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Die Zerbrechlichkeit der Welt

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
480 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am03.10.2016
Tokio 1946: Eine dramatische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Kriegsverbrecherprozesse
Tokio 1946: Der Richter Rem Brink ist vom niederländischen Außenministerium zu den sogenannten Tokioter Prozessen gesandt worden, um mit den Siegermächten die japanischen Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. Brink ist sich seiner besonderen Verantwortung bewusst, sucht gleichzeitig aber auch Zerstreuung in einer Liaison mit der jungen Sängerin Michiko. Durch sie lernt er eine ganz andere, faszinierende Seite Japans kennen. Doch als Michiko ihn um einen Gefallen bittet, der seinen politischen und moralischen Grundsätzen widerspricht, wird die Beziehung auf eine harte Probe gestellt ...
Die Zerbrechlichkeit der Welt ist eine ergreifende Liebesgeschichte und ein Roman über kulturelle Fremdheit, Neuanfang, Schuld und Vergebung. Kees van Beijnum bettet dies eindringlich und authentisch in ein weltpolitisch bedeutsames, aber kaum bekanntes Kapitel der Nachkriegszeit ein.

Kees van Beijnum, geboren 1954, arbeitete zunächst als Journalist. Inzwischen hat er elf Romane geschrieben, die mit vielen Literaturpreisen (u.a. dem renommierten AKO-Preis) ausgezeichnet wurden. Er gehört zu den renommiertesten Autoren der Niederlande.
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Produkt

KlappentextTokio 1946: Eine dramatische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Kriegsverbrecherprozesse
Tokio 1946: Der Richter Rem Brink ist vom niederländischen Außenministerium zu den sogenannten Tokioter Prozessen gesandt worden, um mit den Siegermächten die japanischen Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. Brink ist sich seiner besonderen Verantwortung bewusst, sucht gleichzeitig aber auch Zerstreuung in einer Liaison mit der jungen Sängerin Michiko. Durch sie lernt er eine ganz andere, faszinierende Seite Japans kennen. Doch als Michiko ihn um einen Gefallen bittet, der seinen politischen und moralischen Grundsätzen widerspricht, wird die Beziehung auf eine harte Probe gestellt ...
Die Zerbrechlichkeit der Welt ist eine ergreifende Liebesgeschichte und ein Roman über kulturelle Fremdheit, Neuanfang, Schuld und Vergebung. Kees van Beijnum bettet dies eindringlich und authentisch in ein weltpolitisch bedeutsames, aber kaum bekanntes Kapitel der Nachkriegszeit ein.

Kees van Beijnum, geboren 1954, arbeitete zunächst als Journalist. Inzwischen hat er elf Romane geschrieben, die mit vielen Literaturpreisen (u.a. dem renommierten AKO-Preis) ausgezeichnet wurden. Er gehört zu den renommiertesten Autoren der Niederlande.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641180133
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum03.10.2016
Seiten480 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1321 Kbytes
Artikel-Nr.1941583
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

Es ist Donnerstag, heute Abend wird er sie sehen. Eine sanfte Unterbrechung der Gerichtsverhandlungen und des Aktenstudiums eine Stunde pro Woche. Mehr erwartet er nicht. Mehr möchte er nicht. Brink schließt die Augen. In Gedanken sieht er den Schatten ihrer Schultern, die kleinen Brüste, die in Japan, wie er gelernt hat, dem traditionellen Ideal weiblicher Schönheit entsprechen. Es fällt ihm schwer, sich auf Keenan zu konzentrieren. Aus den Szenen der Gewalt, die der amerikanische Hauptankläger heraufbeschwört, aus den rauchenden Trümmern Nankings steigt sie vor Brink auf wie eine leuchtende Lilie.

Auf der Zeugenbank nimmt ein Einwohner von Nanking Platz. Die Stimme des jungen Chinesen ist so leise und dünn, dass Keenan ihn zweimal ersuchen muss, lauter zu sprechen, weil der Dolmetscher ihn nicht versteht.

Mit gesenktem Blick erzählt der Zeuge, wie er sich stundenlang in einem Berg aus Leichen versteckt halten konnte.

Brink macht sich Notizen und beobachtet die Angeklagten, achtundzwanzig insgesamt. In Reihen hintereinander sitzen sie ihm gegenüber wie Zuschauer in einem kleinen Theater. Ihre glatten Gesichter, blass von den Monaten der Haft im Sugamo-Gefängnis, stechen im grellen Licht der Deckenlampen gespenstisch weiß hervor. Unergründlichkeit als erste und letzte Verteidigungslinie gegen die Richter, Protokollführer, Ankläger, Verteidiger und Journalisten, Fotografen und Kameramänner. Auf der Tribüne sitzen die japanischen Zuhörer von denen aus dem Westen getrennt.

