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Das einzige Paradies

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
336 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am01.08.20161. Auflage
Ein Leben im Hotel: so viele Zimmer, so viele Erinnerungen. Frieda Troost hat im 'Zum Löwen' jahrzehntelang als Zimmermädchen gearbeitet, jetzt liegt das Haus im Randgebiet eines sterbenden Ruhrpott-Orts verlassen da und Frieda wird nicht mehr gebraucht. Aber wo sollte sie hin - ohne Familie, ohne Heimat und scheinbar umzingelt von der Bedrohung des Fremden: 'Ölaugen', 'Zigeuner', 'Kroppzeug', das sind die Wörter, die Frieda für die Bewohner des Asylbewerberheims um die Ecke findet; falsche Wörter, aber Frieda kennt keine anderen. Sie folgt ihren in den Zimmern abgelegten Erinnerungen durch das Haus, spricht dabei mit sich selbst und ihrer verstorbenen Tante. Bis sich eines Tages Nasifa, eine junge Frau aus Ghana, in ihrem Hotel 'einnistet'...

Astrid Sozio, geboren 1979, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin unter anderem Wirtschaftswissenschaften in Deutschland und Creative Writing in England. Sie arbeitete unter anderem als Buchhalterin, Texterin und Schuhverkäuferin mit Stationen in Bochum, Frankfurt, Brüssel, London und Düsseldorf. Texte von ihr erschienen in der Süddeutschen Zeitung und diversen Literaturzeitschriften wie transmission magazine und entwürfe. 2012 war sie Finalistin beim Prenzlauer Berg Literaturpreis und 2014 beim Open Mike. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie in Hamburg und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin. Mit einem Auszug aus ihrem Debütroman ist sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2016 eingeladen.
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Produkt

KlappentextEin Leben im Hotel: so viele Zimmer, so viele Erinnerungen. Frieda Troost hat im 'Zum Löwen' jahrzehntelang als Zimmermädchen gearbeitet, jetzt liegt das Haus im Randgebiet eines sterbenden Ruhrpott-Orts verlassen da und Frieda wird nicht mehr gebraucht. Aber wo sollte sie hin - ohne Familie, ohne Heimat und scheinbar umzingelt von der Bedrohung des Fremden: 'Ölaugen', 'Zigeuner', 'Kroppzeug', das sind die Wörter, die Frieda für die Bewohner des Asylbewerberheims um die Ecke findet; falsche Wörter, aber Frieda kennt keine anderen. Sie folgt ihren in den Zimmern abgelegten Erinnerungen durch das Haus, spricht dabei mit sich selbst und ihrer verstorbenen Tante. Bis sich eines Tages Nasifa, eine junge Frau aus Ghana, in ihrem Hotel 'einnistet'...

Astrid Sozio, geboren 1979, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin unter anderem Wirtschaftswissenschaften in Deutschland und Creative Writing in England. Sie arbeitete unter anderem als Buchhalterin, Texterin und Schuhverkäuferin mit Stationen in Bochum, Frankfurt, Brüssel, London und Düsseldorf. Texte von ihr erschienen in der Süddeutschen Zeitung und diversen Literaturzeitschriften wie transmission magazine und entwürfe. 2012 war sie Finalistin beim Prenzlauer Berg Literaturpreis und 2014 beim Open Mike. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie in Hamburg und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin. Mit einem Auszug aus ihrem Debütroman ist sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2016 eingeladen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492974875
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum01.08.2016
Auflage1. Auflage
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1056 Kbytes
Artikel-Nr.1927942
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

Die Nächte waren das Einzige. Alles andere machte mir nichts. Vierzehn Zimmer allein, das war Knochenarbeit. Aber Knochenarbeit hab ich mein Leben lang geleistet.

