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Gnade

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
176 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am30.10.2013
Von schrecklicher Zärtlichkeit und gnadenlosem Mitgefühl
Johan Sletten muss erfahren, dass ihm nicht mehr viel Zeit im Leben bleibt. Als er zurückblickt, gesteht er sich ein, dass er immer ein schwacher Mensch gewesen ist, ein durchschnittlicher, unscheinbarer Mann. Sein ganzes Glück ist seine Frau Mai, sie ist seine Gnade, wie er oft sagt. Ihre Liebe zu ihm macht ihn stolz, in ihrer Gegenwart verliert er jede Ängstlichkeit. Daher trifft er nun die erste mutige Entscheidung seines Lebens: Er will in Würde sterben, und Mai soll ihm bei seinem letzten Gang helfen. Aber reicht ihre Liebe so weit? Und ist Johan seinem letzten Wunsch überhaupt gewachsen?

LINN ULLMANN ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens. Ihre Romane sind vielfach preisgekrönt und in 30 Sprachen übersetzt, 2017 erhielt sie von der Schwedischen Akademie den Doubloug -Preis für ihr Gesamtwerk. Bei Luchterhand erschien zuletzt 'Das Verschwiegene' - unter dem Titel 'The Cold Song' u.a. auf der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher von James Wood (New Yorker). Für 'Die Unruhigen' erhielt sie den Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks, der Roman war für den Kritikerpreis und den Nordischen Literaturpreis nominiert. Eine Bühnenfassung davon hatte im Herbst 2018 am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm unter der Regie von Pernilla August ihre Uraufführung.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR8,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextVon schrecklicher Zärtlichkeit und gnadenlosem Mitgefühl
Johan Sletten muss erfahren, dass ihm nicht mehr viel Zeit im Leben bleibt. Als er zurückblickt, gesteht er sich ein, dass er immer ein schwacher Mensch gewesen ist, ein durchschnittlicher, unscheinbarer Mann. Sein ganzes Glück ist seine Frau Mai, sie ist seine Gnade, wie er oft sagt. Ihre Liebe zu ihm macht ihn stolz, in ihrer Gegenwart verliert er jede Ängstlichkeit. Daher trifft er nun die erste mutige Entscheidung seines Lebens: Er will in Würde sterben, und Mai soll ihm bei seinem letzten Gang helfen. Aber reicht ihre Liebe so weit? Und ist Johan seinem letzten Wunsch überhaupt gewachsen?

LINN ULLMANN ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens. Ihre Romane sind vielfach preisgekrönt und in 30 Sprachen übersetzt, 2017 erhielt sie von der Schwedischen Akademie den Doubloug -Preis für ihr Gesamtwerk. Bei Luchterhand erschien zuletzt 'Das Verschwiegene' - unter dem Titel 'The Cold Song' u.a. auf der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher von James Wood (New Yorker). Für 'Die Unruhigen' erhielt sie den Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks, der Roman war für den Kritikerpreis und den Nordischen Literaturpreis nominiert. Eine Bühnenfassung davon hatte im Herbst 2018 am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm unter der Regie von Pernilla August ihre Uraufführung.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641112264
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum30.10.2013
Seiten176 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1824 Kbytes
Artikel-Nr.1306079
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


I
DAS FENSTER

Als ihm der junge Arzt nach einigem Hin und Her die neue Diagnose offenbarte und sich ein wenig halbherzig darüber ausließ, welche Behandlungsmethoden seiner Meinung nach angemessen wären, ohne jedoch zu verheimlichen, dass das Elend meinen Freund Johan Sletten am Ende das Leben kosten würde, schloss Johan die Augen und dachte an Mais Haare.

Der Arzt war ein junger Mann mit hellen Haaren, der nichts dafür konnte, dass er große, veilchenblaue Augen hatte, die einer Frau viel besser zu Gesicht gestanden hätten. Er erwähnte den Tod mit keinem Wort. Das Wort, das er benutzte, war »alarmierend«.

»Johan!«, sagte der Arzt und versuchte, den Blick des anderen einzufangen. »Bitte hören Sie mir zu.«

