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Die Erbschaft des Herrn de Leon

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am27.11.2014
Als Kind schon fühlte sich Wanda Wiericke in der Musik vollkommen aufgehoben. Später, als gefeierte Konzertpianistin, vermisste sie nichts und niemanden, auch nicht ihren Mann. Jetzt, in einem Dorf in den französischen Pyrenäen, spielt sie nur noch für sich. Und doch ist ihr, als fehlte etwas, als habe ihr geliebter Klavierlehrer Max de Leon, der eines Tages für immer verschwand und ihr einen Koffer voller Noten hinterließ, ein Geheimnis mit sich genommen, das alles erklären könnte ...

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR8,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR6,99

Produkt

KlappentextAls Kind schon fühlte sich Wanda Wiericke in der Musik vollkommen aufgehoben. Später, als gefeierte Konzertpianistin, vermisste sie nichts und niemanden, auch nicht ihren Mann. Jetzt, in einem Dorf in den französischen Pyrenäen, spielt sie nur noch für sich. Und doch ist ihr, als fehlte etwas, als habe ihr geliebter Klavierlehrer Max de Leon, der eines Tages für immer verschwand und ihr einen Koffer voller Noten hinterließ, ein Geheimnis mit sich genommen, das alles erklären könnte ...

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641159931
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum27.11.2014
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3477 Kbytes
Artikel-Nr.1549371
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

4

Die Fußbodenfliesen der Diele sind glatt, schwarz und weiß. Sie riechen verschieden, und mit der Zunge kann das Kind fühlen, wo eine schwarze Fliese an eine weiße grenzt. Morgens wischt Stina den Dielenboden mit Seifenwasser und schrubbt mit einem Stück von einer alten Decke über die Fliesen, bis sie glänzen. Stina kniet. Wanda krabbelt neben ihr auf dem Boden.

»Na komm«, sagt Stina. Wanda darf sich auf ihren breiten Rücken setzen: Stina, das Pferd. Die Sonne scheint durch das farbige Glas über der Tür und wirft wässrige Flecken auf den Boden. Sie wandern von einer Fliese zur nächsten, klettern am schwarzen Schirmständer empor, die Garderobe hinauf, verfärben Wandas Mäntelchen und, weiter oben, die Mäntel der Mutter.

In der Küche trinken sie Kaffee und Milch. Wanda, Emma und Stina. Auf dem großen Tisch liegen Messer, Gabeln und Löffel. Die beiden Frauen polieren die Gabeln, bis sie blitzen. Wanda bekommt ein Flanelltuch, um ihr eigenes Besteck zu putzen. Sie lehnt an Emmas Knie und riecht die saubere Baumwollschürze, das Putzmittel, das Parfüm.

Die Frauen lachen. Emma hat heute nachmittag Probe, und Wanda bleibt bei Stina. Sie werden im Garten Bohnen pflücken und zusammen die Himbeersträucher abgehen; vielleicht ist genügend dran fürs Abendessen. Ganz hinten im Garten stehen Birn- und Pflaumenbäume. Auf der Erde liegen kleine, harte Birnen, die Wanda in ihren Puppenwagen liest. Der Garten, das ist die Sonnenseite des Hauses.

Von der schwarzweiß karierten Diele aus führt eine steile Treppe nach oben, zu Egberts Arbeitszimmer, in dem es nach Tabak und Staub riecht. Wenn Stina dort saubermacht, muß Wanda vor der Tür warten. Sie rennt ungeduldig hin und her, ist nun selbst ein Pferd, das sich aufbäumt und galoppiert.

 


Im Garten legt sie sich zwischen die Himbeerspaliere, in ein langes Bett aus Gras. Die Himbeeren zeichnen sich als dunkle Flecken gegen die grünen Blätter ab, je länger sie hinsieht, desto zahlreicher und größer werden sie.

Zwischen den beiden grünen Wänden ist ein Himmel mit wandernden Wolken, die sich immer wieder zu etwas Neuem zusammensetzen. Kühe, Hasenohren, Gesichter. Wanda hört die Bohnen in den Eimer fallen, plock, plock. Immer dumpfer wird das Geräusch, bis der Eimer voll ist. Augen zu. Stinas gurgelndes Lachen weckt sie auf.

