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Fremdschläfer

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
222 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.09.20151. Auflage
Sich als fremden Körper erfahren in einem neuen Land und zugleich einen Fremdkörper entdecken im eigenen Leib. In Verena Stefans Roman überkreuzen und ergänzen sich die beiden Grunderfahrungen Krankheit und Immigration in sehr persönlicher und poetischer Weise. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Verena Stefan, geboren 1947 in Bern, arbeitete als Schriftstellerin, Übersetzerin und Dozentin für kreatives Schreiben viele Jahre in Berlin und (West-)Deutschland. Mit dem Prosaband ?Häutungen? gelang ihr 1975 der literarische Durchbruch. Es folgten u.a. ?Es ist reich gewesen? (1993), ?Rauh, wild und frei. Mädchengestalten in der Literatur? (1997) und ?Fremdschläfer? (2007). ?Häutungen? ist ein in viele Sprachen übersetzter Bestseller feministischer Literatur geworden. Seit 2000 lebt die Autorin in Montreal.
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Produkt

KlappentextSich als fremden Körper erfahren in einem neuen Land und zugleich einen Fremdkörper entdecken im eigenen Leib. In Verena Stefans Roman überkreuzen und ergänzen sich die beiden Grunderfahrungen Krankheit und Immigration in sehr persönlicher und poetischer Weise. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Verena Stefan, geboren 1947 in Bern, arbeitete als Schriftstellerin, Übersetzerin und Dozentin für kreatives Schreiben viele Jahre in Berlin und (West-)Deutschland. Mit dem Prosaband ?Häutungen? gelang ihr 1975 der literarische Durchbruch. Es folgten u.a. ?Es ist reich gewesen? (1993), ?Rauh, wild und frei. Mädchengestalten in der Literatur? (1997) und ?Fremdschläfer? (2007). ?Häutungen? ist ein in viele Sprachen übersetzter Bestseller feministischer Literatur geworden. Seit 2000 lebt die Autorin in Montreal.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105603482
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum15.09.2015
Auflage1. Auflage
Seiten222 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse748 Kbytes
Artikel-Nr.1820725
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Die Klarheit, Durchsichtigkeit des Wassers. Mitte Juni kann man nicht mehr am Ufer stehen bleiben. Die Zeit verläuft geordnet in ihren Bahnen. Menschen kommen tagsüber an den See, Tiere nachts. Bäume und Unterholz wachsen dicht an dicht an den See heran. Wie Grasbüschel, wie Borstenpinsel schießen die Baumstämme vom Uferrand hoch. Man kann sich dem Wasser nicht vom Wald her nähern. Er schirmt ab, umschließt, verwehrt den Zugang. Nur wer in den Wald gehört wie die Tiere kann überall ans Wasser gelangen. In einem Dürresommer hat man Luchse gesehen. An einer Stelle ist der See für Menschen zugänglich, dort wurde vor langer Zeit eine Lichtung geschlagen. Rechts davon fließt Wasser aus einem anderen See herein, uneinsehbar hinter morschem Holz, dümpelnden Baumstämmen und einem Biberdamm. Der Wasserspiegel ist dieses Jahr schon ungewöhnlich hoch. Nach rechts schwimmt man in die Zone der abgestorbenen Baumstämme hinein

»Die Biber haben der Landschaft eine Farbe geschenkt.«

Mit einer beiläufigen Erkenntnis tauchst du einen Schritt tiefer in die Fremde ein. Im sechsten Sommer in Québec laufen Erfahrungen, Beobachtungen aus fünf anderen Sommern neben dir her. Du fügst in die Landschaft, ins Gespräch einen Kommentar ein, du hast etwas beobachtet, erkannt, du findest einen Satz dafür, mit jedem Satz nistest du dich im Land ein. Das Ankommen hat nicht aufgehört, es geht mit anderen Sätzen weiter, mit dem Grau der spitz abgenagten Baumstümpfe, einem verwitterten Gesteinsgrau, von der Glut des Sommers und der beißenden Winterkälte ausgebleicht, mit der Luft zwischen den abgestorbenen Bäumen, die auch von diesem hellen Grau angehaucht wird, rauchig, verschleiert

