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Kopf hoch, sprach der Henker

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am14.11.2014Auflage
Der Vollidiot ist reif für die Insel - Tommy Jaud trifft Bill Bryson Sechs Wochen Irland im Luxushotel, literweise Guinness, mindestens drei willige Stipendiatinnen aus Spanien und endlich mal keine Sorgen um die prekäre Künstlerexistenz? Pustekuchen. Stattdessen: Eine Hotelruine in der irischen Einöde, keine Verbindung zur Außenwelt, kein Fluchtmittel, ein unzurechnungsfähiger Reiseleiter und im Keller ein toter Schwede. Und für Literaturstipendiat Karsten Kühne und seine Künstlerkollegen soll es noch schlimmer kommen...

Der Berliner Autor Michael-André Werner, geboren 1967, ist seit vielen Jahren Mitglied der Lesebühne »Die Brutusmörder« und regelmäßig bei anderen Lesebühnen zu Gast. Er hat bisher zwei Romane und unzählige Kurzgeschichten und Zeitschriftenbeiträge veröffentlicht; seine Texte wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Außerdem hat er ein siebenwöchiges Autorenstipendium in Irland überlebt.
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Produkt

KlappentextDer Vollidiot ist reif für die Insel - Tommy Jaud trifft Bill Bryson Sechs Wochen Irland im Luxushotel, literweise Guinness, mindestens drei willige Stipendiatinnen aus Spanien und endlich mal keine Sorgen um die prekäre Künstlerexistenz? Pustekuchen. Stattdessen: Eine Hotelruine in der irischen Einöde, keine Verbindung zur Außenwelt, kein Fluchtmittel, ein unzurechnungsfähiger Reiseleiter und im Keller ein toter Schwede. Und für Literaturstipendiat Karsten Kühne und seine Künstlerkollegen soll es noch schlimmer kommen...

Der Berliner Autor Michael-André Werner, geboren 1967, ist seit vielen Jahren Mitglied der Lesebühne »Die Brutusmörder« und regelmäßig bei anderen Lesebühnen zu Gast. Er hat bisher zwei Romane und unzählige Kurzgeschichten und Zeitschriftenbeiträge veröffentlicht; seine Texte wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Außerdem hat er ein siebenwöchiges Autorenstipendium in Irland überlebt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843709408
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum14.11.2014
AuflageAuflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1876 Kbytes
Artikel-Nr.1410229
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


19. Tag, Freitag

Ich zog den Reißverschluss der Jacke zu. Ich durfte jetzt nicht zittern. Bei der blauen Grundierung gestern war das egal gewesen, aber jetzt, bei den Wörtern - das musste man alles lesen können! Jedes einzelne Wort. Es war wichtig. Denn ich schrieb mit weißer Farbe und einem dünnen Pinsel Wörter auf den Stuhl und vereinte somit Malerei, Bildhauerei und Literatur. Ich hatte eine neue Kunstform geschaffen, die erste Kunst von einem Nichtkünstler, denn ich war ja Nichtkünstler, vielleicht war das sogar die erste kunstlose Kunst. Dieses mein erstes Werk würde ich Newgarden Mansion nennen, den Titel hatte ich bereits klein hochkant hinten an die Seite der Rückenlehne geschrieben. Ich schrieb alles in Großbuchstaben. Wenn ich fertig war, wäre der ganze Stuhl über und über mit Worten bedeckt, und keins käme doppelt vor. LANGEWEILE hatte ich schon und ZEIT, ABGESCHIEDENHEIT, NATUR, STILLE, GEDULD, und jetzt schrieb ich UNGEDULD, HUNGER, KÄLTE, ANGST, FAULHEIT, TOD. Gonzales war mit der großen Wand fast fertig, große und kleine Gesichter starrten und glotzten mich an, und seit es ihm und Maria vor ein paar Tagen gelungen war, aus den restlichen Eiern, Öl, fein geriebener Erde und Wasser eine braune Farbe anzurühren, hatte er begonnen, die Gesichter, die schon fertig waren, nach und nach mit Augenringen und Falten zu verfeinern.

