Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Der Tote aus der Seine

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
368 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am10.03.2017Auflage
Als man eines Morgens kurz vor Ostern die Leiche eines jungen Obdachlosen aus der Seine zieht, geht man zunächst von einem recht banalen Selbstmord aus. Doch schon bald muss Kommissar Gombrowicz diese These wieder kassieren: Die Hände des Opfers sind durchbohrt, und eine Seite des Körpers ist aufgeschlitzt - alles deutet auf die bewusste Inszenierung eines religiösen Rituals hin. Da die Polizei keine schnellen Ergebnisse liefern kann, begeben sich Pater Kern und die junge Richterin Claire Kauffmann, ein bewährtes Ermittlerduo, auf Spurensuche. Schon bald führen verschiedene Fährten die beiden in das unterirdische Labyrinth der französischen Hauptstadt, wo sie eine grausige Wahrheit entdecken müssen ...

Alexis Ragougneau, 1973 geboren, wurde für seine Theaterstücke mehrfach ausgezeichnet. Er hat lange in Notre-Dame gearbeitet und kennt das Pariser Wahrzeichen wie sein eigenes Wohnzimmer. Die Madonna von Notre-Dame ist sein erster Roman.
mehr

Produkt

KlappentextAls man eines Morgens kurz vor Ostern die Leiche eines jungen Obdachlosen aus der Seine zieht, geht man zunächst von einem recht banalen Selbstmord aus. Doch schon bald muss Kommissar Gombrowicz diese These wieder kassieren: Die Hände des Opfers sind durchbohrt, und eine Seite des Körpers ist aufgeschlitzt - alles deutet auf die bewusste Inszenierung eines religiösen Rituals hin. Da die Polizei keine schnellen Ergebnisse liefern kann, begeben sich Pater Kern und die junge Richterin Claire Kauffmann, ein bewährtes Ermittlerduo, auf Spurensuche. Schon bald führen verschiedene Fährten die beiden in das unterirdische Labyrinth der französischen Hauptstadt, wo sie eine grausige Wahrheit entdecken müssen ...

Alexis Ragougneau, 1973 geboren, wurde für seine Theaterstücke mehrfach ausgezeichnet. Er hat lange in Notre-Dame gearbeitet und kennt das Pariser Wahrzeichen wie sein eigenes Wohnzimmer. Die Madonna von Notre-Dame ist sein erster Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843715041
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum10.03.2017
AuflageAuflage
Seiten368 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3220 Kbytes
Artikel-Nr.2144219
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

Der Körper lag auf dem Rücken. Das weiße Licht, das durch die Fensterscheiben drang, hob die Maserung der Haut hervor, als wäre sie auf ein Pergament gemalt, das durch das Wasser, die Zeit und den Tod brüchig geworden war. Über das Geschlechtsteil hatte man ein Laken geworfen - dabei war Scham hier sicherlich fehl am Platz -, das auch die obere Hälfte der Beine bedeckte. Der Kopf war nach links geneigt und lag auf einem Stück Holz, die dichten braunen Locken waren feucht, schmutzig und blutig verklebt. In dieser unnatürlichen Lage drückte das Kinn auf den Adamsapfel und bildete eine Art Kropf, wodurch das Gesicht feist wirkte und daher in krassem Widerspruch zu dem erschreckend dürren Körper stand. Ein struppiger Bartflaum wie bei einem Pubertierenden umrahmte frühzeitig gealterte Züge, die mit ihrem halb grotesken, halb tragischen Ausdruck an eine antike Maske erinnerten. Unweigerlich zogen die Hände und die Füße die Blicke des Betrachters an: Sie waren durchbohrt.

Ein Metrozug fuhr über die Seine, beschrieb einen Bogen und kam über der Voie Mazas mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Dr. Saint-Omer rauschte in den Raum mit dem verblichenen orangefarbenen Linoleumboden, gefolgt von einem Fotografen der Spurensicherung und dem gerichtsmedizinischen Assistenzarzt.

»Es sind von Ostern noch ein paar Eier da, wenn Sie mögen, Lieutenant Gombrowicz. Ich empfehle niemandem, mit leerem Magen einer Autopsie beizuwohnen. Es ist ein bisschen wie beim Fliegen: Bei Turbulenzen ist es immer besser, etwas im Magen zu haben. Das ist aber nicht Ihre erste Obduktion, oder?«

Gombrowicz murmelte eine ausweichende Antwort, während der Mediziner mit seiner behandschuhten Rechten das Laken anhob, um die Hüften des Toten freizulegen. Ein zusammengeschrumpeltes, beschnittenes Glied kam zum Vorschein. Der Lieutenant musste an eine Trockenfrucht denken, eine Pflaume, Dattel oder Feige - und sah augenblicklich zu seinen Sportschuhen hinunter, bei deren einem ein Schnürsenkel offen war.

