Roos zu Abend. Das gefällt ihm, das ist, als sei er Teil einer Familie. Er möchte nicht, dass sich das ändert. Eine regressive Regung. Er gesteht sie sich zu.

Drik lehnt sich im Sessel zurück und lässt den Kopf an der Wand ruhen. Irgendwo draußen sitzt jetzt ein junger Mann im Auto und wartet, dass es elf Uhr wird. Vor ein paar Wochen hat Peter angerufen: »Wird es nicht allmählich Zeit, dass du wieder etwas tust? Du beteiligst dich bei unseren Intervisionsabenden immer so rege, da dachte ich mir, es wäre vielleicht gut, so langsam wieder anzufangen.«

Obwohl Drik seine Arbeit niedergelegt hatte, war er weiterhin zu den zweiwöchentlichen Intervisionstreffen gegangen. Er konnte zwar selbst keine Patienten mehr einbringen, hörte sich aber gerne an, was seine Analytikerkollegen aus ihrer Praxis erzählten. Manche hatten ja auch ehemalige Klienten von ihm in Behandlung, so dass er deren Leben ein bisschen weiterverfolgen konnte. Doch je schlechter es Hanna ging, desto weniger Anteil konnte er nehmen. Er saß noch dabei, weil Worte gesprochen wurden, die nicht Hanna betrafen, weil er unter Freunden, aus dem Haus sein wollte. Aber gerade weil es nicht um Hanna ging, schienen die Freundschaftsbande immer dünner zu werden. Er fühlte sich mehr und mehr allein. Gegen Ende war er nicht mehr hingegangen.

»Hast du eine Überweisung?«, hat er Peter gefragt. Peter arbeitet im Psychiatrischen Krankenhaus und ist dort für die fachärztliche Weiterbildung zuständig. Dazu gehört auch, dass er die Lehrtherapie koordiniert, die alle angehenden Psychiater im Laufe der Weiterbildung machen müssen. Gerade hatte ein junger Mann bei ihm vorgesprochen, der schon ernsthaft an eine Therapie dachte, obwohl er gerade erst angefangen hatte - die meisten schoben das bis zum dritten oder vierten Jahr der Weiterbildung hinaus, wenn sie selbst bereits längere Behandlungen übernehmen mussten. Dieser junge Mann wollte jetzt schon. Peter dachte dabei an Drik.

»Sag ihm, er soll anrufen. Wie heißt er?«

Wenn einer so schnell anfangen will, steckt etwas dahinter, überlegte Drik. Er dürfte irgendwas auf dem Herzen haben, Hilfe benötigen. Da kann ich gleich richtig anfangen und brauche nicht wochenlang herumzustochern, bis das verdrängte Elend zutage kommt.

Er streckt die Beine aus. Zwei gleiche Socken, das ist schön. Ungeputzte Schuhe, das schon weniger. Der Holzfußboden im Flur glänzt. Die Garderobe ist bis auf einen Regenschirm leer. Durch die offen stehenden Türen des Sprechzimmers strömt Licht. Alles bereit, denkt er. Jetzt noch ich. Bekanntschaft schließen, Anhaltspunkte dafür finden, was er will und was er erwartet, Konditionen vereinbaren, eine feste Zeit - obwohl, ich bin jetzt so flexibel wie nur was -, den Tarif, die monatliche Abrechnung, die vermutliche Dauer des Ganzen, fünfzig Sitzungen werden ihm im Rahmen seiner Ausbildung vergütet, alles darüber hinaus muss er selbst zahlen, gut, das schon mal zu sagen, Zeitdruck kann ich nicht brauchen - ob Suzan heute Abend kocht oder Peter? Nachher, nach diesem Patienten, eine Runde Fahrrad fahren oder laufen, das hebt die Laune. Nur nicht, wenn man dabei ins Grübeln gerät. Er sieht das bleiche Gesicht Hannas vor sich, und ein übermächtiges Gefühl des Scheiterns ergreift Besitz von ihm.

Die Kinderlosigkeit. Krampfhaft hatten sie sich ihrer Arbeit gewidmet, waren bemüht gewesen, für alles Mögliche Interesse aufzubringen - Bergwandern, Oper, Freunde. Alles vom Scheitern gefärbt, wenn sie auch nie darüber redeten. Hanna hatte wirklich Spaß an ihrer Arbeit gehabt. Historische Untersuchungen zur Mentalität der Menschen im achtzehnten Jahrhundert - Aufklärung, Wissenschaft, religiöser Wandel. Sie gab glutvolle Seminare für Studenten, von denen sie mit aufrichtigem Engagement sprechen konnte. Er spitzte dann sein professionelles Ohr und forschte nach Spuren von Ambivalenz, nach allzu aufgesetztem, allzu rigidem Optimismus, nach Hinweisen für innere Abwehr. Lass sie doch, dachte er anschließend, sie heuchelt nicht, sie scheint das wirklich zu genießen. Diese Kinder mögen sie, und sie ist dort in ihrem Element, Zufriedenheit allenthalben. Warum musst du denn wieder etwas zu bemängeln haben? Was sie tut und wie sie es tut, unterscheidet sich doch nicht wesentlich von deiner Haltung zur Arbeit, und die ist in deinen Augen ganz normal. Du liebst deinen Beruf und findest ihn faszinierend, obwohl man ihn genauso gut blödsinnig finden könnte. Eine rund zehnjährige Ausbildung, nach dem Facharzt für Psychiatrie oder, wie Peter es gemacht hatte, nach der Ausbildung zum klinischen Psychologen. Völliges Eintauchen in ein größtenteils überholtes psychoanalytisches Denken, Unterwerfung unter ein obsoletes Konstrukt aus Kursen, Seminaren und Supervision, jahrelange Lehranalyse. Das kostete insgesamt so viel Zeit, Geld und Aufmerksamkeit, dass man den Eindruck haben konnte, es sei das Allerwichtigste auf Erden. Die hierarchische Struktur der psychoanalytischen Vereinigung, in deren Händen die Ausbildung lag, hatte etwas von einer Glaubensgemeinschaft, einer Sekte, und ließ die angehenden Psychoanalytiker zu Schulkindern mutieren. Beim wöchentlichen Kursabend saßen sie zu zehnt mit dem Dozenten am Tisch und hatten Angst, dass sie drankommen könnten. Sie hatten ein schlechtes Gewissen, wenn sie die aufgegebenen Artikel nicht gelesen hatten, und alberten herum wie Grundschüler. Tagsüber leisteten sie eine schwere und verantwortungsvolle Arbeit, abends fielen sie in eine Rolle zurück, die nicht zu ihrem Alter passte. Gar nicht so unangenehm oft. Aber schon seltsam.

Es gab auch eine andere Seite: Er hatte dort viel gelernt und die Gelegenheit gehabt, sich in unterschiedlichen Ausbildern zu spiegeln, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob er so werden wollte oder nicht. Er war gezwungen gewesen, zu reflektieren und seinen eigenen Weg zu finden, und dieser Prozess hatte ihn zu dem Therapeuten geformt, der er heute war. Die Freundschaft zu Peter war dabei von...


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Autor

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.