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Unter dem Eis

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
368 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am01.09.20161. Auflage
Ein Junge und eine Vogelforscherin verschwinden scheinbar spurlos. Zwischen beiden gibt es keinerlei Verbindung. Die Ermittlungen führen Judith Krieger und ihren Kollegen Manni Korzilius mitten hinein in ein Geflecht aus falsch verstandener Liebe, Mobbing, Vertrauen und Verrat. Und berühren sie bald sehr viel mehr, als ihnen lieb ist. Judith reist nach Kanada, ins Revier der Eistaucher, deren geisterhafter Schrei als Stimme der Wildnis gilt. Doch ist das die richtige Spur?

Gisa Klönne, geboren 1964, lebt als Schriftstellerin und Schreibcoach in Köln. Ihre Kriminalromane um die eigenwillige Kommissarin Judith Krieger erreichten eine Gesamtauflage von über einer halben Million, wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit Auszeichnungen bedacht, unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis. Ihr autobiografisch inspirierter Familienroman »Das Lied der Stare nach dem Frost« war ein SPIEGEL-Bestseller.
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Produkt

KlappentextEin Junge und eine Vogelforscherin verschwinden scheinbar spurlos. Zwischen beiden gibt es keinerlei Verbindung. Die Ermittlungen führen Judith Krieger und ihren Kollegen Manni Korzilius mitten hinein in ein Geflecht aus falsch verstandener Liebe, Mobbing, Vertrauen und Verrat. Und berühren sie bald sehr viel mehr, als ihnen lieb ist. Judith reist nach Kanada, ins Revier der Eistaucher, deren geisterhafter Schrei als Stimme der Wildnis gilt. Doch ist das die richtige Spur?

Gisa Klönne, geboren 1964, lebt als Schriftstellerin und Schreibcoach in Köln. Ihre Kriminalromane um die eigenwillige Kommissarin Judith Krieger erreichten eine Gesamtauflage von über einer halben Million, wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit Auszeichnungen bedacht, unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis. Ihr autobiografisch inspirierter Familienroman »Das Lied der Stare nach dem Frost« war ein SPIEGEL-Bestseller.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492974028
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum01.09.2016
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.2
Seiten368 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2934 Kbytes
Artikel-Nr.1860916
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Sonntag, 24. Juli

Im ersten Moment ist da nur ihre Angst. Sie reißt die Augen auf und nimmt das fahle Frühmorgenlicht wahr, ihr vertrautes Zimmer. Eine Weile liegt sie da und hört dem Balzen und Zetern der Amseln vor ihrem Fenster zu, dann denkt sie an Barabbas und ihr müder Körper verkrampft sich in der Konzentration des Lauschens. Närrisches Weib, bangst um deinen Köter wie andere um einen Mann, schilt sie sich. Doch erst als sie sich davon überzeugt hat, dass das kaum wahrnehmbare heisere Raspeln im Flur Barabbas Atem ist, findet sie den Mut, sich aufzusetzen.

Der Schmerz schießt ihr in Arme und Schultern, noch bevor ihre Füße die verschlissene Wolle des Webläufers berühren. Reiß dich zusammen, lass dich nicht gehen, am Morgen ist es immer am schlimmsten, aber du weißt, dass du trotzdem aufstehen kannst. Sie presst die Lippen zusammen. Abnutzung und jahrzehntelange Fehlhaltungen, zu viel Arbeit und Anspannung, das ist alles, was die Ärzte dazu sagen. Nehmen Sie Schmerztabletten, schonen Sie sich. Ihre wahren Gedanken verstecken sie hinter dem kalten Lächeln der Jugend und scheinheiligen Fragen. Sie wohnen allein? Wie alt sind Sie, Frau Vogt? 82? Ein großer Garten? Und ein Schäferhund? Wird Ihnen das nicht zu viel? Und dann der Braunkohletagebau - das ist doch nicht mehr schön hier in Frimmersdorf. Sie sind alt, was erwarten Sie, scheren Sie sich zum Teufel, das ist es, was die Ärzte eigentlich sagen wollen, doch diesen Gefallen wird sie ihnen nicht tun.

Die Hitze des heranbrechenden Tages hängt wie eine Ahnung über den Beeten. Ich sollte mich jetzt sofort um die Zucchini und die Bohnen kümmern, die Erdbeeren pflücken, bevor die Amseln sie holen, nachher wird es zu warm sein, denkt sie. Der Kessel summt, sie gießt Bohnenkaffee auf, lässt Butter und Honig auf einer Scheibe Toastbrot verlaufen, füllt Barabbas Napf mit Wasser und wirft ihm ein paar Hundekuchen zu. Er drängt sich an sie und sie krault seine Ohren, ignoriert den Schmerz, mit dem ihr Körper die leicht gebückte Haltung augenblicklich straft. Barabbas schlabbert drinnen sein Wasser, sie schlürft am Verandatisch vor der Küche ihren Kaffee. Halb fünf. Falls es ein Omen für Unglück gibt, bemerkt sie es nicht.

