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Wie alle anderen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am22.08.2016
Von Kritikern und Lesern gefeiert: nach »Lügen über meinen Vater« der zweite Band von Burnsides autobiografischer Reihe
Nach Jahren des Vorsatzes, niemals so zu werden wie sein Vater, muss sich John Burnside eingestehen, dass er den gleichen Weg eingeschlagen hat wie der Mann, den er zutiefst verachtet: Drogen, Alkohol und die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, haben ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht. Ganz unten angekommen, beschließt er, wieder für ein Leben zu kämpfen, das diesen Namen wirklich verdient. Er möchte werden wie alle anderen. John Burnside erzählt von dem schwierigen Weg, sich mit seinen inneren Dämonen zu versöhnen - radikal ehrlich und überaus berührend.
»Ich glaube, dass es sich bei John Burnside tatsächlich um den größten Schriftsteller unserer Tage handelt.« Matthias Brandt (in »Das literarische Quartett«)

John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit »Lügen über meinen Vater« (2006), »Wie alle anderen« (2010), »Über Liebe und Magie - I put a spell on you« (2014) und »What light there is - Über die Schönheit des Moments« (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband »So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe«. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextVon Kritikern und Lesern gefeiert: nach »Lügen über meinen Vater« der zweite Band von Burnsides autobiografischer Reihe
Nach Jahren des Vorsatzes, niemals so zu werden wie sein Vater, muss sich John Burnside eingestehen, dass er den gleichen Weg eingeschlagen hat wie der Mann, den er zutiefst verachtet: Drogen, Alkohol und die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, haben ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht. Ganz unten angekommen, beschließt er, wieder für ein Leben zu kämpfen, das diesen Namen wirklich verdient. Er möchte werden wie alle anderen. John Burnside erzählt von dem schwierigen Weg, sich mit seinen inneren Dämonen zu versöhnen - radikal ehrlich und überaus berührend.
»Ich glaube, dass es sich bei John Burnside tatsächlich um den größten Schriftsteller unserer Tage handelt.« Matthias Brandt (in »Das literarische Quartett«)

John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit »Lügen über meinen Vater« (2006), »Wie alle anderen« (2010), »Über Liebe und Magie - I put a spell on you« (2014) und »What light there is - Über die Schönheit des Moments« (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband »So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe«. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641179816
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum22.08.2016
Reihen-Nr.2
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1397 Kbytes
Artikel-Nr.1941509
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Schlusswort (I)

Vor Kurzem, als ich noch verrückt war, fand ich mich in der seltsamsten Irrenanstalt wieder, die ich je gesehen hatte. Natürlich sind alle Irrenanstalten ein wenig seltsam, doch der Saal, in dem ich mich in besagtem Moment aufhielt, erinnerte mich an einen gewissen Typ Kirche, an einen jener Orte, an denen man meint, jeden Augenblick erscheine Gott oder einer seiner Lakaien mit der Frohen Botschaft, einem Vorgeschmack auf den Weltuntergang oder beidem. Die Patienten waren vorwiegend Männer mittleren Alters, nur am Gartenfenster saß in einem Rollstuhl ein Tattergreis, das Gesicht eingefallen, die Haut am Kopf überstraff gespannt, der zauselige graue Bart mit Eigelb betupft. Frauen sah ich keine, also war ich wohl auf einer Art Krankenstation, nur lag ich nicht im Bett, war nicht mal in der Nähe eines Bettes, und mir schien es früher Nachmittag zu sein, wenn die Patienten doch eigentlich irgendwo in einem Aufenthaltsraum Bibelverse aus Seifenopern heraushören, sich Invasionen von Aliens ansehen oder über die Flure schlurfen und den Feuerlöschern und Acrylbildern an der Wand die Siebenerreihe vorlesen sollten.

Irgendwas stimmte nicht. Ich habe sicher drei, vier Stunden in dem Saal gesessen, mich gefragt, wie ich dort hingekommen war, und darauf gewartet, dass hoffentlich bald jemand begriff, welcher Fehler ihnen unterlaufen sein musste. Niemand kam, nichts wurde korrigiert. Man gab mir nicht mal Medikamente. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht. Diese Patienten gehörten beschäftigt; sie hätten etwas mit den Händen machen, womöglich irgendwo in einem Kunstraum therapeutisch werkeln sollen, doch hielten sie sich hier in diesem merkwürdigen Vestibül auf, hockten auf stapelbaren Stühlen und brabbelten in ihre Morgenmäntel. Und ich war bei ihnen und redete mit den Toten - was ich, wie mir nun klar wurde, bis zu ebendem Moment getan hatte, als ich aufsah und begriff, wo ich war -, hatte mit einem Geist geredet, der mir gegenüber saß, eben noch, direkt hier, dem Geist einer Frau, die den Kopf leicht abwandte, deren Blicke mich mieden. Wer war sie? Erst vor einer Minute hatte ich mit ihr geredet, und sie hatte zugehört, selbst aber nichts gesagt und mich nicht angesehen, hatte nur mit abgewandtem Kopf hin und wieder leicht genickt. Wir waren eine ganze Weile so zusammen gewesen, doch nun war sie plötzlich fort, und ich saß in diesem Saal mit all den Männern, und irgendwas stimmte ganz und gar nicht.