Es war kalt hier unten. Ich zog die Jacke aus, den Pullover an und die Jacke wieder drüber. Handschuhe fand ich ein bisschen albern - nicht, dass es nicht kalt genug gewesen wäre hier im Keller. Aber ich hatte auch gar keine. Und ich hätte damit ohnehin schlecht den Pinsel halten können, gerade bei der Feinarbeit, die ich eben begonnen hatte. Gestern beim Grundieren hätte ich ohne weiteres ein gutes Paar Handschuhe brauchen können, auch wegen des Kleckerns. Gerade wegen des Kleckerns. Man konnte beim Malen noch so aufpassen, irgendwann kleckerte man, irgendwann hatte man Farbe an den Händen, an den Armen, später entdeckte man sie an Körperteilen, von denen man nie gedacht hätte, sie beim Malen zu gebrauchen. Wo hatte ich immer wieder kleine Farbkleckse bei Sophie entdeckt! Auf dem Rücken, in den Kniekehlen, in kleinen Hautfalten. Irgendwann klebte alles, irgendwann trocknete es, irgendwann konnte man es abbröseln, aber ein bisschen blieb immer zurück. Auch nach Tagen. Nach Wochen. Kunst ist ein schmutziges Geschäft. Aber irgendwann gewöhnte man sich daran, und dann war man wohl - Künstler. So wie Schriftsteller irgendwann Sehnenscheidenentzündung bekamen. Burkhard hatte mal eine, hat er mir gestern erzählt, damals hatte er von Kugelschreiber zu Füllfederhalter und dann zu Computertastatur gewechselt, aber das hatte es nur marginal gelindert. Seine rechte Hand verkrampfe noch immer, und wenn er viel mit der Hand schrieb, wie hier, komme sie sicherlich bald wieder, die Sehnenscheidenentzündung, jammerte er, zumal bei diesem feuchten, kalten Klima. Die Feuchtigkeit sickert in die Haut, legt sich um die Knochen, und alles wird kalt und klamm. Dann kommen die Bakterien, und alles entzündet sich, und die ganze Hand schwillt an. Meine rechte war auch schon leicht dicker als meine linke, wenn ich die beiden nebeneinanderhielt. Das geschulte Auge kann so etwas erkennen.

Heute würde Seamus zurückkommen. Bestimmt. Er hatte es gesagt. Vielleicht machte ich noch einen zweiten Stuhl, ich würde mir einfach einen der halb kaputten aus dem Stuhlhaufen hervorzerren, einen, auf dem man nicht mehr sitzen konnte, und SEAMUS, SEAMUS, SEAMUS, SEAMUS, SEAMUS daraufschreiben, mit roter Farbe. Jetzt schrieb ich erst einmal STRAFE, VERWESUNG und MESSER, dann SCHERE, GABEL und LICHT. So kam eins zum anderen. UNTERGANG, HASS, RACHE. Ja, er würde schön werden, mein kleiner Stuhl. Endlich hatte ich eine sinnvolle Beschäftigung, und mit etwas Glück konnte ich ihn sogar mitnehmen. Seamus hatte uns versprochen, dass er uns die einzelnen Kunstwerke nach der Ausstellung in Dublin nach Hause schicken würde. Wenn nicht, konnte ich so einen Stuhl ja zu Hause noch einmal machen, in Sophies Atelier. Ach nein, das war ja abgebrannt. Da würde ich mir wohl ein anderes Atelier suchen müssen. Mit einer anderen Freundin. Eine andere Freundin mit einem Atelier.

Gonzales kam hereingeschlurft und sagte »Hey«. Jedes Mal, wenn er aufs Klo ging, bedeutete er mir, dass er aufs Klo zu gehen beabsichtigte, indem er »Piss« sagte. Ich sagte dann »Okay«. Wenn er wiederkam, sagte er »Hey«. Gonzales musste sich jedes Mal ducken, wenn er durch die Tür ging. Zugegeben, er war jetzt nicht so riesig, aber die Türen hier im Keller waren ziemlich niedrig, und er ging sowieso immer etwas geduckt, um sich seine wilde, störrische Mähne nicht zu stoßen. Sein breitgestreifter Pullover war voller Flecken. Rasiert hatte er sich auch seit Tagen nicht mehr. Aber wer hatte das hier schon?

»Hey«, sagte ich.

Gonzales hatte mir gestern eine Ecke seines Kellerateliers abgegeben. Gut, sagen wir es so: Er hatte mich nicht weggejagt, als ich den nackten Stuhl dort aufgestellt und Anstalten gemacht hatte, ihn zu bemalen. Vielleicht wollte er einfach nicht mehr allein hier unten sitzen. Ich hockte nun also mit meinem Stuhl neben der Theke.

VERZWEIFLUNG schrieb ich weiter. Hatte ich VERZWEIFLUNG schon? Ich fragte mich, ob ich RAGE schreiben durfte, da ich WUT schon hatte. Ja, dachte ich, Rage ist etwas anderes als Wut. Ah, ZORN! BLUTRAUSCH fiel mir ein und VERHÄNGNIS. VER-Wörter sowieso, diese ganze Kinofilmreihe nach den Romanen von Stieg Larsson. VERBLENDUNG, VERDAMMNIS, VERGEBUNG. Nein, nicht VERGEBUNG. Ich brauchte mehr VER-Wörter! VERBITTE­RUNG fiel mir ein und VERSPRECHEN. VERMASSELN. VERSAGEN. VERWAHRLOSEN. VERHÖREN. VERHÖH­NEN. VERPRÜGELN. VERHUNGERN. VERZICHTEN. VERNICHTEN.