Johan gefiel diese Verwendung des Vornamens nicht. Außerdem hatte die Stimme des Arztes etwas Schrilles. Es hörte sich an, als hätte er den Stimmbruch nie ganz hinter sich gebracht oder als wäre er als Kind womöglich von den Eltern kastriert worden, die sich eine Zukunft als Eunuch für ihn erhofft hatten, überlegte Johan, der das mit dem Vornamen und dem Nachnamen ansprechen wollte, vor allem im Hinblick auf den Altersunterschied. Der Arzt war jünger als Johans eigener Sohn, mit dem er seit acht Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Doch es ging nicht nur um die Erziehung, wenn er meinte, dass jüngere Menschen ältere Menschen nicht einfach mit dem Vornamen anreden sollten, nein, Johan hatte immer Wert darauf gelegt, eine gewisse Distanz zu wahren. Jegliche Form von Intimität zwischen Fremden - beispielsweise die Unart, sich in sozialen Situationen zu umarmen (oder vielleicht nicht wirklich zu umarmen, sondern lediglich flüchtig die Wange des anderen mit der eigenen zu berühren) - empfand er als unangenehm und im Grunde respektlos. Er zog es, wie gesagt, vor, dass man ihn, wenn man nicht mit ihm verheiratet war, Sletten nannte. Nicht Johan. Sondern Sletten. Und das wollte er dem Arzt gerne sagen, traute sich aber nicht, weil es ihm unklug vorkam, jetzt eine ungute Stimmung zwischen ihnen aufkommen zu lassen. Er wollte den Arzt nicht verärgern. Das könnte den Gesprächsverlauf beeinträchtigen. Der Arzt könnte auf die Idee verfallen, unaussprechliche Dinge über Johans Zustand zu sagen, einfach nur, weil er vergrätzt war und weil er sich nicht gerne über seine Erziehung belehren ließ.

»Ich hatte mir etwas andere Ergebnisse erhofft«, fuhr der Arzt fort.

»Hm«, sagte Johan und gönnte ihm ein Lächeln. »Ich fühle mich ja schon viel besser.«

»Der Körper ist bisweilen tückisch«, flüsterte der Arzt, vielleicht etwas unsicher, ob die Formulierung »tückischer Körper« nicht ein wenig übertrieben war.

»Hm«, sagte Johan noch einmal.

»Ja, also«, sagte der Arzt und wandte sich seinem Computer zu, »wie ich bereits erwähnt habe, besteht ein gewisser Grund zur Sorge.«

Dann folgte ein kurzer Monolog, in dem ihm der Arzt die Ergebnisse und ihre praktischen Konsequenzen darlegte, zum Beispiel, dass eine neue Behandlung notwendig wäre, möglicherweise sogar eine weitere Operation. Gleichzeitig versuchte Johan, der nur gelegentlich zu Wort kam, den Arzt davon zu überzeugen, dass er sich eigentlich besser fühlte, und könnten sie sich nicht wenigstens darauf einigen, dass dies ein gutes Zeichen wäre? Auch wenn der Körper, wie gesagt, tückisch sei. Doch als der Arzt am Ende das Wort »Streuung« in den Mund nahm, fast beiläufig, gab Johan es auf, ihn überhaupt noch von irgendetwas überzeugen zu wollen. »Streuung« war so ein Wort, auf das er sein ganzes erwachsenes Leben lang gewartet hatte - er hatte es erwartet, gefürchtet und vorhergesehen. Es gibt keine Veranlassung, nicht einmal nach seinem Tod, zu verheimlichen, dass Johan Sletten ein unverbesserlicher Hypochonder und Schwarzseher war und dass sich diese Szene - die Urszene eines Hypochonders  - zwischen dem Arzt und ihm in seinem Kopf immer und immer wieder abgespielt hatte, seit er ein junger Mann war. Doch im Gegensatz zu diesen Urszenen, behutsam inszeniert und in seinem Kopf unablässig redigiert, war die reale Szene, das, was tatsächlich passierte, weitaus weniger dramatisch, als Johan es in seiner Fantasie vorhergesehen hatte.

»Streuung?«, fragte Johan.

»Das bedeutet nicht ...«, sagte der Arzt.

»Streuung«, sagte Johan.

Und der Arzt wiederholte noch einmal, dass dies nicht zwangsläufig bedeute, was es in den allermeisten Fällen bedeutete. Das jedenfalls sagte er, wenngleich natürlich nicht mit diesen Worten. Es war ein sympathischer junger Arzt, der Johan von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß. Er wollte dem Patienten Zeit geben, die Diagnose zu verdauen, schließlich saß er da und besiegelte gerade das Leben eines anderen Menschen und hatte bestimmt in seinem Medizinstudium auch einmal etwas über Empathie gelernt, dachte Johan.

»Wie lange, meinen Sie, habe ich noch...«, sagte Johan. »Dazu meine ich überhaupt nichts«, antwortete der Arzt. »Das ist höchst individuell und wie gesagt, es gibt gute Möglichkeiten.«

»Aber im Schnitt«, unterbrach ihn Johan. »Wie lange kann jemand wie ich leben? Rein statistisch gesehen?«

»Ich finde nicht ...«

Johan unterbrach ihn erneut.

»Wenn nicht ich hier sitzen würde, wenn ich nicht ich wäre, und Sie nicht Sie, wenn wir zwei zufällige Menschen wären, und Sie, der also nicht Sie wäre, darum gebeten würden, sich ganz allgemein zu äußern ... ja, verstehen Sie ... was würden Sie dann sagen?«

»Wie gesagt: Dazu möchte ich am liebsten überhaupt nichts sagen.«

Johan schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Zeit, Mann! Geben Sie mir wenigstens eine ehrliche Antwort, geben Sie mir einen Anhaltspunkt. Geben Sie mir eine Zeit! Verstehen Sie?« Johan hielt dem Arzt seine Uhr vors Gesicht. »Ich will eine Zeit haben.«

Der Arzt entzog sich nicht, sondern erwiderte Johans Blick.

