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Der Sprachabschneider und andere Erzählungen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
272 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am25.09.20151. Auflage
«Diese Kurzprosa ist nun tatsächlich geradezu überfrachtet mit politischen und historischen Anliegen, aber ihre gedrechselten Sätze schaffen eine Verpackung für das Erzählte, die wie eine Mumie die Form abgibt, in der sich der Inhalt dauerhaft halten wird. Denn wir wissen ja: Je mehr Zeit vergeht, desto wichtiger wird den Nachgeborenen die erstaunliche Verpackung und immer unwichtiger die Pharaone, deren Körperreste sie beherbergt.» (Ruth Klüger)

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,99
HörbuchCompact Disc
EUR9,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR5,99

Produkt

Klappentext«Diese Kurzprosa ist nun tatsächlich geradezu überfrachtet mit politischen und historischen Anliegen, aber ihre gedrechselten Sätze schaffen eine Verpackung für das Erzählte, die wie eine Mumie die Form abgibt, in der sich der Inhalt dauerhaft halten wird. Denn wir wissen ja: Je mehr Zeit vergeht, desto wichtiger wird den Nachgeborenen die erstaunliche Verpackung und immer unwichtiger die Pharaone, deren Körperreste sie beherbergt.» (Ruth Klüger)

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644537019
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum25.09.2015
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.9
Seiten272 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1548037
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Schattenbehälter

Wer eintrat in sein Zimmer, hatte den Garten vor Augen, kobaltblaue Papageien und purpurne Anemonen. Unter den Bäumen geht ein Bach, der von den Bergen kommt. Aber die Baumkronen sind verdeckt, da hätte das Zimmer höher sein müssen.

Das Haus, in dem Nikolaus Schimmel wohnte, war alt. Der Garten war älter, und flandrisch: das war der Gobelin, den Nikolaus Schimmel hatte. Bei Nikolaus Schimmel hätte einer einen chinesischen Gong kaufen können oder eine venezianische Ampel oder einen elfenbeinernen Gottessohn, der mit Silbernägeln an ein Kreuz aus Ebenholz geschlagen war.

Das, wofür Leute was geben, Zinngeschirr und Drehorgeln, Silberleuchter, Kuckucksuhren, Petroleumlampen, Truhen, Spinnräder und Schaukelstühle, das hatte Nikolaus Schimmel alles. Das Zinngeschirr war nicht geputzt, und an den Truhen die Eisenbeschläge mit den alten Jahreszahlen waren noch dieselben.

Nikolaus Schimmel hatte ein Gasthausschild aus Würzburg, das gab es vielleicht einmal, und eine Wiege, nur das Fußbrett war zerbrochen. Er hatte Klarinetten, Ziehharmonikas, eine Schlagzither, da fehlten die Begleitsaiten, Geigen, Bratschen, dazu Stimmgabeln. Er hatte Tabakspfeifen, vierzig verschiedene, und Hüte. Er hatte Barette, Federhüte, Filzhüte, eine Kapotte und einen Chapeau claque. Nikolaus Schimmel hatte Pferdegeschirre, meistens Kumtgeschirre, Kehrleinen für Schornsteinfeger, einen Schiffskompaß und Würfelbecher. Er hatte Münzen, nie weniger als zwei von jeder, damit er jede mit Avers und Revers auslegen konnte, Spieluhren, Kameen und Intaglios, Fingerringe, Medaillons, Uhrketten, Ohrringe, Agraffen und einen Stirnreif aus Gold. Nikolaus Schimmel hatte einen großen Laden, da waren die Wände Regale, und in der Mitte stand ein Ladentisch, die Hälfte für die Registrierkasse.

Alles, was Nikolaus Schimmel hatte, schrieb er auf. Alles, was Nikolaus Schimmel aufgeschrieben hatte, tat er in seinen Sekretär. Und alles, was er in seinen Sekretär getan hatte, war unverkäuflich.

Wer was brauchte, der kaufte bei Nikolaus Schimmel Nägel, Vogelkäfige, Grammophonplatten, Bratpfannen, Parfümzerstäuber, Schlüssel, Perlmuttknöpfe, Bilderrahmen, Blumenkästen, Spielkarten, Brennscheren, Holzpantoffeln und Plätteisen. Und auch sonst alles. Aber nichts, was unverkäuflich war.

Manches, was Nikolaus Schimmel hatte, das hatten auch andere. Aber alles, was manche anderen hatten, das hatte Nikolaus Schimmel. Und er hatte alle Spiegel.

Aber Nikolaus Schimmel wußte auch alles.