Von Montréal aus fährt man den Boulevard Papineau hoch bis zum Pont Papineau und über einen Fluß, den Rivière de la Prairie, dann die 25 nach Norden bis zu einem kleinen Ort, und wie in jedem Ort biegt man dort links ab, rechts ab, genau, die Wegbeschreibung notierst du nebenbei, wie die Einheimischen mit dem Telefonhörer am Ohr und den Gedanken woanders, der gute Obst- und Gemüseladen an jener Ecke, ja, Métro Supermarkt gleich am Eingang, genau, dann auf einer Nebenstraße bis zum Depanneur im Wald und auf einer dirt road weiter bis zum Waldweg in die Siedlung. Manche Häuser wirken schäbig, kahl, schmucklos. Zweckmäßig. Sehen aus, als seien die Holzverschalungen, Kunststoffverschalungen gerade notdürftig zusammengeschraubt und Wellblechdächer daraufgenagelt worden

 

Der See ist von jener angenehmen Größe, in der man morgens als erstes und abends als letztes bequem hin- und herschwimmen kann, wenn das Wasser warm ist. Es ist, Mitte Juni, noch eisig kalt. Über Nacht jedoch ist mit Gewalt der Hochsommer ausgebrochen. Montréal stöhnt unter verfrühten Hundstagen und unerträglicher Luftfeuchtigkeit. La canicule! sagt man, wenn man sich auf der Straße trifft. Man geht zum Dépanneur und sagt beim Hineingehen: La canicule! und Frau oder Mann hinter dem Ladentisch antwortet: La canicule! Und so unterhält man sich tagelang, nächtelang mit wildfremden Menschen, vielleicht fügt man mit Nachdruck noch Zahlen hinzu, 34!, trente-quatre, und nachts nicht mehr unter 28!, vingt-huit!, infernal!, höllisch!

Hier am Ufer ist alles einfach. Man schaut zu, wie die Libellen über dem Wasser tanzen, wie weiße Margeriten, orangefarbenes Habichtskraut, wilde Wicken gleichzeitig am Ufer aufbrechen. Innerhalb von zwei Stunden steht eine voll erblühte Sommerwiese da. In einem der Ferienhäuser warten zwei Katzen darauf, daß man ihnen Futter hinstellt, mit ihnen spricht und sie streichelt, wenn sie Zeit dafür haben

 

In der Wegbeschreibung sind dir alle Angaben vertraut, auch Art und Verlauf der Straßen, die Geschichte geht einfach weiter, im Auto, dann wieder zu ebener Erde, dann barfuß auf Holzfußboden im Haus, auf der Holzterrasse vor dem Haus, am roten Behälter mit der rot leuchtenden Flüssigkeit vorbei, die Kolibris anlockt, die summenden Vögel, hummingbirds, dann auf einem Fußpfad zwischen Birken und Ahornbäumen hindurch, ein kurzes Stück auf dem breiten Waldweg bis zur Wiese am Ufer und einer großen, sanft abfallenden Steinplatte, die von der Sonne angewärmt ist. Wie die Schären in Schweden, denkst du, Moose, Flechten, Birken, eine nordische Landschaft. Man ist ja stets versucht, die Dinge, die man zum ersten Mal sieht, mit Dingen zu vergleichen, die man kennt, damit man nicht von zu viel Unbekanntem überwältigt wird.

Am linken Seeufer stehen Birken. Ihre glänzend weißen Stämme sind der Länge nach im Wasser abgebildet. Dort will ich hin, sagst du zu Lou, zwischen gespiegelten Baumstämmen hindurch schwimmen. Das Verlangen, ins Wasser einzutauchen und endlich zu schwimmen, ist übermächtig

Die Klarheit, Durchsichtigkeit des Wassers. Du schwimmst in eine unter Wasser gemalte Landschaft hinein. Nach fünf Zügen sterben dir alle Gliedmaßen ab, nach Luft schnappend rennst du ans Ufer, neugeboren, die Badesaison ist eingeläutet. Dreißig Schritte zum Haus zurück, am verblühenden Frauenschuh im Wald vorbei, schnell, schnell ins Badezimmer, aus dem kalten Badeanzug hinaus und an den Ofen. Jemand hält den Film an. Der Atem erschrickt dir zwischen den Zähnen, bleibt stehen, dein Herz rast, galoppiert davon. Was ist das? fragst du tonlos, bereits in dich verkrochen, nach einem Schlupfloch suchend, wo niemand dich sehen kann. Was ist das, das darf nicht sein, dafür gibt es kein Wort, das kann nicht sein, ich, ich, du mußt tasten, nach dem, was da zu sein scheint, was du eben gespürt, sogar gesehen hast, eine Einziehung von der gerunzelten Brustknospe zum Schlüsselbein hoch, eine Delle in der linken Brust, was ist das, da, unter der Delle ist etwas, beinhart. Instinktiv streckst du beide Arme vom Körper weg, steckengerade von der Gefahrenzone weg, nicht noch einmal diesen Fremdkörper spüren, von dem du nichts weißt, nichts wissen willst, alle zehn Finger am Ende der Arme abgespreizt

