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Seinetwegen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
C.H. Beckerschienen am11.07.20241. Auflage
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die große Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld? 'Seinetwegen' ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in dunkle, abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiß über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich und der HdK Berlin, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift «mare».
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextZora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die große Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld? 'Seinetwegen' ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in dunkle, abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiß über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich und der HdK Berlin, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift «mare».
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406822414
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum11.07.2024
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse992 Kbytes
Artikel-Nr.14636069
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


TEXTBEGINN


Hügelige Landschaft, herrliches Wetter, ein Maitag, alles grünt. Auf dem Weg in die Berge auf Straßenschildern plötzlich die vertrauten Ortsnamen, Uznach, Näfels, Kaltbrunn, immer wieder gehört, unwiderruflich eingegraben ins Kinderhirn, aber nie richtig zugeordnet: Wo ist der Unfall passiert, wo war das Krankenhaus, in das man die Verletzten überführt hat, wo fand der Gerichtsprozess statt? Wenn die Namen früher auftauchten, auch in Gesprächen anderer Leute, die nicht das damit verbanden, was wir damit verbanden, zuckte ich zusammen, Uznach, Näfels, Kaltbrunn; hoffentlich hört Mutter die schlimmen Wörter nicht.

Seit Jahren denke ich, wenn ich eines dieser Ortsschilder passiere: Ob E. T. wohl noch lebt? Er müsste Mitte achtzig sein. Wie hat er die letzten sechzig Jahre verbracht, mit seiner Schuld? Und dann der Gedanke: Ich muss ihn suchen, ihn aufsuchen. Den Töter meines Vaters.

Ich kenne nur seine Initialen: E. T.

Als Kind fantasierte ich oft, dass ich ihn finde und zur Rede stelle und damit Mutter räche. Es waren melodramatische innere Filmchen, die ich da produzierte, ich hatte die Dimension des Geschehens überhaupt nicht erfasst. Mit zehn versteht man die Endgültigkeit von Tod noch nicht (falls man sie überhaupt jemals versteht). Später verflog der Gedanke.

Erst in letzter Zeit taucht er wieder auf.

Vaters Schwager, mein Patenonkel, Besitzer und Lenker des VW Käfers, sagte im Alter einmal, es sei das Drama seines Lebens, das ihn nie losgelassen habe. Hundertfach, vor allem nachts, die Überlegungen, hätte ich nicht das Steuer rumreißen können, habe ich etwas übersehen, hätte ich schneller reagiert, wären wir später losgefahren oder früher, nur eine Minute später oder früher, es wäre nicht passiert. Er, der Unschuldige, machte sich Gedanken über seine Schuld, während der Schuldige sich Gedanken um seinen Ruf machte.

Lindgrüne VW Käfer gab es viele. Da saßen Menschen drin, die nichts von unserer persönlichen Käfer-Tragödie wussten. Es ist ein Auto, das man gern anschaut, fröhlich, ein brummendes buntes Tier, für viele war es ihr erstes Auto überhaupt, ein Freiheitsversprechen; für uns war es der Tod. Im Herbst 1938 gingen die ersten Exemplare in Betrieb, es war das Auto, das sich Adolf Hitler für sein Volk gewünscht und bekommen hat. Bis 2002 war der Käfer das meistverkaufte Auto überhaupt, dann wurde er abgelöst vom VW Golf.

Wie viele Menschen starben seit 1938 in einem VW Käfer? Man ist überfordert mit dieser Frage. Es werden Abertausende sein.

1963 besaßen nur wenige Autos Kopfstützen, obwohl schon 1921 ein Amerikaner namens Benjamin Kratz ein Patent für sein headrest erhielt (Kopfruhe, ein schönes Wort). Hätte das Auto des Patenonkels (Onkel klingt so alt, er war dreiundzwanzig, als ich zur Welt kam, und vierundzwanzig, als der Unfall geschah) Kopfstützen gehabt, hätte Vater, den ich bestimmt papà genannt hätte, wahrscheinlich überlebt. Der Aufprall brach ihm das Genick. Das ist auch etwas, was sich der Patenonkel vorwarf: Hätte der Wagen doch Kopfstützen gehabt.

Ein Karl Meier aus dem Saarland, der dort das Kfz-Handwerk gelernt hatte und dann in die Schweiz zog, um Faltdächer für Cabriolets zu entwickeln, kehrte 1936 nach Deutschland zurück, ging zu Opel nach Rüsselsheim, wo er den Kadett von seinem letzten Stück Holz befreite. Dann der Schritt zur Gesellschaft zur Vorbereitung des deutschen Volkswagens, die Ferdinand Porsche leitete. Meier sollte sich um die Innenausstattung der Autos kümmern, für 430 Reichs-Mark monatlich, achtzehn Patente sind ihm zuzuschreiben. Der Käfer wurde sein Paradestück. Nach dem Krieg verließ er VW, eröffnete in einer Holzbaracke eine Werkstatt, erfand den bunten Schonbezug für Autositze, VW übernahm die Idee. 1952 gründete er die Firma Kamei (Karl Meier), es folgte seine vielleicht bahnbrechendste Erfindung nebst dem Körperformsitz: die aufsteckbare Schlummerrolle, die auch als Kissen oder Armlehne verwendbar war. Die Kritik war groß, Autofahrer könnten einschlafen, hieß es. Meier entgegnete: Ein «Autofahrer muss es bequem und komfortabel haben, umso entspannter kann er sich auf den Verkehr konzentrieren. Außerdem schützt die Rolle das Genick bei einem Unfall.» Aus dieser Schlummerrolle wurde die erste Sicherheitskopfstütze der Welt, im September 1969 von der TU Berlin geprüft: «Die Belastungen im Kopf und in der Halswirbelsäule werden deutlich herabgesetzt, und Schleuderbewegungen des Kopfes werden weitgehend verhindert.»