Er sah unterm Kreuz knien, wer knien mußte, und schrieb den Brief, den wer geschrieben hatte unter der oder der Petroleumlampe. Er sah die Uhr und wußte, wem sie die Zeit zugeteilt hatte, und er saß im Gasthaus, in Würzburg, aß vom Zinngeschirr und rauchte die und die Pfeife, da hing sein Filzhut neben der Kapotte, die gehörte wer, und ihr gehörte die Spieluhr, und das Medaillon trug sie auch. Nikolaus Schimmel zahlte mit seinen Münzen.

Und da konnte auch ruhig einer Sachen sagen, die ganz einfach klingen, Gezwitscher und Getschilp, Nikolaus Schimmel sagte gar nichts, er wußte, daß Sperlinge und Rotkehlchen und Zeisige reden, und er verstand sie, das genügte ihm. Er hatte einen großen Vogelkäfig. Jeden Tag stellte er den auf das Blumenbrett vom Hoffenster, manchmal ließ er ihn offen, aber sie kamen wieder, oder es waren andere.

Manchmal kam ein Mann in den Laden, kaufte das und das, hatte schon alles und hatte bezahlt, blieb noch, vor den Ringen und Medaillons, bei den Truhen hinten. Nikolaus Schimmel sagte nichts. Das sah Nikolaus Schimmel, ob einer bloß taxierte. Der Mann wollte gehen und hatte nichts gesagt, ging und kam wieder, sehen, was Nikolaus Schimmel alles hatte.

Aber die Spiegel, die Nikolaus Schimmel hatte, die hat keiner alle gesehen. Das Glas bemalt an den Rändern, und Spiegel die Rahmen, oder Glas, graviert: Wandspiegel. Die meisten in Holz, gekrönt von Ziergiebeln oder nicht, vergoldet, einer geschnitzt, lackiert manche. An manchem Kerzenhalter. Putztischspiegel, Necessaires, zierliche Kästchen, Kamm und Schere darin, und zierlichere Spiegel in Schildpatt. Handspiegel, schön gravierte Rückseiten, metallgerahmt, gedrechselte Griffe, in Holz gerahmt und vergoldet wieder. In Leder oder Metall Taschenspiegel, aufgeklappt ausgelegt im Regal, ein Bildnis die Innenseite des Klappdeckels, oder der Deckel fein ziseliert, vielleicht Silber. Aufgeschrieben waren sie alle. Nikolaus Schimmel sah in den Spiegel und sah darin jeden, der in den Spiegel gesehen hatte, und jeder, der in den Spiegel gesehen hatte, der hatte eine Geschichte, und jede Geschichte muß Nikolaus Schimmel aufschreiben.

Über seine Spiegel sprach Nikolaus Schimmel nie. Nur einmal, zu einem Mädchen, dem gefiel ein wunderbarer Spiegel, den Nikolaus Schimmel hatte. Das ist der Spiegel der Königin, hatte Nikolaus Schimmel gesagt, das Mädchen hatte gelacht, Königin. Ideen hat der. Nikolaus Schimmel brachte was durcheinander, er dachte, die Kapotte, und die Spieluhr mit den Intarsien, und das Medaillon, von dem immer die Kette gefehlt hatte, das gehörte alles dem Mädchen. Wenn er im Gasthaus saß, hängte er seinen Filzhut neben die Kapotte, in Würzburg.

Von allen Spiegeln am meisten liebte er einen, der war von seinem Vater. Alle Spiegel, die er hatte, gehörten ihm, aber den nannte er seinen Spiegel. Das war ein Handspiegel, in Holz gefaßt, mit einem runden Griff. Der Rahmen war mit Feldblumen bemalt, auch der Griff. Auf dem Rahmen oben saß ein Vogel, aus Holz geschnitzt, ein singender Vogel. Der Blumenmaler konnte aber mehr. Auf die Rückseite des Spiegels hatte er ein fernes Ufer gemalt, bergan Häuser, und im Vordergrund ein blaues Wasser, und Segelschiffe, mit Ballen beladen. Der Schiffskompaß von Nikolaus Schimmel hatte etwas damit zu tun. Obgleich, die Segelschiffe waren groß, mit Ballen beladen, aber ob sie seetüchtig waren, und die Berge im Hintergrund, die Sache war unentschieden. Die Häuser waren vielleicht Montreux oder Rapperswil, vielleicht war es der Genfer See oder der Vierwaldstätter oder die Sehnsucht nach dem offenen Meer, die nicht auskommt ohne die Berge im Rücken. Morgens, kaum, daß er wach war, sah er in seinen Spiegel, konnte sein Gesicht sehen und wußte, er lebt.