Früher wars die Hütte. Das Hochofenfeuer hat die ganze Nacht lang die Stadt beleuchtet. Als es dann aus war, wurd es trotzdem nicht dunkel, weil sie das nutzlose Ding mit bunten Lichtern anstrahlten, als wärs der Eiffelturm. Erholungspark nennen sie das. Für mich wärs erholsamer gewesen, wenn die Nacht mal wieder schwarz geworden wär und ich mehr als ein Schnapsglas Schlaf bekommen hätte. Ich hatte jeden Tag vierzehn Zimmer zu machen, es konnte schließlich jederzeit jemand kommen, und das merkt man einem Zimmer an, wenns nicht jeden Tag gemacht wird.

Ich hab nie viel von irgendwas gebraucht. Mit einer Tasse Kaffee kam ich bis zum Abend aus, bisschen Zucker drin oder ein Schluck Eierlikör, das reichte. Meine Mutter und ich haben ganze Winter mit einem einzigen Sack Kartoffeln überlebt. Eine Kartoffel am Tag und wenns wärmer wurde ein Klacks Löwenzahngemüse dazu.

Ich hab auch nie dran gedacht, Tante Gertrud die Wurst vom Brot zu mopsen. Mir fehlte nichts. Außer Schlaf. Schlaf war das Einzige, von dem ich viel brauchte. So viel, dass Tante Gertrud mich oft an den Haaren aus dem Bett ziehen musste.

Dann war ich plötzlich allein und hätte so lange schlafen können, wie ich wollte - und war wach. Jede Nacht.

Lag wach, fror bitterlich und wünschte mir, dass die Nacht endlich vorbeiging. Dass sich draußen wieder was bewegte. Und wenns ein Zigeuner gewesen wär.

Aber das ist eine Geisterstadt nachts, vor allem im Winter. Ehrlich gesagt, im Sommer ist es auch nicht besser. Auch tags nicht. Das war ganz schnell gegangen, nachdem sie die Flüchtlinge in die alte Berufsschule gesetzt hatten. Erst verschwanden die Leute von den Straßen, dann wurden die Schaufenster vernagelt. Gertrud hatte grad das neue Leuchtschild anbringen lassen. Hotel Zum Löwen, mit einem Löwenkopf oben, und drunter stand »Zimmer frei«, das konnte man anschalten. Keine drei Tage hat das geblinkt, da hatten sie es uns eingeschmissen.

Im Kino versuchten sie es noch eine Zeit mit Schmuddelfilmen, aber das lockte auch keinen mehr. War ja keiner mehr da. Außer uns, aber das schien niemand zu wissen. Wie auch, ohne Leuchtschild. Da hat auch der Glaspalast nicht geholfen, den sie am alten Bahnhof hingesetzt haben, wo kein Wunsch offenbleibt, wie das auf den Plakaten hieß. Von denen, die da einkauften, kam keiner bis zu uns rauf. Es war, als hätte man die Stadt hinterm Bahnhof abgebunden wie ein zerschossenes Bein. Das Einzige, was durchsickerte war Kroppzeug. Zigeuner, Kopftuchfrauen, Ölaugen. Aber in den kalten Nächten blieben auch die lieber in ihren Löchern.

Nur Gertrud krabbelte noch unterm Lichtkegel der Straßenlaterne herum, tastete nach dem Pfahl und zog sich daran wieder auf die Beine, wurde länger und länger und dünner, wie ein Schatten, wenn die Sonne untergeht, und schaute zu mir rein. Ihr Gesicht war schwarz wie lackiert, die Augen blendend weiß darin.

Das war nicht Gertrud, das war die Negerin. Wieder die Negerin.

Das konnte nicht sein. Mein Zimmer lag im ersten Stock, da konnte niemand durchs Fenster reinsehen. Und nachts kam die Negerin nie, da hatte ich oft genug nachgeschaut.

War ich also doch eingeschlafen.

Endlich, dachte ich und war wieder hellwach. Und blieb es.

Das war nicht nur das Licht und die Kälte. Da war was. Ich stand auf und sah nach, aber unter der Laterne war niemand.