Unter Klicken und Piepen seiner Kamera begann der Fotograf um den Edelstahltisch herumzutanzen, der im Blitzlichtgewitter aufflackerte. Saint-Omer trank seinen Kaffee aus, während er den Toten betrachtete. Er warf den Becher in den für medizinische Abfälle bestimmten Mülleimer und kratzte sich den kahlen Schädel.

»Gut ... Also ein Clochard am frühen Morgen. Zumindest ist er beim Bad in der Seine ein bisschen sauberer geworden. Tut mir leid, ich ziehe nun mal den Tod dem Schmutz vor. Haben Sie auch Aufnahmen in bekleidetem Zustand gemacht?«

Der Fotograf checkte mit dem Zeigefinger die gespeicherten Aufnahmen, und ohne einen Augenblick vom Display seiner Canon aufzusehen, gab er einen unbestimmten Laut von sich, der den Arzt zufriedenzustellen schien.

»Haben Sie die Kleidungsstücke alle aufgelesen? Ist alles hier?«

Der Assistent bejahte mit einer unmerklichen Bewegung des Kinns.

»Körpermaße, Gewicht, Röntgen, alles erledigt?«

Der Assistent nickte erneut, worauf der Gerichtsmediziner mit einem kurzen quietschenden Geräusch die Hände über seiner Plastikschürze kreuzte.

»So, wen haben wir denn da? Nicht identifiziertes Individuum männlichen Geschlechts, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, nordafrikanischer Typus. Die Leiche wurde am 21. April gegen Ende des Tages aufgefunden, sie trieb in Höhe der Haltestelle Port de Montebello des Batobus. Zyanose des Gesichts, schön blauviolett. Augen turgeszent. Ödeme an den Lidern. Schaumpilzbildung an den frontalen Gesichtsöffnungen. Zahlreiche Hämatome an Knien und Unterarmen, die vielleicht vom Schleifen über den Flussgrund herrühren; allerdings neige ich eher zu der Überzeugung, sie stammen von den vergeblichen Versuchen, vor dem endgültigen Ersticken an Land zu gelangen. Die Untersuchung der Lungen wird den Beweis für die Hypothese Tod durch Ertrinken erbringen. Der Mazerationsgrad der Haut lässt auf eine Verweildauer unter Wasser zwischen zwei und vier Tagen schließen. Die Epidermis löst sich an Händen und Füßen. Spuren von Verwesung am Hals und in der Brustgegend. Schauen Sie mal, dieses tiefe Grün hier, Lieutenant, ist doch wirklich erstaunlich, was für Farben der Tod hervorbringt. Interessieren Sie sich für Malerei?«

Gombrowicz starrte angestrengt auf seinen offenen Schnürsenkel und versuchte, sich auf nichts anderes als das dünne weiße Band zu konzentrieren, das sich auf dem abgenutzten Linoleumboden schlängelte. Saint-Omer redete weiter, ohne auch nur ein einziges Mal aufzusehen.

»Genereller Zustand sehr schlecht. Kachexie infolge gravierender Mangelernährung. Extreme Magerkeit. Völlig verschmutzt. Angeborene Atrophie des rechten Arms und dadurch bedingte Unfähigkeit, die Hand zu bewegen. Zahlreiche Hautverletzungen infolge von Flohbissen oder Krätze. Sekundärinfektion in Form eines Geschwürs am Bein. Ist das Ihr erster Obdachloser, Lieutenant ...? Zahlreiche Fußprobleme, diverse Dermatosen und Parasitosen; man darf sie aber nicht mit den Blasen verwechseln, die von dem langen Verbleib unter Wasser herrühren ...«

Der Gerichtsmediziner hielt mitten im Satz inne, trat einen Schritt zurück - gerade so lange, dass der Fotograf ein paar Nahaufnahmen von den Füßen machen konnte - und redete danach weiter, als hätte er sich nie unterbrochen.