So sollte es immer sein, überlegt sie stattdessen. Anfang, nicht Ende. Ein Tag, so sauber und neu, geschaffen wie für uns allein. Ein paar Amseln fliegen auf und in Barabbas braunen Augen glimmt Sehnsucht. Wann haben sie den letzten längeren Spaziergang gemacht? Wann hat er über die Felder streifen können? Vorgestern? Vor einer Woche? Sie erinnert sich nicht mehr. Noch ein Fluch des Alters, diese Gedächtnislücken. Man braucht wirklich sehr viel Selbstbewusstsein, um sich nicht unterkriegen zu lassen vom Leben. Je älter man wird, desto mehr. Sie trägt die leere Tasse in die Küche und nimmt den Schäferhund an die Leine, auf einmal selbst ganz beseelt von dem Gedanken an einen ausgedehnten Streifzug. Wird sie die Erdbeeren eben pflücken, wenn sie zurückkommen, und das Gemüse muss bis zum Abend warten.

Sie wählt den Weg durch den Ort, und auch wenn es noch früh ist, löst sie Barabbas Leine nicht. Solange sie sich korrekt verhält, kann niemand behaupten, dass sie für ein so großes, starkes Tier nicht mehr die Kraft hat und deshalb eine Gefahr für ihre Mitmenschen darstellt, dass der Hund eingeschläfert und sie ins Heim gehört. Am Dorfrand, hinter den Sportplätzen, lässt sie Barabbas laufen. Der Kraftwerkskoloss schläft nicht. Dampf zischt in den Morgenhimmel, die Werkssirene heult, die Förderbänder transportieren Braunkohle, rumpeln und quietschen. Sie wählt den Weg durch den Tunnel, überquert den Fluss, an dem später die Angler sitzen werden. Barabbas hat offensichtlich einen guten Tag, stiebt davon wie ein Welpe. Nach einer Weile verlässt er die Straße und schnürt in ein Wäldchen. Sie folgt ihm langsam, darauf bedacht, nicht zu stolpern. Die Sonne steigt jetzt höher, aber noch brennt sie nicht, der Duft wilder Kamille liegt in der Luft.

Das Aufheulen eines Motors fährt ihr geradewegs ins Herz. Verwirrt dreht sie sich einmal um ihre eigene Achse. Was war das? Wieder heult der Motor auf, ein misstönendes Knattern folgt. Halbstarke, denkt sie, kein Respekt vor irgendwas. Aber schlafen junge Leute sonntags um diese Zeit nicht ihren Rausch aus? Für den Bruchteil einer Sekunde glaubt sie, dass der Verursacher des morgendlichen Lärms direkt auf sie zufährt, noch ein Knattern und ein Lichtblitz, dahinten Richtung Straße. Im nächsten Moment kann sie nichts mehr erkennen und das Motorengeräusch entfernt sich.

Wo ist Barabbas? Plötzlich ergreift die Nachtangst wieder Besitz von ihr. Was wäre ich ohne meinen Hund? Was bleibt mir, wenn er stirbt? Sie ruft nach ihm und entdeckt ihn in einer Kuhle, er wälzt sich selig im Dreck, es wird lange dauern, ihm den Staub aus dem Fell zu bürsten. Das ganze Haus stinkt nach Hund, gib s doch zu, du schaffst es schon seit Monaten nicht mehr, das Vieh zu baden - die Stimme ihrer Tochter. Elisabeth Vogt schüttelt den Kopf, obwohl sie ganz genau weiß, dass Erinnerungen sich dadurch nicht vertreiben lassen.

»Barabbas, hierher, komm zu Frauchen!« Ihr Ruf ist das heisere Gekrächz eines alten Weibs.

»Barabbas!«

Jetzt endlich bequemt sich der Schäferhund zu gehorchen, mit wedelnder Rute und beinahe schelmischem Blick. Nie kann sie ihm böse sein, nicht einmal als er sich jetzt ihrem Griff entzieht, um in langen Sätzen dorthin zurückzujagen, wo es geknattert und geblitzt hat. Nun ja, letztendlich ist es ihr gleich, welchen Weg sie nehmen, also folgt sie ihm. Der Boden ist sandig. Dreck rieselt in ihre Birkenstocksandalen, immer wieder muss sie die Füße von Gestrüpp befreien. Sie hört das kehlige Knurren ihres Hundes, bevor sie ihn sieht, und ein Hitzeschauer jagt ihr über den Rücken. Der dickgeflochtene lederne Griff der Hundeleine liegt in ihrer Hand wie ein toter Aal.