Du könntest gestochen scharf erkennen, um was es geht, aber gerade das möchtest du um alles in der Welt vermeiden. Du frierst es ein. Der Atem kehrt von selbst zurück, auch das Herz schlägt weiter, holpernd, gepreßt. Nur die Zeit bleibt stehen

 

Die Zeit brauchst du zum Weitergehen. Wenn das Weitergehen aufhört, fällt die Zeit flach. Du hörst, wie Lou am Ofen rumort, Holz nachlegt, mit dem Schürhaken im Feuer stochert. Durch die halboffene Tür siehst du, wie sich eine Katze durch die Katzentür ins Haus hineinschiebt, buschig, ganz aufgebauscht, vom Wald den Gerüchen den Fährten, und schon ist sie wieder hinaus, totally absorbed in the adventure called life, hörst du Lou sagen, du hörst ihr glückliches Auflachen, siehst sie am Ofen stehen, eins mit sich und der Welt, die Katzen kommen und gehen, wie sie wollen, da sind Sprachen gewesen, Zeilen, einzelne Wörter, die von den Samtaugen ihrer Brüste ausgingen, there are those golden-brown pansies, des pensées, you know

Du sehnst dich mit aller Macht nach der gebogenen, gekrümmten Zeit, nach Leben, das Berg- und Talbahn fährt, wo du dich manchmal festklammerst oder elend laut schreien mußt, aber mitten im Leben bist, nicht auf einem Abstellgleis, nicht entgleist

Wenn bis dahin etwas zur Ferne gehört hat, ja, wenn es so unendlich fern gewesen ist, außer Reichweite, daß es jenseits der Ferne angesiedelt schien, noch hinter dem Horizont, in einem anderen Land, und es urplötzlich, mit einem einzigen Blick, einer Berührung, einem einzigen Wort greifbar nah ist, so daß du nur noch die Hand ausstrecken brauchst, um es dingfest zu machen, dann entsteht ein Riß im Zeitgefüge, panische Stille, Lähmung. Wenn alles wieder zu kribbeln beginnt und auch die Augäpfel aus der Erstarrung in eine vertraute Stellung zurückrollen, verwackelt der Ablauf der Minuten, dann der Stunden, dann der Tage, die wie Sekunden zusammenschnurren, laut klopfend, oder sich im Gegenteil so flach in die Länge ziehen, bis auch sie hinter dem Horizont ins Nichts fallen

Beide Arme jetzt um dich geschlungen, verkriechst du dich voller Schrecken und Scham in einem uneinsehbaren Raum, wo es dunkel ist, wo du wie ein Tier erst wieder zum Vorschein zu kommen brauchst, wenn die Wunde verheilt ist. Du schaust auf plötzlich ganz verschiedene Brüste hinab. Wie sollte etwas so Beinhartes in die Brust einwandern? Wie ist es gewachsen, unsichtbar, im Inneren, was spielt sich jetzt, gerade jetzt im Inneren ab, innen im Körper, was hat sich die ganze Zeit dort abgespielt, die längste Zeit, warum hast du nichts gemerkt, wie kann das angehen, daß so etwas von Jetzt auf Nachher zum Vorschein kommt, als sei es durch das eisige Wasser zusammengeklumpt und bis unter die Hautoberfläche emporgetrieben worden?

 

Du hast die Dunkelheit immer um ihrer Schätze willen geliebt, die Träume, das Unausgesprochene, Unaussprechliche, die Vorräte, die Schrift

In der Kindheit werden die alltäglichen und die besonderen Schätze im Keller aufbewahrt. Die Äpfel haben ihr eigenes Gestell, die Kartoffeln auch. In einem anderen Raum stehen die gewöhnlichen Einmachgläser mit den Marmeladen, Konfitüren, den Gelees und die besonderen aus dickem grünen Glas, Bülacher Glas, mit den eingeweckten Pfirsichen und Aprikosen. Für später, für später, flüstern die Gläser, wenn es draußen kalt ist, wenn an den Bäumen nichts mehr wächst. Mit den Schätzen, die man anfassen kann, ist es einfach, man geht eine Treppe hinunter in den halbdunklen Raum, in den durch ein schmales Fenster ein Lichtstrahl fällt, und sieht sie vor sich. Am Sonntag steht dort ein großes weißes Emaillebecken mit schimmernden Eisblöcken, vor dem...
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