Wenn es wieder Eier gab, konnte mir Gonzales vielleicht ein wenig rote Farbe machen, dann würde ich einen Stuhl weiß grundieren und die rote Farbe wie Blutspritzer auf der Rückenlehne verteilen, dass sie eins der hinteren Stuhlbeine runterliefen. Vielleicht sollte ich einfach richtiges Blut nehmen, dann musste mir Gonzales keine Farbe anrühren. Und vielleicht gab es ja keine Eier mehr. BLUT, schrieb ich.

Gonzales stand auf und schlurfte quer durchs Atelier zur Tür. »Go piss«, sagte er.

»Okay«, antwortete ich und nickte.

Vielleicht sollte ich eine Pause machen. Nach oben gehen, wo es wärmer war, wo es wenigstens ein bisschen wärmer war. Oder mir jemanden zum Kuscheln suchen, wie Hans. Der konnte sich bei jeder Zweiten hier im Bett aufwärmen, hatte Burkhard gemeint. Bett, na ja, Bett war auch lange her.

Nachher kam Seamus. Hatte er gesagt. Hatte er versprochen. Und was Seamus verspricht ... Dann würde endlich alles gut. Ja, ich würde mal nach oben gehen.

Draußen dämmerte es. Die Sonne versank hinter den Hecken und Mauern und nahm den goldenen Schein mit, den sie eben noch quer über den Parkplatz geworfen hatte. Ich seufzte.

»Na, nun wird´s aber bald mal Zeit«, brummte Gustav mit Blick nach draußen, obwohl Seamus ja noch nie irgendwie pünktlich gewesen war. Wir standen im Foyer, und auch wenn wir es nicht vorgehabt hatten, so mussten wir es uns doch eingestehen: Wir warteten auf Seamus. - Wir warteten auf Seamus, das klang obszön. Als könnten wir uns nicht beschäftigen. Als wären wir abhängig von ihm. Wir konnten pokern, wie wir es sonst auch immer machten, um uns die Zeit zu vertreiben. Husch, Zeit, weg. Ich wedelte mit den Händen.

»Was tust du denn da?«, fragte Inge.

Die Zeit vertreiben. Husch. »Äh, ich ... - die Hände ausschütteln.«

Inge runzelte die Stirn und schaute zu Hans, der eben etwas gefragt hatte. »Also, was zuerst?« Er nahm offenbar eine Diskussion wieder auf, die sie mit meinem Eintreten unterbrochen hatten.

»Die Heizung«, sagten Burkhard und ich fast gleichzeitig.

»Die Sache mit Olof«, meinte Inge.

»Essen«, fügte Gustav hinzu, »hoffentlich bringt er was zu essen mit.«

»Ja, das ist alles wichtig«, meinte Inge, »aber das mit Olof sollten wir ihm schon gleich sagen, nicht irgendwann in zwei, drei Tagen, nach dem Motto: Ach ja, übrigens ...«

»First things first«, sagte Hans. »Und das Erste sind Essen und Wärme. Essen kann er vielleicht heute noch besorgen, Heizöl erst morgen.«

»Und das mit Olof können die Schweden machen«, sagte ich. »Ist ja eh irgendwie mehr ihr Problem.«

»Ihr Problem!« Inge wurde laut. »Das ist doch nicht nur ihr Problem. Und deine Wortwahl ...«

Jaja ... ist zum Kotzen, ergänzte ich im Kopf, ich weiß, das hat Sophie auch immer gesagt. Dann sagte ich »Halt´s Maul!« zu Inge - auch im Kopf.

»Der kommt nicht«, sagte Burkhard. »Der kommt heute nicht.«

»Ach Quatsch. Klar kommt Seamus. Wenn nicht, wäre er ein ...«

»Ein dummes Arschloch?«, fragte ich.

»Mindestens.«

»Wieso streiten wir uns eigentlich?«

»Wer streitet?«

»Ich meine nur«, sagte Burkhard, »dass wir gar...

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Autor

Der Berliner Autor Michael-André Werner, geboren 1967, ist seit vielen Jahren Mitglied der Lesebühne "Die Brutusmörder" und regelmäßig bei anderen Lesebühnen zu Gast. Seine Texte wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Außerdem hat er ein siebenwöchiges Autorenstipendium in Irland überlebt.