Ich richtete mich auf meinem Stuhl auf und sah mich um, die anderen regten sich kurz, passten ihre Positionen an, was typisch für einen Ort wie diesen ist: Einer bewegt sich, und alle anderen bewegen sich entsprechend, wahren die Balance im Saal. Ich wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann wandte ich den Kopf und entdeckte an der Tür einen Pfleger auf einem Stuhl, keine zwei, drei Meter entfernt. Er war ein noch junger Mann in dunkelblauem Pullover und schwarzen Jeans, und er sah aus, als wäre er gerade von draußen hereingekommen; er hatte etwas Grünliches, eine leichte Kühle an sich. Vielleicht war er ja tatsächlich gerade von draußen hereingekommen, weshalb ich ihn zuvor nicht bemerkt hatte; jetzt saß er jedenfalls auf seinem Plastikstuhl, den Hals ein wenig gereckt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er las ein Buch, eine alte Klassikerausgabe von Penguin, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch.

»Hallo?«, sagte ich.

Er musterte mich mit einem Blick, der gutmütiges Wiedererkennen auszudrücken schien, gab aber keine Antwort.

Ich ruckelte mich auf meinem Stuhl zurecht, woraufhin der Saal ebenfalls ruckelte, was der Pfleger aber offenbar nicht bemerkte. »Ich glaube, ich bin bei der Medikamentenausgabe vergessen worden«, sagte ich.

Mit einem schiefen Lächeln schüttelte er den Kopf. »Ich weiß«, erwiderte er. »Sie haben es mir schon gesagt.«

»Was?«

»Dass Sie bei der Medikamentenausgabe vergessen wurden«, antwortete er. »Das haben Sie mir schon gesagt.« Er lächelte nicht mehr, wirkte aber entspannt, als er auf seine Armbanduhr schaute. »Das war vor gut zehn Minuten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Doch.«

»Das war ich nicht«, sagte ich, »das muss jemand ...«

»Na ja, egal«, sagte er. »Ist nicht so wichtig. Jedenfalls wurden Sie nicht übergangen, okay?«

Ich nickte. Er hatte natürlich recht. Mir waren meine Medikamente verabreicht worden. Nur fühlte es sich an, als hätte ich keine genommen. Was wiederum bedeutete - und der Gedanke kam mir so plötzlich wie eine Erleuchtung, wodurch der Saal stärker denn je an eine Kirche erinnerte -, dass es für mich keinen Grund gab, hier zu sein. Denn warum sollte ich hier sein, wenn die Medikamente nicht wirkten? Warum sollte ich mit all diesen Männern mittleren Alters, diesem sarkastischen jungen Kerl mit seinem Penguin-Taschenbuch und dem schrecklich alten Mann mit Dotter im Bart in diesem Saal sein, wenn ich auch woanders sein könnte? Mir war zwar nicht klar, wo dieses Woanders sein könnte, doch wusste ich, dass es ein Woanders gab. Warum sollte ich also nicht dahin gehen? Jetzt?

Ich schaute an mir herab. Ich trug Kleider, die ich kannte, und war nicht voll mit Dreck, Kotze oder Blut. Ich trug ein Hemd, eine Jeans und ein Paar Wanderstiefel. Ich sah aus, als wäre ich den Tag über unterwegs gewesen und wartete nun an einem Provinzbahnhof auf den Zug. Normal war ich nicht, doch war auch nichts offensichtlich Unnormales an mir. Säße ich im Warteraum irgendeiner Regionalbahn und jemand käme herein, um auf denselben Zug zu warten, hätte der mir dann angesehen, dass ich ein Irrer war? Sicher nicht.

Ich stand auf.

