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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
450 Seiten
Deutsch
Picus Verlagerschienen am13.03.2024
Nach einem Unfall und von Schuldgefühlen geplagt flieht Benjamin aus der Stadt zu seinem Vater, in ein kleines Dorf im Sauerland. Dort verbrachte er in seiner Kindheit und Jugend die Ferien. Noch heute gelten in der Brüdergemeinde strenge, evangelikale Regeln. Als Teenager war Benjamin mit den Geschwistern Hanna, Lea und Gideon befreundet, machte seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Gideon und verliebte sich schließlich in Hanna, die bei einem tragischen Ereignis ums Leben kam. Die traumatischen Erinnerungen an Welsum haben ihn 25 Jahre davon abgehalten, den Ort wieder aufzusuchen. Nun trifft ihn die Rigidität der Fundamentalisten umso heftiger, die in ihrer Hartherzigkeit immer neue Angst schaffen und die Nähe zu Rechtsextremen nicht scheuen.

Astrid Sozio, geboren 1979, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin unter anderem Wirtschaftswissenschaften in Deutschland und Creative Writing in England. Sie arbeitete als Buchhalterin, Texterin und Schuhverkäuferin mit Lebensstationen in Bochum, Frankfurt, Brüssel und London. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Ihr Debütroman »Das einzige Paradies« erschien 2016 (Piper). Astrid Sozio lebt in Hamburg.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR28,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR21,99

Produkt

KlappentextNach einem Unfall und von Schuldgefühlen geplagt flieht Benjamin aus der Stadt zu seinem Vater, in ein kleines Dorf im Sauerland. Dort verbrachte er in seiner Kindheit und Jugend die Ferien. Noch heute gelten in der Brüdergemeinde strenge, evangelikale Regeln. Als Teenager war Benjamin mit den Geschwistern Hanna, Lea und Gideon befreundet, machte seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Gideon und verliebte sich schließlich in Hanna, die bei einem tragischen Ereignis ums Leben kam. Die traumatischen Erinnerungen an Welsum haben ihn 25 Jahre davon abgehalten, den Ort wieder aufzusuchen. Nun trifft ihn die Rigidität der Fundamentalisten umso heftiger, die in ihrer Hartherzigkeit immer neue Angst schaffen und die Nähe zu Rechtsextremen nicht scheuen.

Astrid Sozio, geboren 1979, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin unter anderem Wirtschaftswissenschaften in Deutschland und Creative Writing in England. Sie arbeitete als Buchhalterin, Texterin und Schuhverkäuferin mit Lebensstationen in Bochum, Frankfurt, Brüssel und London. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Ihr Debütroman »Das einzige Paradies« erschien 2016 (Piper). Astrid Sozio lebt in Hamburg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783711755056
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum13.03.2024
Seiten450 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1732 Kbytes
Artikel-Nr.14132029
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

So wahr ich lebe, spricht dein Gott

»Am Ende ist einer tot«, sagt Maria und kann gar nicht hinsehen. Dabei hat sie extra Spiegel in die Obstbäume gehängt, um uns nicht aus den Augen zu verlieren, an den Tagen, an denen sie nicht aus dem Bett kommt. Dann muss sie sich nur aufsetzen, um uns zu sehen. Manchmal flattern ihre Haare aus dem offenen Schlafzimmerfenster. Die Spiegel in den Bäumen blitzen, wenn der Wind sie bewegt, und Licht tropft von unreifen Äpfeln und Birnen auf die Steinplatten, die einen Weg zwischen den Beeten hindurch bilden. Tritt bloß nicht auf die Erde! Der Alte hinter dem vergitterten Fenster im Erdgeschoss sieht alles und mit einem Blinzeln gefrieren die wässrigen Augen zu Eisstückchen, er kommt aus dem Laden und reißt sich im Vorbeigehen eine Rute von der Weide. Seine Strafen, Seine Schläge, unserer Seelen Wohlergehn.

Aber Gideon hört ihn immer kommen, und wir sind schneller, springen über den Bach, was verboten ist, rennen über die Kuhweide und in den Wald.

Der Wald ist auch verboten, aber tagsüber nicht ganz so sehr, wie wenn es dunkel wird. Unter den Bäumen ist es stickig, mehr Mücken in der hautwarmen Luft als Teufel in der Hölle. Ich atme durch meine Finger. Hinter den toten Bäumen kommt der See.

Gottes Antlitz auf der glatten, dunklen Oberfläche - bis Gideon hineinspringt. Hanna und Lea waten hinein. Nur ich traue mich nicht. Ich setze mich auf einen Baumstamm und pule Stückchen aus dem morschen Holz. Grünfaul, blaufaul, schwarzfaul.