Der Chinese erzählt, dass ein japanischer Offizier seine Lederstiefel gegen Gummistiefel austauschte und darin über den Leichenberg lief. Den noch Lebenden schoss er mit einer Pistole in den Kopf. Über Kopfhörer lauschen die Angeklagten der Übersetzung seiner Worte. Oder tun so als ob. Bis zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung ist ihre Welt, abgesehen von der Unsicherheit und Bedrohung, vor allem monoton und eingeschränkt. Sie werden im Gefängnis am Leben erhalten, um täglich hier vor Gericht zu erscheinen. Die Zeit von Generalsuniformen und Ministerposten, von Mythen und Doktrinen ist vorbei. Sie existieren nur noch als Kriegsverbrecher der »Kategorie A«, die man für zwölf Millionen Opfer verantwortlich macht - es können auch eine Million mehr oder weniger gewesen sein. Für die Dauer der Prozesse sind ihre Leben mit seinem, Brinks Leben, dem Leben des jüngsten der elf Richter, verknüpft.

Nach der Verhandlung fährt er nicht gleich nach Ginza, den Stadtteil, wo er sich mit ihr treffen wird. Er macht gern alles hübsch der Reihe nach und hält sich an den festen Tagesablauf, der sich in dem halben Jahr, das er jetzt hier ist, eingespielt hat. Eher aus Routine denn aus Notwendigkeit. Weil Donnerstag ist, trinkt er erst einen Whisky mit Eis an der Bar des Imperial Hotel, ein Glas, mehr nicht. Zeit, die Zeit, die einem gegeben ist und deren Ausgestaltung, ist die Grundlage für alle Vorhaben, die großen wie die kleinen. Vor zwei Wochen ist sein regelmäßiges und diszipliniertes Programmschema um ein neues Element ergänzt worden. An dem Tag, da die Phase der Enthaltsamkeit endete, die er sich selbst auferlegt hatte. Genau ein halbes Jahr war er in Tokio. Nun genehmigte er sich ein Mädchen.

Neben ihm nimmt sein Kollege Higgins Platz, ein Mann mit kerzengeradem Rücken und schmalem, gescheitem Gesicht. Higgins fischt sein Zigarettenetui aus der Innentasche seines Jacketts und zündet sich eine Lucky Strike an.

»Nächste Woche gehe ich nach Boston zurück.« Higgins bläst den Rauch über die vorgestülpte Unterlippe nach oben.

»Zurück?«, erwidert er verwundert.

»Ich habe eine Gleichung aufgestellt«, sagt der Amerikaner. »In Anbetracht des Tempos der Ankläger wird es noch mindestens ein halbes Jahr dauern, bevor die Verteidigung am Zug ist. ... Achtundzwanzig Anwälte, die versuchen werden, jeden Buchstaben der Anklageschrift zu entkräften. ... Addiert man dazu die Gerichtsferien, die Kreuzverhöre, die Strafanträge und die Plädoyers, ist man schnell bei einem vollen Jahr angelangt. Und dabei habe ich die Urteilsverkündung noch gar nicht mitgerechnet. Es hört sich vielleicht nicht sonderlich loyal an, aber das Niveau einiger Kollegen - und das Ego anderer - lassen für die Zusammenarbeit das Schlimmste befürchten.«

»Sie können doch jetzt nicht mehr alles hinwerfen!«, hält er Higgins vor.

»Mir wurde gesagt, dass es ein halbes Jahr dauern würde«, entgegnet der Amerikaner.

Auch ihm, Brink, hatte das niederländische Außenministerium vorgespiegelt, dass er ein halbes Jahr von Frau und Kindern getrennt sein würde.

»Wissen Sie, Brink, es hat mich fünfzehn Jahre gekostet, eine der bestgehenden Anwaltskanzleien in Boston aufzubauen. Ich denke nicht daran, mich selbst zu ruinieren. Wenn ich Sie wäre, würde ich meinem Beispiel folgen. Jetzt, wo es noch geht.«

»Wir haben diesen Auftrag doch gerade deswegen angenommen«, wendet Brink ein, »weil wir nicht nur für uns selbst, für unser Büro oder für unser eigenes Land verantwortlich sein wollen.«

Higgins nickt langsam und feixt: »Schlimm genug, wenn man sich mit Naivlingen abgibt, aber noch schlimmer, wenn man selbst einer ist!«

Diese Schlagfertigkeit und Unverblümtheit hasst und bewundert er an den Amerikanern. »Das ist unser Beruf«, sagt er.