Der Pfleger hob den Kopf, behielt sein Buch aber in der Hand. Ich warf ihm einen raschen Kein-Problem-muss-nur-aufs-Klo-Blick zu, und er las weiter in seinem Dostojewski. Mein Kopf war jetzt völlig klar: Ich befand mich in keiner Geschlossenen, also konnte ich tun, was ich wollte, und um jede Aufregung zu vermeiden, würde ich einfach gehen, denn wenn ich erwähnte, dass ich gehen wollte, würden sie mich warten lassen, bis mich ein Arzt untersucht hatte, ehe ich auf eigene Verantwortung entlassen wurde, und dann würden sie mir zureden, würden sich genötigt fühlen, mir zu sagen, dass ich gerade erst aufgenommen worden war - ich war mir ziemlich sicher, dass ich gerade erst aufgenommen worden war -, dass ich folglich gegen ihren medizinischen Rat handelte und so weiter und so fort, und all das wollte ich nicht über mich ergehen lassen. Außerdem bestand kein Grund zu der Annahme, dass diese Irrenanstalt anders als die anderen war, in denen ich gewesen bin, was hieß, dass ich nach draußen gehen und mich auf dem Gelände frei bewegen konnte. Das wiederum bedeutete, niemand würde sich viel dabei denken, wenn ich zur Außentür ging - falls ich allerdings tatsächlich erst kürzlich aufgenommen worden war, würde man mich im Auge behalten, schließlich war ich ein neuer Patient, und die standen unter Beobachtung, sofern man sie nicht gleich völlig ausknockte, damit sie den ersten therapeutischen Schlaf schliefen, der so wichtig dafür war, dass gewöhnliche Nullachtfünfzehn-Irre wie ich den Pfad der allmählichen, doch vollständigen Erholung einschlugen. Und so weiter.

Inzwischen ging ich über den Flur. Es war ein langer Flur, die Wand auf der einen Seite mit Holz verkleidet, auf der anderen bodentiefe Fenster, durch die ich das Gebüsch in dem für diese Art Anstalt so typischen, viktorianischen Park sehen konnte, finster, feucht und mit wässrigem Sonnenlicht betüpfelt. Wie aus dem Nichts ertönte plötzlich eine Stimme.

»Alles in Ordnung, John?«

Es war die Stimme einer Frau, und sie klang freundlich. Nicht einmal beunruhigt, nur als wollte sie sich vergewissern, dass ich nicht durcheinander war oder mich verirrt hatte. Lächelnd drehte ich mich um. Die Frau stand in einer Tür, an der ich gerade vorbeigegangen war: klein, mittleres Alter, dicksohlige Tennisschuhe, graue Hose und weiße Bluse. Irgendwas an ihr schien mir vertraut, doch kam ich nicht darauf, was es war.

»Ich dachte, ich mache einen Spaziergang«, sagte ich, »solange die Sonne noch scheint.«

Sie nickte. »Ja gut«, sagte sie, »aber gehen Sie nicht zu weit.«

Meine Hand zuckte unwillkürlich hoch, als wollte sie sich ein irres Winken gestatten, doch es gelang mir, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. »Mach ich nicht«, sagte ich, drehte mich immer noch lächelnd wieder um und ging ohne Eile weiter, nur ein Mann, der an einem warmen Sommernachmittag aus keinem besonderen Anlass einen Spaziergang macht.

* * *

Wo ich heute wohne, führt eine Straße am Haus vorbei über die Hügelkuppe zum Dorf und dem dahinterliegenden Meer. Es ist eine schmale Straße mit Bäumen an einer Seite, Feldern auf der anderen, und da ich nicht über den Hügel schauen kann, gleicht sie der Straße in dem Traum, den ich seit Kindertagen habe, der Straße, die ins Jenseits führt - manchmal aber, in einem gewissen Licht, erinnert sie mich auch an jene Straße, über die ich an dem Tag damals ging, an dem ich meine letzte Irrenanstalt in der festen Gewissheit verließ, dass mir jemand nachkommen und mich zurückholen würde. Ich bin lange gelaufen, und ich muss sagen, es hat mir gutgetan. Das tut es meistens.

Als ich noch richtig verrückt war, litt ich an sogenannter Apophänie, ein Zustand, ein Unbehagen, näher beschrieben von Klaus Conrad, dem Spezialisten für Schizophrenie, der den Begriff prägte und darunter das grundlose Sehen von Verbindungen verstand, begleitet von der besonderen Empfindung abnormer Bedeutsamkeit....

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Autor

John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit »Lügen über meinen Vater« (2006), »Wie alle anderen« (2010), »Über Liebe und Magie - I put a spell on you« (2014) und »What light there is - Über die Schönheit des Moments« (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband »So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe«. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet.