Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Gotthard

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
144 Seiten
Deutsch
C.H. Beckerschienen am14.07.20151. Auflage
Abgründig und komisch, sinnlich und raffiniert erzählt Zora del Buono in 'Gotthard' von den Arbeitern am Gotthardbasistunnel, von einer buchstäblich heißen Arbeitsatmosphäre und einer Leiche im Keller. Fritz Bergundthal, Eisenbahn-Fan aus Berlin und gepflegter, fünfzigjähriger Junggeselle, ist zum Gotthardtunnel ins Tessin gereist, um ein paar spektakuläre Fotos schöner Lokomotiven zu machen. Aber im Laufe eines einzigen Tages, von dem 'Gotthard' erzählt, wird er immer tiefer verstrickt in die freundschaftlich-familiären und erotischen Verwicklungen der Arbeiter rund um die Baustelle des Gotthardbasistunnels. Da sind die immer noch fesche, schrill alternde Dora Polli-Müller und ihre burschikose Tochter Flavia, Robert Filz mit seiner obsessiven Liebe zur brasilianischen Hure Mônica, Aldo Polli und Tonino, die in einer merkwürdigen, spannungsgeladenen Abhängigkeit aufeinander fixiert sind. Und die Heilige Barbara, Schutzgöttin der Tunnelbauer, ist gestohlen worden. Ein böses Omen, was sich im Laufe dieses Tages grässlich bewahrheiten wird.

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, studierte Architektur an der ETH Zürich und der HdK Berlin. Sie arbeitete als Gastdozentin an verschiedenen Universitäten, ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare, Kulturredakteurin und freie Autorin. Im mare Verlag sind ihre Romane Canitz' Verlangen (2008) und Big Sue (2010) erschienen sowie Hundert Tage Amerika. Begegnungen zwischen Neufundland und Key West (2011).
mehr

Produkt

KlappentextAbgründig und komisch, sinnlich und raffiniert erzählt Zora del Buono in 'Gotthard' von den Arbeitern am Gotthardbasistunnel, von einer buchstäblich heißen Arbeitsatmosphäre und einer Leiche im Keller. Fritz Bergundthal, Eisenbahn-Fan aus Berlin und gepflegter, fünfzigjähriger Junggeselle, ist zum Gotthardtunnel ins Tessin gereist, um ein paar spektakuläre Fotos schöner Lokomotiven zu machen. Aber im Laufe eines einzigen Tages, von dem 'Gotthard' erzählt, wird er immer tiefer verstrickt in die freundschaftlich-familiären und erotischen Verwicklungen der Arbeiter rund um die Baustelle des Gotthardbasistunnels. Da sind die immer noch fesche, schrill alternde Dora Polli-Müller und ihre burschikose Tochter Flavia, Robert Filz mit seiner obsessiven Liebe zur brasilianischen Hure Mônica, Aldo Polli und Tonino, die in einer merkwürdigen, spannungsgeladenen Abhängigkeit aufeinander fixiert sind. Und die Heilige Barbara, Schutzgöttin der Tunnelbauer, ist gestohlen worden. Ein böses Omen, was sich im Laufe dieses Tages grässlich bewahrheiten wird.

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, studierte Architektur an der ETH Zürich und der HdK Berlin. Sie arbeitete als Gastdozentin an verschiedenen Universitäten, ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare, Kulturredakteurin und freie Autorin. Im mare Verlag sind ihre Romane Canitz' Verlangen (2008) und Big Sue (2010) erschienen sowie Hundert Tage Amerika. Begegnungen zwischen Neufundland und Key West (2011).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406681851
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum14.07.2015
Auflage1. Auflage
Seiten144 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3191 Kbytes
Artikel-Nr.1747201
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
I
Fritz Bergundthal, 06:00

Fritz Bergundthal saß auf der Toilette und dachte diese drei Zahlen: 199, 19, 8. Er dachte oft an Zahlen, nicht immer an dieselben, aber manche Ziffernreihen setzten sich in seinem Gedächtnis fest, verdichteten sich zu einem stummen inneren Singsang, der ihn beruhigte. Auch Buchstaben-Zahlen-Kombinationen mochte er, Ae 6/6 zum Beispiel, Ae 6/6 sogar ganz besonders, als kleiner Junge schon. Er bevorzugte gewisse Ziffern, ob gerade oder ungerade spielte keine Rolle, aber die eckigen waren ihm lieber als die runden, vielleicht weil es weniger von ihnen gab, nur die 1, die 4 und die 7 kamen ohne Bögen und Kurven aus, zeigten sich streng und klar. Dass Ae 6/6 aus dem Vielerlei so herausragte, lag nicht an den Ziffern, sondern daran, wofür sie standen: eine der schönsten Lokomotiven, die je gebaut worden war, sechs Antriebe, sechs Achsen.

Bergundthal war zufrieden. Bereits der dritte Tag in Folge, an dem er morgens ungestört den Waschraum benutzen konnte, keine unflätigen Geräusche aus den anderen Kabinen, keine derben Gerüche, kein Gurgeln, Schaben, Schnauben. Einfach nur Ruhe. Er hatte die Deckenbeleuchtung nicht angedreht, als er eingetreten war, das Licht der Neonröhren war zu grell, am ersten Tag hatte ihm sein Spiegelbild einen Schrecken versetzt, tiefe Furchen um den Mund, dann diese Blässe, die Hohlwangigkeit, helle Augen hinter randloser Brille, ein Stubenhockergesicht, die schmale Variante. Er hatte darauf geachtet, dass er kurz vor Sonnenaufgang in die Sanitärräume ging, vor 05.53 also, er wusste, er wäre dann der erste, die anderen würden noch schlafen in ihren Wohnwagen, Wohnmobilen und Zelten. Bergundthal stand auf, knöpfte die helle Leinenhose zu und trat aus der Toilettenkabine. Auch an einem Ort wie diesem würde er keine bunte Freizeithose tragen, er war stets sorgsam gekleidet, im Winter trug er Schwarz und Grau, im Sommer Beige und Weiß, Herbst und Frühling gab es nicht, zumindest nicht in seinem Kleiderschrank. Alljährlich musste er zweimal entscheiden, wann er die Sachen aus dem Wandschrank im Gästezimmer mit jenen im Schlafzimmer tauschen sollte, er achtete dabei weder auf das Datum, noch verfolgte er den Wetterbericht, es waren Kleinigkeiten, durch die er sich zum Saisonwechsel entschloss, Tau auf dem Gras, ein Jugendlicher mit verspiegelter Sonnenbrille, an einen U-Bahn-Eingang gelehnt, Graugänse, die in Formationen über die Stadt zogen.

199, 19, 8. So viele Tote, dachte Bergundthal, während er sich im Dämmer rasierte, das Morgenlicht schimmerte durch trübe Dachkuppeln, in der Ferne hörte er das Rauschen des Flusses, der Brenno führte Hochwasser zu dieser Jahreszeit, eisiges Schmelzwasser tanzte um Geröllbrocken herum, herrliche Klarheit, von Weiden gesäumt. 199 umgekommene Arbeiter waren es beim Eisenbahntunnel gewesen, 19 beim Autotunnel, und bislang 8 auf der aktuellen Baustelle. Natürlich hatte er das alles unzählige Male durchdekliniert, Tote pro Tunnelkilometer, Tote pro Jahr, prozentualer Anteil der Italiener an den Verunfallten, sein Kopf ein einziges Zahlenreservoir. Manchmal kamen ihm auch die Lasttiere in den Sinn, all die Pferde und Maulesel, die während des Eisenbahntunnelbaus verendet waren, an Anämie und Erschöpfung, an Dynamitdampfvergiftung und Quarzstaub in der Lunge, die Kadaver blieben tagelang in dem heißen Loch liegen, ein höllischer Gestank musste tief im Berg drin geherrscht haben, damals, in den Jahren um 1880. Bergundthal hatte ein besonderes Verhältnis zu Pferden, nicht dass er reiten würde, dafür war er zu ängstlich, die Tiere zu groß, doch er war neben einer Rennbahn aufgewachsen, der Trabrennbahn Mariendorf im Süden Berlins, früher war sie berühmt gewesen, heute nur noch vorhanden. Sein Vater und er waren oft daran vorbeigegangen, hatten die Pferde in den Koppeln beobachtet und manchmal hatte der Vater die Geschichte von den brennenden Ställen erzählt, als er selber ein Junge gewesen war, von dem schrillen Wiehern, den Flammen in der Nacht, den flackernden Schattenfiguren an den Häuserwänden, alles musste nach jenem Luftangriff der Alliierten im Frühjahr 1943 lichterloh gebrannt haben, Szenen, die dem kleinen Fritz irgendwann so vertraut waren, als ob er sie selber erlebt und nicht nur erzählt bekommen hätte. Wenn er ein Pferd auf einer Weide sah, ging er stets hin, es war ein Zwang; er strich dem Tier dann über die Nase, fühlte den Schmerz all jener Pferde, die sein Vater hatte schreien hören.

Bergundthal verließ das Waschhaus, er sah, dass in einigen Wohnwagen schon Licht brannte, bei seinem Nachbarn etwa, einem malenden Rentner, der immer von Mittwoch bis Samstag aus einem Dorf am Luganersee hier ins Tal hochkam, der Campingplatz als Lebensort, fern der Frau. Der Mann kopierte holländische und flämische Meister, unter dem Vorzelt hatte er Bergundthal Fotos seiner Werke und ihrer Vorbilder gezeigt, die er in ein Album eingeklebt hatte, links das Original, rechts die Kopie, er interpretierte bemerkenswert frei. Zurzeit arbeitete er an einer Schwan-Serie, brütende Schwäne im Schilf, Schwäne mit drohend aufgerissenen Schnäbeln, fette Vogelsilhouetten im Abendrot; die fertigen Gemälde deponierte er auf dem Bügelbrett, bei trockenem Wetter stellte er ein paar vor dem Wohnwagen aus. Tagsüber stand er vor der Staffelei, dickbäuchig im Unterhemd, und kopierte ein Jagdstillleben von Pieter Boel, ein Haufen erlegter Tiere, der Schwan rücklings über einen Hasenleichnam drapiert, Flügel weit geöffnet, Füße zum Himmel gereckt. Bergundthal hatte den Namen des Mannes vergessen, Mauro oder Mario, vielleicht auch Marco, so gut er sich Zahlen merken konnte, so schlecht behielt er Namen.