Selbst die Negerin schlief also. Ich zog den Vorhang wieder zu, aber nicht ganz. Wenn ich schon mal wach war, konnte ich auch stehen bleiben und warten, bis sie kam.

Ich hatte sie noch nie kommen sehen. Und auch nicht gehen. Sie war immer einfach da, sobald es hell war, und wieder weg, wenns dunkel wurde. Also wartete ich. Blies mir in die hohlen Hände und legte sie über meine Ohren. Ich war zwar an die Kälte gewöhnt, aber meine Ohren sind empfindlich.

Irgendwann schliefen mir die Beine ein. Da musste ich vorsichtig sein, die knickten leicht weg, wenn sie so kribbelten. Ich ging zurück ins Bett. Was hatte ich davon, zu sehen, wie sie kam? Zu mir rein konnte sie nicht. Unser Löwe ist eine Burg. Das Kribbeln in den Beinen ließ nach. Schlafen konnte ich trotzdem nicht.

Die Dämmerung kommt nicht mit der Sonne von unten, sie fängt oben an, ein bleiches Schimmern in der Mitte des Himmels, das sich langsam verteilt, wie Seife in Badewasser. Wenn alles milchig war, stand ich auf. Seit die Batterien in meiner Uhr den Geist aufgegeben hatten, musste ich mir mit solchen Himmelszeichen behelfen.

Aufstehen wär eine Erlösung, wenns nicht so kompliziert wär. Jeden Morgen dachte ich mir, lass es bleiben, aber ich hatte die vierzehn Zimmer. Außerdem saß ich schon beinah, so viele Kissen hatte ich hinter mich gestopft. Ich hab nie gut liegen können wegen meinem Rundrücken. So hat es mal ein Oberarzt genannt, der unser Gast war.

Ja, wir hatten Ärzte im Löwen, oft sogar. Und Studienräte. Überhaupt viele gehobene Leute.

Immer gerade halten, hatte der Oberarzt gesagt, dann werden Sie auch wieder gerade, Fräulein. Tante Gertrud lachte mich aus: Rundrücken? Das ist nen Buckel. Da kannste deinen Busen noch so rausstrecken, der bleibt. Sie hat recht behalten.

Kalt wars. Ich musste mir lang in die Hände atmen, bis ich meine Finger bewegen konnte. Ich schob meine Füße aus dem Bett und stemmte mich hoch.

Stand ich erst mal, ging es. Ich tauschte das Nachthemd gegen Bluse und Putzkittel. Das war wichtig. Wer tagsüber Schlafsachen trägt, der wartet nur darauf, für immer zu schlafen.

Ich holte meinen Schlüsselbund unter dem Kissenberg hervor und steckte ihn in die Kitteltasche. Bevor ich ins Bad ging, warf ich einen Blick aus dem Fenster und erschrak.

Da stand die Negerin aus meinem Traum, schwarz wie ein Rest Nacht.

Dass mich das immer noch so erschreckte. Die war doch schon vor dem Weihnachtsbaum da gewesen. Dem einzigen Weihnachtsbaum, der in diesem Jahr nach Dreikönig auf der Straße gelegen hatte. Früher hatten die sich hier mal gestapelt.

Der Baum war immer kleiner und brauner geworden und dann über Nacht verschwunden. Zu Brennholz gemacht von irgendeinem Zigeuner. Die Negerin blieb. Suchte die Fenster ab, nach einem Loch, durch das sie hereinkriechen könnte. Lauerte, wie ein Tier. Sie versuchten es alle immer zuerst hier. Das lag an mir. Weil ich das Haus in Schuss hielt. So was sieht man auch von außen.

Ich wich zurück. Ich wollte im ersten Augenblick auch noch den Vorhang zuziehen, aber wenn ich das tat und sie die Bewegung sah, wusste sie sicher, dass jemand hier war.

Na und? Wem sollte sie denn davon erzählen? Selbst wenn sie Deutsch konnte, es würden doch alle denken, sie hätte Geister gesehen. Eine alte weiße Frau? Im Löwen? Gibts den überhaupt noch?