Zwischen den Zweigen kann man schon den Mond sehen, als sie endlich aus dem Wasser kommen. Der Himmel ist noch hell, aber wir rennen trotzdem lieber. Gideon ist der Schnellste, obwohl Hanna und Lea fünf Jahre älter sind als er. Ich bin genauso alt wie er, und so langsam, dass sie nie aufhören werden, darüber zu lachen. Hanna läuft hinter mir, damit ich nicht im Wald bleibe. Wenn du hier nachts im Wald bleibst, verlierst du deinen Verstand. Der steigt hoch zum Mond und dann musst du jemanden finden, der ihn für dich zurückholt. Als wir an der Gärtnerei ankommen, ist Hanna nicht mehr da. Dabei habe ich sie gerade noch ganz dicht hinter mir atmen gehört.

Als Maria merkt, dass Hanna im Wald geblieben ist, schaut sie auf den Mond, der so tief hängt, dass die Baumkronen ihn beinah berühren.

»Ich habs gewusst«, sagt sie und klatscht in die Hände. Am Ende ist einer tot, sie hat es immer gesagt. Oder vielleicht ist Hanna unterwegs, Marias Verstand vom Mond zurückzuholen. Gut gelaunt geht Maria ohne Abendessen ins Bett. Wir hören sie singen, während wir essen.

Es gibt Brotsuppe, aber erst wird gebetet. Manchmal vergesse ich das, dann schauen die anderen mich grinsend an und ich lege schnell den Löffel hin und falte die Hände, senke den Kopf, schließe die Augen. Sie beten, ich bewege die Lippen und sage Amen, wenn alle Amen sagen.

Beim Essen wird nicht gesprochen. Die Löffel klingeln in den Suppentellern wie Kuhglocken. Einer hat einen Sprung und klingt ganz dumpf. Plötzlich knallt es, nicht hier, weiter weg, aber ich zucke trotzdem zusammen.

»Das is nur dein Vater, Benni«, sagt Gideon leise, »und auch nur ne ganz kleine Kugl.«

Er kann so was hören.

»Wahrscheinlich n Hase. Oder n Fuchs.«

Augen wie Karfunkelstein.

»Oder Hanna«, sagt Lea.

Gideon lacht: »Bennis Vater hat noch nie danebngeschossn.«

Lea lacht nicht. Sonst lächelt sie immer. Daran kann man sie und Hanna unterscheiden. Alles andere ist genau gleich.

»Trotzdem«, sagt der Alte, »sie hat schon recht: Wer heut is frisch, gesund und rot, is morgn krank, ja wohl gar tot. Kann keiner wissn.«

Er legt seinen Löffel in den Suppenteller, der leer ist, bis auf die aussortierten Zwiebelstückchen, und spricht jetzt ganz allein zu mir, denn Gideon und Lea, die wissen längst, dass sie morgens nur aufwachen, weil Gott es so will. Wenn Er irgendwann nicht mehr will, ist es vorbei. Deshalb beten sie hier so viel und tragen den Heiland immer bei sich, im Herzen. Alle in Welsum haben Ihn, ich glaube, sie werden damit geboren. Nur mein Herz ist leer, ich bin immer nur über die Sommerferien hier. Aber wenn ich wirklich will, kann auch ich gerettet werden vor dem Tod.

Ich will. Wirklich. Ich will auf keinen Fall sterben. Nie.

»Dann hüte dich und bewahr deine Seele gut, dass sie nie vergisst, wer dir dein Lebn geschenkt hat.«

Ich nicke.

»Und jetz ab nach Haus, bevors zu dunkl wird.«

Lea bringt mich. Sie lächelt jetzt wieder und hält meine Hand. Meine andere Hand nimmt Gideon, der unbedingt mitkommen will. Im Wald unter den dichten Baumkronen sieht man nicht mehr viel. Dafür hört man viel mehr als tags. Wir rufen Hannas Namen. Gideon dreht sich immer wieder um.

»Hört ihr das nich? Das Hecheln?«

»Vielleicht ein Hund«, sagt Lea, »von der Jagd.«

»Bennis Vater hat kein Hund.«

»Dann gehn wir ebn Straße«, sagt Lea. Auch wenn es weiter ist und es keinen richtigen Weg, sondern nur einen schmalen Graben gibt zwischen Asphalt und Waldrand. Wir müssen hintereinander gehen. Gideon liest die Namen, die auf den Holzkreuzen stehen. Mike, Jessica. Es sind immer nur Leute von außerhalb, die aus den Kurven in die Bäume fliegen, keiner, den wir kennen.