»Komm ruhig, sie sind beide weg, ich bin mit der Kleinen allein.«

Ein schwerer Gegenstand rumst auf den Boden. Wanda hört ein Klicken wie von einem aufspringenden Kofferschloß, dann einen tiefen, langen Seufzer.

»Ich mach uns was zu trinken«, sagt Stina.

Ein Lied kommt durch den Garten geweht, es hat einen brummenden Ton, der die Melodie vorantreibt. Wanda liegt wie gelähmt zwischen den Himbeersträuchern. Es klingt wie eine Grammophonplatte aus dem Arbeitszimmer, aber doch auch wieder ganz anders.

Wanda steht auf und rennt zu der Musik. Auf der Bank, die neben der Küchentür an der Hauswand steht, sitzt ein Mann mit einer Schirmmütze. Auf den Knien hat er eine Art Kasten, den er zusammendrückt und wieder auseinanderzieht. Auf der einen Seite des Kastens ist ein senkrecht stehendes kleines Klavier, auf der anderen eine doppelte Reihe von Knöpfen. Der Mann drückt auf die Knöpfe und Tasten, ohne hinzusehen, und tippt dazu mit einem Fuß auf den Boden. Wanda rennt zu ihm hin, bremst aber kurz vor ihm plötzlich ab. Stina kommt aus der Küche, eine Kanne Limonade in der Hand.

»Komm her, schau, das ist was für dich! Eine Ziehharmonika. Und das ist Koos.«

Wanda stellt sich dichter zu Koos, damit sie das Instrument besser hören kann.

Der Mann sieht sie kurz an und zwinkert ihr zu. Immer wenn die Melodie am höchsten steigt, hält er inne, um sie im nächsten Augenblick wieder weiterrollen zu lassen.

Stina schenkt Limonade ein. Sie setzt sich neben Koos auf die Bank.

Bevor der Vater nach Hause kommt, ißt Wanda mit Stina in der Küche. Stina legt den Zeigefinger auf die Lippen: »Schnute halten, ja? Koos ist unser Geheimnis, versprochen?«

Wanda legt die ganze Hand auf den Mund und nickt. Sie wiegt sich hin und her und singt das Lied, das sie im Garten gehört hat.

 


Im Eßzimmer stehen die Stühle mit den hohen Rückenlehnen und dem weichen Polsterstoff. Egberts Stuhl hat als einziger Armlehnen. Wanda ist frisch gebadet und setzt sich auf den Schoß der Mutter. Auf dem Tisch steht eine Schale Himbeeren. Egbert starrt auf die Zeitung auf seinem Schoß. »Du solltest es nicht tun, Emma, nicht jetzt. Es wird falsch aufgefaßt.«

»Es ist doch nur Musik! Und der Dirigent ist Niederländer!«

»Aber du singst auf deutsch.«

Emma schweigt. Sie summt eine Walzermelodie in Wandas Haar. Nach einer Weile schaut sie auf und sagt: »Jetzt die Fledermaus, und in der nächsten Saison eine französische Operette, das verspreche ich dir!«

Egbert seufzt und setzt sich mit der Zeitung unter die Leselampe.

Emma stellt ruhig die schmutzigen Teller und Gläser auf das Tablett.

 


Wanda hopst durch die offenen Schiebetüren ins Wohnzimmer, wo der große schwarze Flügel steht. Er hat drei dicke Beine, die nach unten hin schmaler werden und in kleine Räder münden, die jeweils auf einem Untersetzer aus Ebenholz stehen. Wenn man unter dem Flügel sitzt, das weiß Wanda, sieht man, daß sein Bauch nicht schwarz ist, sondern holzfarben: der glänzend lackierte Boden ist auf dicke Rippen geleimt. Zwei Stahlseile führen zu den goldenen Pedalen, die in eine schwarze, kurz über dem Boden endende Säule eingelassen sind.

Vor dem Flügel steht ein breiter Hocker, auf den Wanda hinaufklettert, damit sie an die Tasten kommt. Sie zieht das Deckchen weg, das auf der Tastatur liegt: Inseln aus jeweils zwei und drei erhöhten schwarzen Tasten in einem Meer aus matt glänzenden weißen. Kniend sucht Wanda das Lied, das sie heute nachmittag gehört hat, den wiegenden Gang von einem schweren und zwei leichten Tönen, über denen die Melodie tanzte. Sie findet, was sie sucht, spielt die schweren und die leichten Töne und denkt sich das Lied dazu.