»Ein halbes Jahr, vielleicht mehr, vielleicht weniger«, sagte er. Und dann, nach einer Pause: »Aber wie ich schon sagte ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Es wurde still. Johan sah zu Boden, zupfte an seiner rechten Augenbraue, eine schlechte Angewohnheit, die er seit seiner Kindheit hatte und die seinem Gesicht etwas Schiefes verlieh, da er über dem linken Auge eine buschige Braue hatte und über dem rechten eine gezupfte. Er versuchte herauszufinden, was genau er empfand. Für die Worte des Arztes gab es kein Zurück, aber es waren, wie gesagt, Worte, keine Schläge oder Liebkosungen, und Worte brauchen länger, bis sie wirken. Das wusste er. Er spürte noch keinen Unterschied, er fühlte sich eigentlich ziemlich fit, er fühlte sich bereits seit etwa einer Woche fit, so fit wie schon lange nicht mehr. Nichts hinderte ihn daran, aufzustehen und das Arztzimmer zu verlassen. Er könnte in die Stadt gehen, das Frühlingswetter genießen, vielleicht eine Buchhandlung aufsuchen oder einen Plattenladen, sich etwas kaufen oder einfach ein wenig bummeln und sich umschauen. Kein Mensch hatte das Gespräch mit dem Arzt mit angehört. Es könnte geheim gehalten werden. Und alles wäre wie früher. Es würde ihn aufmuntern, eine Runde durch die Stadt zu drehen, das Arztzimmer kam ihm heiß und stickig vor. Der Arzt roch nach Schweiß, das war Johan sofort aufgefallen, als er das Zimmer betreten hatte.

Er erhob sich und sagte: »Ich bin verwirrt, ich muss jetzt gehen, wir sprechen uns später wieder.«

Der Arzt nickte.

Und dann sagte Johan: »Meine Frau hilft mir dabei. Mai hilft mir.« Und erneut dachte er an Mais Haare, die (und das war das Merkwürdige) glänzten, auch wenn es im Zimmer dunkel war.

 


Mai war Johans Frau. Seine Frau Nummer zwei.

Seine Frau Nummer eins hieß Alice.

In Stresssituationen wie dieser beim Arzt dachte Johan sowohl an seine Frau Nummer eins als auch an seine Frau Nummer zwei.

Er versuchte, den Gedanken an Mai festzuhalten, aber irgendetwas in ihm zwang ihn, an Alice zu denken.

Johan und Alice heirateten 1957. Damals war Johan fünfundzwanzig und Alice sechsundzwanzig. Zwei Jahre später bekamen sie ihren Sohn Andreas.

Es war eine unglückliche Ehe. Viele Menschen klagen über eine unglückliche Ehe. Viele schreiben über eine unglückliche Ehe. Häufig wird eine unglückliche Ehe damit erklärt, dass zwischen den beiden Eheleuten eine große Stille entstanden sei. Das war jedoch mitnichten Johans und Alices Problem. Zwischen ihnen war nie, in keinster Weise, eine große Stille entstanden. Wäre es nur so gewesen, sagte Johan einmal. Die Ehe zwischen Alice und Johan war sehr laut. Es gab keine Stille.

Wäre Alice nicht - nach zwanzigjährigem Zusammenleben mit ihm - von einem schwarzen Kombi auf dem Frognerveien angefahren, getötet und somit zum Schweigen gebracht worden, hätte er sie selbst angefahren, hatte Johan oft gedacht.

Einmal vor langer Zeit hatte Alice an der Kante eines Anlegers gestanden.

Sie konnte nicht schwimmen, hatte es als Kind nie gelernt, hatte sich nie getraut, nachdem zwei gleichaltrige Mädchen sie einmal in einen Tümpel gestoßen und ihren Kopf unter Wasser gehalten hatten, keinen tiefen See, nur Schmelzwasser in einem Graben, bis sie sich mit ungeahnten Kräften befreien konnte und weggerannt war.

Und nun stand sie da, auf dem Anleger in der Sonne, eine erwachsene Frau, Johans Frau Nummer eins, und...

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Autor

LINN ULLMANN ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens. Ihre Romane sind vielfach preisgekrönt und in 30 Sprachen übersetzt, 2017 erhielt sie von der Schwedischen Akademie den Doubloug -Preis für ihr Gesamtwerk. Bei Luchterhand erschien zuletzt "Das Verschwiegene" - unter dem Titel "The Cold Song" u.a. auf der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher von James Wood (New Yorker). Für "Die Unruhigen" erhielt sie den Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks, der Roman war für den Kritikerpreis und den Nordischen Literaturpreis nominiert. Eine Bühnenfassung davon hatte im Herbst 2018 am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm unter der Regie von Pernilla August ihre Uraufführung.