Immer, wenn ich Oldtimer ohne Kopfstützen sehe, erschrecke ich, fantasiere das Schlimmste, sehe den Aufprall vor mir, den nach hinten und wieder nach vorne geschleuderten Schädel, höre ein knackendes Geräusch, möchte an die Scheibe klopfen und die Insassen warnen und tue es doch nicht.

Der allererste Kinofilm, den ich geschaut habe, war Bambi. Tante Anni nahm mich mit ins Kinderkino am Bellevueplatz in Zürich, so hieß es auch: Kino Bellevue. Heute ist es ein für seine kitschige Dekoration berühmtes Café. Fast jedes Zürcher Kind dürfte dort seinen ersten Kinofilm gesehen haben, 1921 war das Lichtspielhaus eröffnet worden. Wenn man aus dem Kino trat, war da gleich die Riviera, eine Treppenanlage an der Limmat, die in den 1980ern berühmt wurde, wir, die linke, gern kiffende Jugend hockte dort stundenlang auf den Stufen herum; gegenüber waren, so hat man später erfahren, Kameras installiert, der Staat bespitzelte seine Kinder, wir waren Teil des Fichenskandals, der Jahrzehnte dauerte und 1990 endete. Im Laufe der Zeit hatten sich 900.000 Aktennotizen des Staatsschutzes angesammelt. Unvergesslich ein Auszug aus der Fiche von Max Frisch: «Reiste am 23.8.48 nach Polen zur Teilnahme am Weltkongress der Intellektuellen für die Sache des Friedens».

Bambi ist mir in Erinnerung als ein Ereignis, bei dem ich viel weinte und am Ende trotzdem glücklich war. Ich weinte um die totgeschossene Mutter des kleinen Hirschs, ich weinte darum, dass er nun auch Halbwaise war (so wie ich), ich weinte, weil Bambi so viele Freunde hatte, die sich kümmerten, das Kaninchen Klopfer, das Stinktier Blume und Freund Eule. An jenem Kinotag habe ich angefangen, Jäger zu verachten, und es hat nichts genützt, dass ich Jahrzehnte später Die Leidenschaft des Jägers des großen Psychoanalytikers Paul Parin gelesen habe, der selbst Jäger war, worin er von ritualisierter Gewalt spricht, von Gier und Wollust, er schreibt, dieser Trieb sei dem Menschen angeboren, was ich erstaunlich finde, wo doch nur 0,3 Prozent der Bevölkerung Jäger sind.

Im selben Kino habe ich auch Herbie - Ein toller Käfer gesehen, der 1969 in die deutschsprachigen Kinos kam. Im Original heißt er: The Love Bug. Der weiße VW Käfer führt ein Eigenleben, entscheidet Dinge, fährt über Wasser, ist ein sympathisches Wesen, eine beseelte Maschine. Herbie wird im Film zum Rennwagen, auf seiner Kühlerhaube thront die Nummer 53. Ein richtiggehender Herbie-Kult setzte ein, VW Käfer überall, auf Plakaten, in Zeitungen, in Spielwarenläden. 1953 ist das Jahr, in dem sich meine Eltern kennenlernten, die 53 ihre Schicksalszahl. Ich stelle mir Mutter vor, wie sie überall von Herbie verfolgt wird, der so munter Unfällen entkommt, sich mehrfach überschlägt, quer über Straßen rast, ein richtiggehender Rowdy mit Herz ist dieser Wagen, nichts kann ihn töten.

Später, die Vorbereitung auf die Firmung. Der Pfarrer vom Nachbarort (in unserem gab es nur eine protestantische Kirche, ich war aber katholisch) dreht mit uns über mehrere Wochenenden einen Kurzfilm. Gruppengefühl, Gemeinschaftserlebnis. Wir sind vierzehn Jahre alt. Ich spiele die Hauptrolle. Die Erinnerung an den Film ist weg, aber die zentrale Szene habe ich nicht vergessen, den plot point. Ich sitze am Steuer des VW Käfer (!) des Pfarrers, auf dem Schoß (!) dieses Mannes, dessen Arme mich auf Hüfthöhe umschlingen, um möglichst unsichtbar den Wagen zu steuern, während ich tue, als führe ich. Ich erinnere mich an ein Engegefühl, an Atmen hinter mir, aber auch an die freudige Aufregung, am Steuer sitzen zu dürfen. Und an Ketchup auf...
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