»Jedenfalls sind es immer dieselben Krankheiten, an denen Penner zugrunde gehen. Manchmal reichen schon ein paar Wochen, und das Verhältnis zum Körper ändert sich völlig, was dazu führen kann, dass Infektionen einfach nicht wahrgenommen werden. Ich weiß noch, im November letzten Jahres wurde hier die Leiche eines Vierzigjährigen eingeliefert - der aber gut und gern für einen Siebzigjährigen durchgegangen wäre -, dessen eine Socke buchstäblich mit der Haut verwachsen war, weil er sie monatelang nicht ausgezogen hatte. Zu solchen Anomalien, Lieutenant, kommt man nur, wenn man das Bewusstsein für den eigenen Körper vollkommen verliert. Der Körper wird einem fremd, er ist wie ein Stück Treibgut, das davonschwimmt. Der Bursche hier stellt keine Ausnahme dar: Lange hätte er es ohnehin nicht mehr gemacht.«

Gombrowicz bückte sich und band den Schnürsenkel seines Turnschuhs zu. Als er sich wieder aufrichtete, überkam ihn ein leichter Schwindel, und er drückte die Schultern gegen die Wand. Er hatte heute den ganzen Morgen nichts zu sich nehmen können. Beim Gedanken an die bevorstehende Autopsie war ihm der Magen schon seit dem Vorabend wie zugeschnürt.

Saint-Omer löste seine Hände vom Bauch und stützte sie auf dem Seziertisch ab.

»Die Stigmata an Händen und Füßen sind allerdings absolut ungewöhnlich; es sind tiefe Wunden, zugefügt mit einem Stichel, einem Schraubendreher, vielleicht auch einem großen Nagel. Und dann ...«

Der Gerichtsmediziner stach mit seinem latexüberzogenen Finger in eine fünfzehn Zentimeter lange Wunde seitlich unterhalb des Brustkorbs.

»Und dann haben wir ja noch die Wunde hier an der Seite, die von einem Cutter oder einem sehr spitzen Messer herrührt, was noch auf einen zweiten Angreifer schließen lassen könnte. Erinnert er Sie nicht an jemanden, dieser junge Mann? Wie er da so liegt, während sich das Frühlingslicht über seinen Körper ergießt, sieht er nicht aus wie ein Mantegna?«

Gombrowicz sah von seinen Schuhen auf.

»Wer ist das?«

»Andrea Mantegna. Ende 15. Jahrhundert. Ein Meisterwerk. Das Bild hängt in Mailand.«

»Glauben Sie, das hilft uns bei der Identifizierung?«

Zum ersten Mal seit Beginn der Autopsie wandte sich der Gerichtsmediziner von der Leiche ab und betrachtete den jungen Kriminalbeamten über seine halbmondförmigen Brillengläser hinweg.

»Jetzt fällt es mir wieder ein ... Das letzte Mal waren Sie mit Ihrem Vorgesetzten da, Commandant ... Wie hieß er noch gleich? So ein untersetzter Typ ...«

»Landard.«

»Landard, genau. Ist Ihr Aufpasser heute gar nicht mit von der Partie?«

»Er wartet unten im Hof und raucht vermutlich eine Kippe nach der anderen.«

»Wussten Sie nicht, dass es sich um einen Obdachlosen handelt? Bei dem Mann da auf dem Seziertisch, meine ich.«

»Ein Ertrunkener, hieß es nur.«

»Verstehe. Also ... Sollen wir den Knaben mal aufschnippeln?«

Saint-Omer zückte ein Skalpell und zeichnete mit leichter Hand, gerade so, als würde er mit einem Pinsel über eine noch jungfräuliche Leinwand fahren, ein großes Y von den Schultern bis hinab zur Schamgegend. Eine gebliche Flüssigkeit quoll aus der Wunde. Der Gerichtsmediziner hob die Ränder an und legte die Rippen frei, dann griff er nach einer großen Zange, um die Rippen zu durchtrennen. Die inneren Organe kamen zum Vorschein, ein bestialischer Geruch erfüllte den Raum. Der Arzt atmete tief ein.

»Haben Sie Parfum an sich, Lieutenant? Denn das intensiviert den Geruch noch. Versuchen Sie nicht, dagegen anzugehen. Im Gegenteil, inhalieren Sie ganz tief. Glauben Sie mir, das ist die einzige Art, damit fertig zu werden.«

Gombrowicz´ Magen krampfte sich zusammen, er hielt die Luft an, um sich nicht übergeben zu müssen.

»Falls Ihnen schlecht wird, da links von Ihnen auf dem Metallwägelchen steht eine Schüssel.«

Der Kriminalbeamte spürte, wie ihm der Schweiß von den Achseln rann. Ein Hauch seines Deos, Ozeanfrische, drang ihm in die Nase, und er biss die Zähne noch ein wenig fester zusammen: Der Duft verstärkte den Leichengeruch tatsächlich.

Saint-Omer hatte sich schon wieder über die sterblichen Überreste...


mehr

Autor

Alexis Ragougneau, 1973 geboren, wurde für seine Theaterstücke mehrfach ausgezeichnet. Er hat lange als Stadtführer in Paris gearbeitet und kennt die französische Metropole wie sein eigenes Wohnzimmer. Zuletzt erschien bei List Die Madonna von Notre-Dame, der erste Fall für Pater Kern.