Auf einmal steht die Mutter hinter ihr und summt mit. Jetzt wird Wandas Klavierspiel von einem richtigen Lied begleitet; es ist nicht ganz dasselbe wie das, das Koos gesungen hat, aber es hat Ähnlichkeit damit. Emma setzt sich ans Klavier und nimmt Wanda auf den Schoß. Mit dem Fuß gibt sie jedem Grundton, den ihre Tochter anschlägt, einen Hauch Pedal. Der Klang wird voller, hallt kurz nach, wenn die Taste schon wieder oben ist, und vermischt sich so mit den darüberliegenden leichten Tönen. Emma singt lauthals: »Glücklich ist ... wer vergißt ... was doch nicht zu ändern ist«, ihre Hände spielen nun auch und machen den Zusammenklang noch voller. Wanda hat rote Bäckchen bekommen und singt mit.

»Höchste Zeit, daß Wanda ins Bett kommt.«

Egbert steht neben dem Flügel. Er sieht aus, als wollte er den Deckel zuschlagen und Emma wegziehen.

Im Bett schlägt Wanda mit der linken Hand einmal gegen das schwere Kopfende, dann tickt sie zweimal leicht mit der rechten gegen die Bettkante. So baut sie das Lied auf, so kann sie weitersingen, ohne daß jemand sie hört, ohne daß ihr Vater sie stört. So kann sie sich stets etwas Neues für das Lied ausdenken, so daß es immer, immer weitergeht.

 


Es ist Sommer. Wanda und Emma sind mit dem Auto nach Egmond gebracht worden, zu einem weißen Haus, das auf einer Düne steht. Aus dem Dach hat man ein großes Viereck ausgespart und das Eckzimmer so zur Terrasse gemacht. Dort essen sie abends, mit dem Teller auf dem Schoß. Die Wellen rollen so heftig heran, daß sie sich überschlagen, und laufen den Strand hinauf, so weit sie können.

Wenn Egbert kommt, essen sie drinnen, am Tisch mit der karierten Decke. Vorher fegen sie aus, Emma mit dem großen Besen, Wanda mit dem kleinen. Haufenweise Sand auf den roten Fliesen. Wenn Egbert nicht da ist, sitzt Emma abends auf der Terrasse und liest. Wanda in ihrem Bett hört den Wellen zu.

Der Strandkorb ist wie ein kleines Zimmer. Man kann gut zu zweit darin sitzen. Wenn Wanda am Wasser spielt, macht Emma es sich bequem und liest. Der Strandkorb hat kornblumenblaue Polster. Von Zeit zu Zeit schaut Wanda auf, um zu sehen, ob ihre Mutter in dem weißen Kleid noch in den blauen Polstern sitzt.

Einmal am Tag laufen sie mit den Sandalen in der Hand zur Treppe. Auf den unteren Stufen versinken die Füße im Sand; erst wenn sie oben angekommen sind, schlüpfen sie in die Schuhe und spazieren auf der Strandpromenade zur Kaffeeterrasse. Sandkörnchen scheuern auf der Haut.

Um die runden Tische herum stehen weiße Stühle mit Lehnen aus verschnörkeltem Schmiedeeisen. Wanda sieht den Spatzen zu, die von Stuhl zu Stuhl fliegen.

Ein Glas Brause, ein Kännchen Tee.

»Kann ich hier irgendwo telefonieren?« fragt Emma den Kellner.

Er weist hinter sich auf das Haus: »Hinten im Gang.«

Bin gleich wieder da, sagt Emma. Die Eisenschnörkel im Nacken tun weh. Ein Spatz setzt sich auf den Kuchenteller, seine schwarzen Füßchen wie Drähte um den Rand gekrallt. Er pickt in den Kuchen und legt den Kopf schief, als schaute er Wanda an.

Sitzen bleiben, mucksmäuschenstill, bin gleich wieder da.

 


Abends steht Emma unter der Dusche und singt. Vor dem kleinen Spiegel im Schlafzimmer steckt sie sich die Haare hoch. Gut riechende Creme auf die Wangen. Lippenstift. Sie beißt in ihr Taschentuch: ein Mund aus zwei roten Strichen. »Hier, ein Kuß für dich. Wir machen ein bißchen Parfüm drauf.«

Wanda atmet tief durch die Nase ein. Etwas ist anders als sonst, aber was?

»Kommt Papa...

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Autor

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.