Die Kreuze hören auf, als auch der Wald aufhört und neben uns wieder Weide ist. Lea steigt über den Stacheldraht, Gideon und ich kriechen darunter durch. Die Kühe schlafen schon, im Stehen, wir müssen nur auf ihre Kuhfladen aufpassen, die wie schwarze Löcher im Gras liegen. Beim Drüberspringen stinkt es kurz. Dann noch einmal Stacheldraht, ein Streifen nackter Erde und dann bin ich zu Hause.

Von vorn sieht es ganz normal aus. Dass es halb aus Glas ist, sieht man nur von hinten. Wir gehen immer hinten rum, durch das Loch in der Gartenhecke, weil da der Kirschbaum steht. Lea und Gideon bücken sich und sammeln ein paar ein. Ich mag sie nicht, sie haben immer braune Stellen. Gideon spuckt die Kerne so weit er kann, Lea fängt ihre in der hohlen Hand.

Klaus sitzt schon vor dem Fernseher, das blassblaue Licht füllt das ganze Haus. Wie ein Aquarium sieht es aus. Wir klopfen und Klaus kommt langsam wie ein halb toter Fisch zur Terrassentür.

»Gutn Abend, Herr Kühn«, Lea geht immer ein bisschen in die Knie, wenn sie Erwachsene begrüßt.

»Habn Sie was geschossn?«, fragt Gideon.

Klaus nickt und geht zur Küche, holt etwas aus dem Kühlschrank. Das können wir alles von draußen sehen, weil es im Glashaus keine Wände gibt, nicht in der unteren Etage. Er gibt Lea die Plastiktüte und ich schaue nicht schnell genug weg und sehe ein schönes schwarzes Auge in rohem rosa Fleisch aufblitzen.

Ich drücke mich an Klaus vorbei ins Haus, damit sie nicht sehen, dass ich weine.

»Danke«, höre ich Lea sagen, und Gideon fragt nach Hanna. Klaus hat sie nicht gesehen. Er wünscht den beiden eine gesegnete Nacht und Lea und Gideon kriechen mit ihrem toten Hasen durch die Hecke. Klaus setzt sich zu mir vor den Fernseher.

Der Tierfilm hat angefangen. Alle Zebrafische sind im Larvenstadium vollkommen transparent, und unter bestimmten Bedingungen bleiben sie auch im Erwachsenenalter durchsichtig. Wenn sie nicht vorher sterben. Ich muss schon wieder weinen und Klaus legt eine Hand auf mein Knie.

Das hat er noch nie gemacht. Er berührt überhaupt nie jemanden.

Wenn ich in Welsum ankomme, schüttelt er meine Hand, als wäre ich ein Erwachsener, und das macht er noch mal, wenn ich wieder fahre. Dazwischen berührt er mich nicht. Nie.

Jetzt liegt seine Hand auf meinem Knie und bewegt sogar den Daumen hin und her. Und dann sagt er, leise und ein bisschen heiser: »Hier in Welsum ist noch keiner verloren gegangen, Benjamin.«

Als er das sagt, weiß ich, dass ich gar nicht um den Hasen weine, sondern um Hanna. Ich bin sicher, dass sie tot ist. Und ich bin sicher, dass Klaus wirklich mein Vater ist. Renée hat doch nicht gelogen und mich einfach zu irgendeinem Freund geschickt, um mich mal loszuwerden. Er ist mein Vater, auch wenn wir uns überhaupt nicht ähnlichsehen, denn er kann in meinen Kopf hineinschauen und meine Gedanken aufräumen wie sonst nur Renée. Denn du wobst mich in meiner Mutter Leib und gabst mir meinen Namen: Benjamin. Das heißt geliebter Sohn.

Auch wenn in seinem Kirschbaum keine Spiegel hängen und er mich nie fragt, wo ich hingehe, mich nie anfasst, mich nicht mal richtig anschaut, sondern immer nur so an mir vorbeiguckt, auch jetzt.

Jeden Abend nach dem Tierfilm ruft Renée an. Und jeden Abend frage ich sie, ob sie sich genug erholt hat und ich nach Hause darf. Heute nicht. Heute stehe ich mit dem Telefonhörer in der Hand da und schaue zu Klaus, der vor dem Fernseher sitzt, und sage: »Ja, gut. Alles gut.«

Renée sagt nichts dazu, aber ich kann hören, dass sie...
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Autor

Astrid Sozio, geboren 1979, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin unter anderem Wirtschaftswissenschaften in Deutschland und Creative Writing in England. Sie arbeitete als Buchhalterin, Texterin und Schuhverkäuferin mit Lebensstationen in Bochum, Frankfurt, Brüssel und London. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Ihr Debütroman »Das einzige Paradies« erschien 2016 (Piper). Astrid Sozio lebt in Hamburg.
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