Wie zwei Alte in seinen Laden kamen, waren die Tage schon kälter. Die Lampe auf seinem Sekretär brannte immer. Warum wollen die Alten verkaufen, was der Mann unterm Arm trägt. Gut eingewickelt ist es, in ein warmes Schultertuch. Die Frau hat einen Pelzkragen, der hat gute Tage gesehen, und der Mantel des Alten, schwarzes Wolltuch, der Alte hält sich gerade. Nehmen Sie das, sagt er, es ist nicht ums Geld, und er wickelt aus, was er da unterm Arm hatte, die Frau hilft ihm, besorgt. Und Nikolaus Schimmel sieht schon, das sieht er selten. Weil er abwehrt, sagt die Alte, Es ist gut so. Die Kinder sind fort, die kamen sonst manchmal, was sollen wir noch mit der großen Wohnung.

Nikolaus Schimmel hält den Spiegel bloß. Da können die Alten beruhigt sein. Er sieht ihnen nach. Den Spiegel trägt er nach hinten, der muß eingeschrieben werden. Nach Hause gehen sie, die Alten.

Sieh nicht in den Spiegel, sagt Nikolaus Schimmel. Nach Hause gehen sie, im Regen. In der Diele ist es dunkel, auch an helleren Tagen. Dort hing der Spiegel, die Alten schweigen. Der Alte geht in sein Zimmer. Die Verwirrungen der Stadt, Unzahl der Gesichter, die Überfälle des Lärms, vergißt er, vor seinen Büchern, unter dem schwachen Holzgeruch der Regale. Wenn es dunkler wird, trinken sie ihren Tee, im großen Zimmer, am Tisch vor dem Fenster, das den Blick auf die Straße hat. Der Alte hat eine Decke um die Knie. Unter den Regen ist Schnee gemischt, die Schritte der Fußgänger bleiben sichtbar. Eine kleinere Wohnung wird wärmer sein, zwei Zimmer. Die Alten lieben auch nicht mehr die hohen Decken. Daß sie den Tausch fürchten, denkt jeder allein. Der Spiegel war das erste. Bilder, manche Möbel, Kristall, in den nächsten Wochen. Das läßt ihnen Zeit. Von den Kindern wird Post kommen.

Der Spiegel kommt ins Regal, vorn, dem Ladentisch gegenüber.

Einer, der nicht wußte, daß Spiegel unverkäuflich waren, bei Nikolaus Schimmel, oder wußte er es, kam in den Laden, ging herum, den kannte Nikolaus Schimmel nicht: Was Besonderes sollte es sein, altes. Den da, sagt er, und meint den Spiegel der Alten. Kostet? Nikolaus Schimmel ist leise, den nicht und keinen. Den muß ich haben, sagt der Mann. Hier, er zeigt Geld. Nikolaus Schimmel ist still. Da geht der Mann, sagt noch ein Wort und geht. Daß es Nikolaus Schimmel angst ist vor dem Spiegel der Alten.

Gegangen, eilig, sonst hättest du dir Zeit genommen, Alte, die Wäsche aufzuheben vom Fußboden, die Bücher hättest du ordentlich aufgestellt, Alter, deine Bücher. Und die Briefe, unterm Himmel liegen sie, im Schnee.

Wie fahrt ihr denn, so kommt ihr nicht weit, leg dir das Tuch um, und du, Alter, wo ist dein Mantel. Auf der Straße, im Scheinwerferlicht des zweiten Lastwagens, halten sie sich. Die Unbekannten auf dem ersten Wagen drängen sich aneinander, für zwei ist kein Platz mehr. Die Alte auf den zweiten Wagen, sagt einer.

Auf dem schwarzen Fußboden einer Turnhalle, die erfüllt ist von Geschrei und Dunkelheit, sitzt der Alte, suchend. Er ruft ihren Namen nicht, zu viele rufen Namen. Er sieht hinüber zur Tür, die in die Halle führt, wer von Flüchen hereingedrängt wird. Die Füße von Suchenden, die ihn nicht sehen, und die Rufe verwirren ihn.

Der andere Wagen fährt weiter. Hinter ihm fahren andere. Schnell ist für viele kein Platz auf dem zweiten. An der Tür einer Turnhalle fragt die Alte nach dem ersten Wagen aus ihrer Straße. Niemand antwortet ihr. Sie antwortet nicht auf...
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Autor

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.