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Tagebücher 2002 - 2012

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
720 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am07.03.20141. Auflage
«Auf, auf ...», ruft Fritz J. Raddatz sich selber zu, als er sich 2008 in einem Münchner Hotel für die größte Party des Jahres umzieht, «ich habe noch gar nicht die Krawatte umgebunden - und bin schon enttäuscht.» Der Ton einer schonungslosen Selbstbeobachtung, die gleichzeitig Beobachtung anderer ist, angeschlagen bereits in den 2010 erschienenen Tagebüchern 1982-2001, setzt sich in diesem zweiten Band fort: noch klarer, schärfer, doch immer wieder, wie zum Ausgleich, auch mit einem Einschlag ins Komische, Übertreibende und rigoros Selbstironische. In der Form freier als zuvor, fügt Raddatz jetzt Monologe, kurze Telefon-Dramen, Essays und Portrait-Miniaturen in den Text ein. Und neue Namen tauchen auf: nicht mehr nur Hochhuth, Enzensberger und Grass, sondern auch Joachim Fest, Katharina Thalbach, aus der Erinnerung Klaus Mann und etliche andere. Weiterhin geht es um ein Bild der guten Gesellschaft, um die Frage: «Wie leben die Deutschen?»; weiterhin um die entstehende Einheit von Ost und West, doch mittlerweile, und mit zunehmender Wut, auch um die amerikanische Politik: den Krieg im Irak, die Lügen der Administration, Guantanamo, für Raddatz die schmerzliche Revision einer Lebensüberzeugung vom zuvor geliebten Amerika. Das Erscheinen des ersten Bandes dieser Tagebücher war ein literarisches Ereignis, man hat das Buch «den großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik» und «ein kaum erträgliches Kunstwerk» genannt. Hier ist Band 2: auf derselben Höhe, mit demselben Feuer.

Fritz J. Raddatz ist der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Fran?ois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982-2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

Klappentext«Auf, auf ...», ruft Fritz J. Raddatz sich selber zu, als er sich 2008 in einem Münchner Hotel für die größte Party des Jahres umzieht, «ich habe noch gar nicht die Krawatte umgebunden - und bin schon enttäuscht.» Der Ton einer schonungslosen Selbstbeobachtung, die gleichzeitig Beobachtung anderer ist, angeschlagen bereits in den 2010 erschienenen Tagebüchern 1982-2001, setzt sich in diesem zweiten Band fort: noch klarer, schärfer, doch immer wieder, wie zum Ausgleich, auch mit einem Einschlag ins Komische, Übertreibende und rigoros Selbstironische. In der Form freier als zuvor, fügt Raddatz jetzt Monologe, kurze Telefon-Dramen, Essays und Portrait-Miniaturen in den Text ein. Und neue Namen tauchen auf: nicht mehr nur Hochhuth, Enzensberger und Grass, sondern auch Joachim Fest, Katharina Thalbach, aus der Erinnerung Klaus Mann und etliche andere. Weiterhin geht es um ein Bild der guten Gesellschaft, um die Frage: «Wie leben die Deutschen?»; weiterhin um die entstehende Einheit von Ost und West, doch mittlerweile, und mit zunehmender Wut, auch um die amerikanische Politik: den Krieg im Irak, die Lügen der Administration, Guantanamo, für Raddatz die schmerzliche Revision einer Lebensüberzeugung vom zuvor geliebten Amerika. Das Erscheinen des ersten Bandes dieser Tagebücher war ein literarisches Ereignis, man hat das Buch «den großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik» und «ein kaum erträgliches Kunstwerk» genannt. Hier ist Band 2: auf derselben Höhe, mit demselben Feuer.

Fritz J. Raddatz ist der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Fran?ois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982-2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644035515
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum07.03.2014
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.2
Seiten720 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1142 Kbytes
Artikel-Nr.1337252
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


2003



The Golden Park, Nizza, den 8. Januar


Wenn ich ehrlich bin - überwiegen hier Verdruß und Nervosität: Die meiste Zeit verbringe ich im Auto oder in Supermärkten. Besonders lästig, daß ich mich um alles «Technische» selber kümmern muß, Bank, Wohnungsagentur, kaputte Waschmaschine, kaputtes Garagentor, kaputtes Telefon. Gerd spricht nach wie vor kein Wort Französisch, ob´s an der Tür klingelt oder das Telefon: «Es klingelt - geh du mal ran.» Bin natürlich «verwöhnt», daß mir in Hamburg derlei abgenommen wird; die gesamte, z.T. komplizierte Lebensdramaturgie habe ich zu bewältigen (was ganz gewiß kein Grass, kein Wunderlich, auch nicht Kempowski oder Rühmkorf tut).

Wenn ich doch 1 Quentchen französische Leichtigkeit hätte, ich, der noch im Liegestuhl in der Sonne mit den Fingern auf der Lehne trommelt, der sowohl Angst hat, zu lange zu leben (weil evtl. das Geld nicht reicht), als auch Angst, zu bald zu sterben (weil´s mir doch eigentlich gutgeht), der sich - da das Ende des Memoiren-Ms. erreichend - zergrübelt, was denn um Gottes willen die Arbeit danach sein wird.

So überwiegt die große Müdigkeit an mir selber -


21. Januar


Mir wird geradezu bange-bange vor meiner Literatur-Mäkeligkeit. Der nochmalige Versuch, Balzac zu lesen: reine Quälerei. Die Mischung aus klapprigster Roman-Dramaturgie à la «Unterbrich mich nicht», um dann 2 Seiten Monolog einzufügen, «sprach der alte Mann mit müden Augen» - und dann wieder 2 Seiten Geschwätz und schlimmster Epitheta-Inflation: Unterhaltungsliteratur niedrigsten Niveaus. «Ein Gesicht wie eine Messerklinge» - wie soll das wohl aussehen? Das ewige Erröten und Erblassen, die «gen Himmel geschlagenen Augen» - das kann doch nicht nur an der Übersetzung liegen! «Seine breite Faltenstirn, seine bleichen hohlen Wangen, die unversöhnliche Strenge seiner kleinen, grünen, wimpernlosen und brauenlosen Augen ... die Krümmungen seiner Runzeln (!) und die kreisförmigen Falten (!) rings um seine Schläfen kündeten von dem Scharfsinn eines Inquisitors und zeugten von dem tiefen Wissen um die Dinge des Lebens» («Chagrinleder») - das ist doch wahrlich allerbilligstes Schundkolorit, rasch hingehauen, Fortsetzungsroman eben. Goethe, kurz vor seinem Tode, sprach von den Ungereimtheiten dieses Buches, davon, daß man gegen jede Einzelheit etwas einzuwenden, auf jeder Seite Verstöße gegen die Komposition und Extravaganzen finden könne, reichlich Unvollkommenes - daß man´s aber doch mit Interesse lese, ein «mehr als durchschnittliches Talent» erkenne. Nicht einmal das erkenne ich.

«Zeitgebunden?» Aber Rodin lebte zu eben der Zeit, und sein Werk ist vollendet. Dies hier hapert und holpert, mal Salons ausschmückend wie ein verbaler Innendekorateur, mal Schicksale ausspinnend wie ein Kolporteur (was im frz. Hausierer bedeutet!).

Es sind übrigens nicht 2, sondern 12 Seiten lange Monologe, dann kommt ein «Du bist heute auf eine reizende Weise tragisch, rief Émile», damit es mit «Aber, fuhr der Erzähler fort ...» weitergehen kann. Keine Architektur, sondern eine Diarrhoe. Zuhauf Sätze wie «aus den Locken seiner blonden Perücke sprach Menschenliebe».

Kurzum: Ein «Faust» für kleine Leute, statt Teufelspakt ein Stück Esels-Leder. Übrigens kannte Balzac offenbar Goethes «Faust», der Autor und die Mephisto-Figur werden erwähnt.

Mich selber verdrießend: aber auch das «Jahrhundertbuch», «Lord Jim» von Joseph Conrad, hält nicht stand. Letztlich Karl May, nur vorgestanzte Figuren, Charaktere mag man gar nicht sagen, sinistre Albernheiten, hergeholte Handlung und, auch da, eine scheppernde Bericht-Dramaturgie. Vieles wohl auch dank der miserablen Übersetzung, in der rauhe Seebären «Likör» trinken (bis mir einfiel, es wird wohl Liquor, also Schnaps, im Original stehen).