»Was?«, fragt Higgins ironisch. »Dafür zu sorgen, dass die Karriere in die Binsen geht?«

»Nein, die Japse abzuurteilen, die Millionen unschuldiger Menschen in den Tod getrieben haben. Hoffnung zu bringen, wo Verzweiflung herrscht, Recht zu sprechen, wo Unrecht regiert.«

Das kaum verhohlen spöttische Lächeln von Higgins lässt Brinks Worte noch hochtrabender erscheinen, als sie ihm selbst schon vorkommen. Aber ob er sich nun wie ein Moralapostel anhört oder nicht, er meint schon, was er sagt. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen der Zivilisation, dass die Schuldigen sich verantworten müssen.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich gegen dieses Tribunal bin.« Higgins´ Blick schweift lustlos durch den sich allmählich füllenden Raum. Es ist Zeit für den feierabendlichen Drink. Manchmal hat es den Anschein, als seien die Bar und die Lobby des Imperial Hotel der eigentliche Mittelpunkt der Prozesse. Tag für Tag werden hier von Richtern, Anklägern, Sachverständigen und Mitgliedern des Stabs der amerikanischen General Headquarters, GHQ, Verhandlungen besprochen, Angeklagte gewichtet, Vorgriffe auf die Urteile angestellt.

»Aber die Exkursion in die Berge am Samstag nehme ich schon noch mit, die möchte ich mir nicht entgehen lassen«, sagt Higgins. »Habt ihr bei euch in Holland Wasserfälle?«

Brink schüttelt den Kopf.

»Nein? Dann werden Sie begeistert sein, glauben Sie mir.«

In seinem Zimmer ist es grässlich heiß. Er dreht den Schalter des Deckenventilators auf die höchste Stufe, doch in der drückenden Hitze wird keine Bewegung spürbar. In Unterwäsche tippt er mit schwitzigen Händen die Notizen dieses Tages ins Reine und heftet sie in einem der grauen Ordner ab, die auf seinem Schreibtisch am Fenster stehen. Dann macht er das Radio an und beginnt im lauen Luftstrom des Ventilators mit seinen Kniebeugen. Um sieben Uhr betritt er das Badezimmer. Es ist ein opulenter Raum mit Marmor und Spiegeln und einer Wanne, in die seine drei Kinder alle gleichzeitig hineinpassen würden. Um vieles komfortabler als die einfache, ein wenig spartanische Ausführung in seinem eigenen Haus in Doorn, das früher seinen Schwiegereltern gehört hat. Er ist inzwischen an den Luxus seiner Unterkunft gewöhnt, die Doppelsuite mit dem schweren Mobiliar aus dunklem Tropenholz und Leder. Das Hotel im Kolonialstil wurde von Frank Lloyd Wright entworfen, was, wie manche meinen, Grund dafür war, dass die amerikanische Luftwaffe es bei den heftigen Bombenangriffen auf Tokio verschont hat. Als er sich nach dem Duschen vor dem Spiegel rasiert, wundert er sich immer noch über Higgins´ unsinnigen Beschluss. Anders als der Amerikaner ist er gerade davon überzeugt, dass dieses Tribunal seiner Karriere förderlich sein wird.

Mit frisch rasierten, prickelnden Wangen und in leichtem Sommeranzug steigt er um halb acht zu seinem Fahrer Sergeant Benson in den vor dem Hotel auf ihn wartenden Buick mit dem rot-weiß-blauen Wimpel vorn auf dem Kotflügel. Er sinkt in das Leder der Rückbank und gibt sich dem Verlangen, dem Flirren, diesem seltsam hoffnungsfrohen Gefühl hin, mit dem er auch vor genau einer Woche nach Ginza fuhr.

Das letzte Stück zu dem heruntergekommenen alten Herrenhaus, in das sie ihn mitgenommen hatte, geht er zu Fuß. Das erscheint ihm in dieser relativ guten Wohngegend als kein allzu großes Risiko, zumal es noch hell ist. Er möchte Sergeant Benson nicht mehr wissen lassen als unbedingt nötig. Es geht das Gerücht, dass die Fahrer umgehend dem amerikanischen Nachrichtendienst Bericht erstatten.

Sie erwartet ihn nicht wie vor einer Woche an der Tür. Er zögert und schaut sich um. Ein magerer Mann mit spitzem Strohhut, eine lange Stange mit einem Tragekorb an jeder Seite über der Schulter, geht vor ihm vorbei. Auf der Fahrbahn hält ein offener amerikanischer Militärlastwagen mit weißem Stern auf der Seitentür. Die Besatzer sitzen rauchend und redend auf der Ladefläche. Einer von ihnen deutet zu ihm herüber, und plötzlich sind aller Augen auf ihn gerichtet. Er dreht sich um und betritt das Haus. In der Diele zeigen Schuhe mit ihren kahlen Spitzen zur Haustür. Auf Strümpfen taucht ein Gerippe in verschlissenem Hemd und von einer Schnur zusammengehaltener Nadelstreifenhose auf. Der aristokratische Alte verneigt sich vor ihm, während hinter ihm seine Frau...

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