Auf der Waschmaschine unter dem Vordach hockte ein grauer Kater und starrte ihn aus honiggelben Augen an, gedrungener Körperbau, dichtes Haar, ein kräftiges Tier mit gelassenem Naturell. Meist strich es um den Wohnwagen seiner Besitzerin herum, einer hochaufgeschossenen Frau Anfang dreißig, die offenbar auf dem Campingplatz lebte, in dem Wäldchen am Fluss unten, der Kopist hatte anerkennend über sie gesprochen, über Flavia, die Lastwagenfahrerin, Flavia la camionista. Bergundthals Italienischkenntnisse waren ordentlich, schließlich war er Lateiner, zudem belegte er seit Jahren einen Sprachkurs an der Volkshochschule am Barbarossaplatz, Kompetenzstufe C2. Seine Lehrerin Frau Dr. Mancini, die er mittlerweile Olivia nennen durfte, wies ihn mit nervtötender Regelmäßigkeit darauf hin, dass er die Konsonanten nicht behauchen solle, wenn er nicht wie ein Deutscher klingen wolle, was ihn stets verwirrte, er war sich eigentlich sicher, dass er ohne Hauchen auskam, doch Olivia verbiss sich geradezu in das Thema, es war ein steter Kampf. Nicht aspirieren!, schrie sie manchmal unvermittelt, und augenblicklich fiel er in sich zusammen, ein geknickter Teutone, über den ganz Italien sich lustig machen würde. Niemals allerdings hätte er ihr zu sagen gewagt, dass ihr gelegentlich in einer Art Steigerungswut hingeschleudertes stocksteifer Deutscher mehr wie stoggasteifa Toitscha klang, quasi auf O-tesoro-mio-Pizzabäcker-Niveau sei, denn: sie war die Lehrerin, er war der Schüler. Hier aber, in diesem Tessiner Tal, wo die Einheimischen untereinander einen Dialekt sprachen, der ihm komplett unverständlich war, fühlte er sich sicher, Olivia Mancinis Klauen entrissen, ein freier Mann in Ausdruck und Geist.

Der Kater sprang von der Maschine und rannte über die Wiese Flavia entgegen, die mit Necessaire in der Hand und Handtuch über der Schulter auf das Waschhaus zukam. Bergundthal zögerte; sollte er auf sie warten, um höflich einen guten Morgen zu wünschen, oder diskret verschwinden? Begegnungen bei den Sanitäranlagen vermittelten ihm eine unbehagliche Intimität, er musste an nackte Körper denken, wimperntuscheverschmierte Wattebäuschchen und gelbkrümelige Ohrenstäbchen, gerötete Hautstellen und das klebrige Schmatzen von Roll-On-Deodorants. Bergundthal mied solche Orte, besuchte weder Saunen noch Schwimmbäder, benutzte kaum je öffentliche Toiletten, Pissoirs schon gar nicht, die Männerbündelei am Urinal war ihm ein Graus, selbst heterosexuelle Männer schienen ein gewisses Wohlbehagen bei dieser Ich-zeig-dir-meinen-Situation zu verspüren, und wenn er an den Moment vor über zwanzig Jahren dachte, als ihm eine Hosenverkäuferin in einem Berliner Jeansladen quer durch den Raum zugebrüllt hatte: ey, biste Linkshänger oder Rechtshänger?, stieg ihm heute noch die Schamesröte ins Gesicht. Es war - und das sagte er sich nun schon seit fünf Tagen - eigentlich ein Wunder, dass er all die zwischenmenschlichen Prüfungen, die sich in der Enge eines Campingplatzes unweigerlich einstellten, bislang so souverän überstanden hatte, das nächtliche Schnarchen des Kopisten nicht etwa mit Widerwillen über sich ergehen ließ, sondern den Gedanken an diesen fleischigen Menschenberg, dessen Bauch sich nebenan rhythmisch auf und ab bewegte, im Gegenteil sogar beruhigend fand.

Flavia stieg die Stufen zum Waschhaus hoch, nickte ihm zu und stellte sich neben ihn, mit Abstand zwar, aber dennoch: neben ihn. Er sah, dass sie rauchte. Sie war hager, ja knochig, breithüftig und groß, größer als er. Dunkle Locken, nachlässig...
mehr

Autor

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, studierte Architektur an der ETH Zürich und der HdK Berlin. Sie arbeitete als Gastdozentin an verschiedenen Universitäten, ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare, Kulturredakteurin und freie Autorin. Im mare Verlag sind ihre Romane Canitz' Verlangen (2008) und Big Sue (2010) erschienen sowie Hundert Tage Amerika. Begegnungen zwischen Neufundland und Key West (2011).