11. Februar


Tief eingesunken in die Lektorats-Korrektur am Memoiren-Ms., eine «fieselige» Arbeit. Da der Herr FJR offenbar nicht in der Lage ist, diese törichten «...» wegzulassen, zu erkennen, dass er ständig «sagt» und «kennt» und «konnte nicht wissen» schreibt, daß es nicht «monasterisch», sondern «monastisch» heißt, daß man ein brennendes Haus nicht mit einem Gartenschlauch löschen kann, sondern nur mit dem WASSER aus ebendemselben. Peinigend, weil einerseits die penible Stützner fast immer recht hat, weil ich andererseits derlei Gartenschlauch-Bilder dann oft ZU korrekt finde (niemand, dem ich das Beispiel erzählte, Wunderlich, Gerd I, Gerd II, Nash, hat das verstanden - die meisten meinten: «Ach so, weil der Strahl zu dünn ist»). Kurzum: Man kann einen Text auch SO lange durchs Sieb rühren, daß zwar alles richtig ist, er aber seine Musik verliert.

Morgen kommt der Verleger (wenn er´s noch ist, jeden Tag werden Verlage verkauft und gekauft). On verra.

Zwei Tage Telefonate mit Hochhuth, dessen «Die Euler» am Darmkrebs operiert wird, was ihn aber vor allem deswegen deprimiert, weil «Ich doch überhaupt nicht weiß, wie man ein Hemd wäscht». Bei meinem Rückruf gestern Abend ½ Stunde nur von seinen Verlags- und Manuskript-Querelen, «Mach die Tür zu, es ist zu laut da drüben», herrschte er herum, um dann zu flüstern: «Freitag kommt sie unter´s Messer.» Mehr nicht. Allerdings berichtet er, sie hätten beide mich umgetauft in «Fritz, der Neidlose» - weil ich der einzige gewesen sei, der auf das kleine Bändchen seiner Korrespondenz mit Golo Mann reagiert habe. Eigentlich böses Kälte-Zeichen: Man kann einem Kollegen doch eine Postkarte schicken? Zumal die Lektüre lohnt: Die beiden haben sich nix geschenkt, es sind keine Lobhudeleien, sondern ernsthafte Auseinandersetzungen.

Politische Kunst ist bedeutungslos? In der gestrigen FAZ die Nachricht, daß bei der Kriegsrede des US-Außenministers Powell in der UNO ein Wandteppich verhängt worden sei, der nach Picassos GUERNICA gewebt worden war. Man habe sicherheitshalber einen blauen Vorhang davorgezogen, damit die Fernsehkameras nicht bei der Rede den Friedensappell ad oculos vorführten.


21. Februar


Nun schreibe ich gleichsam Tagebuch übers Tagebuch: will sagen, über meine Lebenserinnerungen, die ja zu guten Teilen aus eben diesen Tagebüchern bestehen.

Wobei eine Sache beunruhigend und eine komisch ist. Das erste: Dies muß alles so sehr in Tiefenschichten dringen, daß ich seit sehr langem nur noch Lebens-Konstellationen träume, also nicht etwa «surreale», gleichsam erfundene Situationen mit nicht-existenten Personen, sondern nur noch von den Menschen, die in den Memoiren vorkommen, weil sie für mein Leben Bedeutung hatten. Das natürlich nicht in «echten» Situationen: DIE sind geträumt, sind gleichwohl Seelenblasen, die blubbern: heute Nacht grauenhaft von Eckfried Herbst, der mich VOR meinen Augen mit jemandem betrog (und zwar SEHR genau intim geträumt), der eine Mischung aus Bermbach und Peter Meyerhoff war, hängt wohl AUCH mit den recht strapaziösen, oft 8 - acht! - Stunden währenden Lektoratssitzungen mit der Stützner zusammen.

Dies das leicht Komische, weil ich ganz offenbar beim Schreiben liederlicherweise nicht darauf achte, wie oft ich nenne, kenne, sagte sage, wie oft ich Anschlüsse, Partizipialkonstruktionen schleifen lasse - und wie oft ich mich wiederum wehren muß gegen die verkopfte Stützner: «Sie können nicht sagen, der Roman beginnt  - ein Roman kann nicht von selber beginnen, der Autor beginnt ihn.» Hohlsaumklöppelei, der ich natürlich nicht folge, die mich aber nervös macht; ich darf also nicht sagen, «die Buddenbrooks» beginnen ...? So will sie ewig etwas «unter anderem Aspekt diskutieren», daß etwa schwul und homosexuell nicht dasselbe sei, daß ich die Genderfrage außer Acht lasse, daß ich «das kognitive Selbst» nicht reflektiere (weiß gar nicht, was das alles ist). Puhhh. Dennoch lieb und freundschaftlich und ja auch sorgsam, wie sie sich Mühe gibt - für das Buch eines anderen ...

Vorgestern Besuch des WELT-Redakteurs Krause, angenehm,...
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Autor

Fritz J. Raddatz ist der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Fran¿ois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982-2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.