»Bara⦫ Ihre Stimme versagt. In all den Jahren ihres Zusammenlebens hat sie sich nicht vor ihrem Hund gefürchtet, er hat ihr nie einen Grund dafür gegeben. Jetzt aber will sie fliehen, will nicht sehen, was aus ihrem freundlichen Gefährten ein geiferndes Höllentier macht, doch eine Macht, die stärker ist als sie, schiebt sie dennoch zwischen die krüppeligen Bäume.

Zuerst sieht sie nur Barabbas gekrümmten Rücken. Gesträubtes Fell, angespannte Muskeln, er hat sich in etwas verbissen, reißt daran, und die ganze Zeit grollt in seiner Kehle der Abgrund.

»Barabbas, aus!« Das Entsetzen gibt ihr die Stimme wieder, sie lässt den Ledergriff der Hundeleine auf seinen Rücken niederfahren. Niemals zuvor hat sie ihm mehr als einen leichten Klaps mit der Zeitung gegeben, aber jetzt drischt sie wie von Sinnen auf ihn ein, mit einer Kraft, die sie längst verloren zu haben glaubte, zerrt den Rüden zugleich am Halsband und würgt ihn, bis sein Knurren endlich zum Winseln wird und er sein blutiges Maul öffnet.

Schlaff und zerstört liegt seine Beute im Schmutz. Ein Rauhaardackel. Bilder flimmern vor Elisabeths Augen. Der Junge aus ihrer Straße mit seinem Struppi, beide mit glänzenden Augen. Ihr Enkel, wie er Barabbas umarmt und seine Mutter anbettelt, ihm doch bitte, bitte, bitte einen Hund zu schenken, wenigstens einen kleinen, es muss ja gar kein Schäferhund sein, ein Dackel reicht völlig, und nie, nie, nie will er danach noch ein anderes Geschenk haben, weder zu Weihnachten noch zu Ostern oder zum Geburtstag, und immer wird er mit seinem Hund Gassi gehen, ich schwöre, Mammi, ich schwöre, bitte, bitte, bitte.

Sie hält Barabbas weiter im Würgegriff des Halsbands und schließt für ein paar gnädige Momente die Augen. Nein, sie will nicht sehen, was da liegt, sie will nicht hier bleiben, will nicht, kann nicht. Barabbas Keuchen und das aufdringliche Summen einer grünschillernden Schmeißfliege holen sie zurück in die Wirklichkeit des Wäldchens. Nach Hause, wir müssen nach Hause, hier dürfen wir nicht bleiben, wenn sie uns hier finden und sehen, was Barabbas getan hat, werden sie ihn mir nehmen. Sie klinkt die Leine in sein Halsband und zerrt ihn Schritt für Schritt mit sich. Ihr Rücken schreit vor Schmerz, auf einmal spürt sie das wieder, und auch Barabbas Energie scheint verbraucht, er duckt sich zitternd an ihre Seite, ein verwirrter alter Hund, wie hat sie ihn nur so verprügeln können. Nach Hause, denkt sie wieder, wir müssen nach Hause, da sind wir sicher, da wird alles wieder gut.

Die Sonne erklimmt den Himmel jetzt viel zu schnell, Elisabeths Kleid klebt an Schenkeln und Rücken, jeder Atemzug tut weh. Niemand wird erfahren, was du getan hast, ich passe auf dich auf, Barabbas, mein Freund, mein Gefährte, sie werden dich nicht einschläfern, das lasse ich nicht zu, verzeih, was ich dir angetan habe.

Verzeih. Verzeih. Mit aller verbliebenen Kraft zwingt sie sich, nichts anderes zu denken als das.

***

Die Villa im Kölner Nobelstadtteil Bayenthal liegt apathisch in der Hitze, deren Ursprung die Medien mit rapide nachlassendem Enthusiasmus als Jahrhundertsommer bezeichnen. Sogar die Alleebäume wirken erschöpft. Judith Krieger, auf eigenen Wunsch beurlaubte Kriminalhauptkommissarin, legt den Kopf in den Nacken und starrt durchs geöffnete Faltdach ihrer Ente in den Himmel. Sie sehnt sich danach, den Motor anzulassen, Gas zu geben und das Gesicht so lange in den Fahrtwind zu halten, bis sie einen See erreicht. Wenn sie die Augen schließt, erscheint ihr das Wasser zum Greifen nah. Kühl und beinahe kitschpostkartenartig blaugrün.

Ein dunkler Mercedes hält hinter ihrer Ente. Der Mann, der herausklettert, ist ihr vertraut und doch auch wieder...

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Autor

Gisa Klönne, geboren 1964, ist die Autorin von mittlerweile sechs erfolgreichen Kriminalromanen um die Kommissarin Judith Krieger. Daneben legte die unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnete Autorin mit "Das Lied der Stare nach dem Frost" und "Die Wahscheinlichkeit des Glücks" aber auch zwei Familienromane vor. Gisa Klönnes Romane sind Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Köln.