Wahrscheinlich hatte sie ohnehin nichts gesehen. Die Sonne spiegelte zu sehr in den Fenstern.

Ich ließ den Vorhang, wie er war, ging ins Bad und dachte nicht mehr an sie. Im Bad lagen ganz andere Gedanken.

Seit ich allein war, hatte ich meine Gedanken so auf die Zimmer verteilt. Das half, wenn ich Zeit verlor und der Himmel, wie so oft, keine eindeutigen Zeichen gab. Die Zimmer blieben fest, unser Löwe war eine Burg. Viele der Wände hatte ich selber gezogen. Eins a gerade, hatte Gertrud gesagt. Daran dachte ich zum Beispiel immer, wenn ich durch den Flur im ersten Stock ging.

Eins a, davon zehr ich heut noch. Ich sag ja, ich bin genügsam. Im kleinen Bad erinnerte ich mich dann dran, dass Tante Gertrud es auch ausgehalten hatte, allein hier zu sein. Nach dem Krieg. Und was hatte sie sich darauf eingebildet! Als wärs ihr Verdienst, dass der Löwe noch stand, wo alles drum herum in Schutt und Asche lag. Ein abgebrochener Zahn in einem zertrümmerten Mund.

Es dauerte, bis ich begriff, dass ich das war, dieser Trümmermund.

Morgens sah ich Gertrud erschreckend ähnlich. Dabei hab ich die Augen meiner Mutter, die Nase, die Lippen - aber an mir ist das alles ein winziges bisschen anders, größer oder kleiner, ich hab es nie ausmachen können, aber an mir ist das hübsche Gesicht hässlich.

Ich wusch mich - jeden Morgen froh, dass ich mir warmes Wasser nie angewöhnt hatte - und nahm die Seifendose aus dem Schrank. Ich benutzte sie nicht mehr, ich roch nur dran. Das Stück war trotzdem kleiner geworden über die Jahre, aber es war noch immer lilienweiß und duftete nach süßer Milch.

Im Spiegel sah ich, wie meine Mutter hinter mir in den Bottich stieg und sich wusch. Sie zerreibt die Seife zu Schaum und bläst ein paar Flocken in mein Spiegelgesicht. Lilienmilch macht sogar Neger weiß. Meine Mutter steigt aus dem Bottich, und wie alle hässlichen Menschen kann ich mich nicht sattsehen an etwas so Schönem.

Komisch, wie deutlich diese Sachen werden.

Ihre Haut schimmerte auch noch seifenweiß, wenn sie frühmorgens zurückkam und sich neben mich legte. Ich konnte immer erst einschlafen, wenn ich sie berührt hatte. Das hatte ich vergessen.

Ich schloss die Küche auf - ich sperrte stets alle Räume ab, das war für mich so überlebenswichtig wie für einen Gefängniswärter. Dann löffelte ich Kaffeepulver in den Topf und ließ den Löffel klingeln, dass es sich anhörte, als wären zwanzig Mann im Raum. Wie früher, wenn wir die Schweißer dahatten für ihre Berufsschulwochen. Zwanzig Jungens mit Schlafkörnchen in den Wimpern und Bartresten unter den Kieferknochen. Einmal bin ich mit einem ausgegangen, ins Kino, vor...


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Autor

Astrid Sozio, geboren 1979, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin unter anderem Wirtschaftswissenschaften in Deutschland und Creative Writing in England. Sie arbeitete unter anderem als Buchhalterin, Texterin und Schuhverkäuferin mit Stationen in Bochum, Frankfurt, Brüssel, London und Düsseldorf. Texte von ihr erschienen in der Süddeutschen Zeitung und diversen Literaturzeitschriften wie transmission magazine und entwürfe. 2012 war sie Finalistin beim Prenzlauer Berg Literaturpreis und 2014 beim Open Mike. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie in Hamburg und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin.
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