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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am14.02.2022
Auf der Beerdigung ihres Vaters hält Ariane am Flügel inne, die gefeierte Konzertpianistin, belauert von der Trauergesellschaft. Eine dröhnende Pause, ein langes Atemholen, und Ariane setzt an - zu Schostakowitschs »Opus 77« und zu der Geschichte ihrer Familie. Ihr Vater, der große Dirigent, der Maestro, übermächtig in Orchester und Familie. Ihr Bruder, Geigenvirtuose, das blasse Gesicht verborgen hinter schwarzen Locken. Ihre Mutter, ehemals leuchtend, nur noch ein schwacher Schatten. Und sie selbst, verdeckt von der perfekten Inszenierung der unnahbaren Pianistin. Vom einsamen Gesang steigert sich Arianes Opus zu einem dämonischen Tanz, der die Ruhe zerreißt und die Missklänge der Vergangenheit aufwirbelt.

Alexis Ragougneau (*1973) studierte zunächst Betriebswirtschaftslehre, bevor er sich dem Theater zuwandte und eine Schauspielausbildung absolvierte. Bis 2013 war er als Schauspieler, Regisseur und vor allem als Dramatiker tätig, seine Theaterstücke wurden in Frankreich, Belgien und der Schweiz aufgeführt. 2014 gab er sein Romandebüt. Für seinen Roman Opus 77 wurde er mit dem Prix Libraires en Seine und dem Prix de l'Union Interalliée ausgezeichnet und stand u. a. auf der Shortlist des Prix Femina und des Prix Goncourt.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextAuf der Beerdigung ihres Vaters hält Ariane am Flügel inne, die gefeierte Konzertpianistin, belauert von der Trauergesellschaft. Eine dröhnende Pause, ein langes Atemholen, und Ariane setzt an - zu Schostakowitschs »Opus 77« und zu der Geschichte ihrer Familie. Ihr Vater, der große Dirigent, der Maestro, übermächtig in Orchester und Familie. Ihr Bruder, Geigenvirtuose, das blasse Gesicht verborgen hinter schwarzen Locken. Ihre Mutter, ehemals leuchtend, nur noch ein schwacher Schatten. Und sie selbst, verdeckt von der perfekten Inszenierung der unnahbaren Pianistin. Vom einsamen Gesang steigert sich Arianes Opus zu einem dämonischen Tanz, der die Ruhe zerreißt und die Missklänge der Vergangenheit aufwirbelt.

Alexis Ragougneau (*1973) studierte zunächst Betriebswirtschaftslehre, bevor er sich dem Theater zuwandte und eine Schauspielausbildung absolvierte. Bis 2013 war er als Schauspieler, Regisseur und vor allem als Dramatiker tätig, seine Theaterstücke wurden in Frankreich, Belgien und der Schweiz aufgeführt. 2014 gab er sein Romandebüt. Für seinen Roman Opus 77 wurde er mit dem Prix Libraires en Seine und dem Prix de l'Union Interalliée ausgezeichnet und stand u. a. auf der Shortlist des Prix Femina und des Prix Goncourt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293311213
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum14.02.2022
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2327 Kbytes
Artikel-Nr.8916405
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




Ich habe nur an einem einzigen Wettbewerb teilgenommen, fast zwei Jahre nach dem Skandal von Brüssel, nachdem mein Bruder sich in seinem Bunker verschanzt hatte und von meinem Vater auch noch einiges gekommen war. Ich war gerade achtzehn geworden. Meine Karriere hatte noch gar nicht begonnen, aber ich war schon europaweit unbeliebt, teils weil ich so schön, also oberflächlich war, aber noch mehr, weil ich Claessens hieß. Die Tochter des Dirigenten, der ... Die Schwester des Geigers, welcher ... Jedenfalls wussten alle Bescheid.

Ich flog nach New York, um an dieser unbedeutenden, von einem Klavierverleiher gesponserten Ausscheidung teilzunehmen, die außerhalb des großen internationalen Wettbewerbszirkus stattfand, wo man eine Startnummer zieht, mit der man dann auf die Bühne geschickt wird - wie die Radrennfahrer bei der Tour de France.

In New York spielen die Kandidaten anonym hinter einer Trennwand. Die Jury kennt weder Namen noch Aussehen, sie sieht die dramatischen Gesten ebenso wenig wie das emotional verzerrte Gesicht oder den Schweiß, der unter der Scheinwerferhitze in Strömen rinnt.

In New York winken dem Sieger weder Geld noch Standing Ovations, sondern sein erster Schallplattenvertrag und ein Auftritt in der Carnegie Hall.

In New York habe ich befreit gespielt, ohne auch nur einen Augenblick an den Blick der anderen zu denken; ich konnte sie spüren, meine Richter, auf der anderen Seite des Paravents, aber ich wusste nichts von ihnen, so wie sie nichts von mir wussten, sie kannten nicht einmal mein Geschlecht.

So spielte ich Liszts h-Moll-Sonate dort für einen Wandschirm. Und verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit. Irgendwann hatte ich den Eindruck - und das würde ich auf alles schwören, was Sie wollen, außer auf den Kopf meiner Mutter oder meines Vaters -, dass mein Flügel sich von der Erde erhob; eine halbe Tonne Holz und Eisen schwebte über der Bühne, alles erschien mir einfach, leicht, selbstverständlich. Ich war nicht mehr Ariane Claessens, sondern eine glatte, schimmernde Seifenblase, in der tausend Millionen Noten tanzten. Diese Erfahrung, das kann ich Ihnen versichern, ist besser als alle Drogen der Welt. Auch wenn man sie nur ein einziges Mal gemacht hat, kann sie zum Ziel eines ganzen Lebens werden, die Ergriffenheit, die Schlichtheit, die Gnade dieses Konzerts für einen Paravent wiederzufinden, das ich mit knapp achtzehn gab. 

Oft reicht es, am Ende eines Stücks mit beseeltem Gesichtsausdruck sitzen zu bleiben, um Beifallsstürme auszulösen. Alles liegt an diesen paar Sekunden Nachhall - Sie ist so schön und von einer so tiefen Empfindung, noch ganz erfüllt von dieser ungeheuren Musik, eine enorme Künstlerin, lasst sie uns geziemend feiern, ihr einen roten Teppich aus Bravo- und Zugaberufen ausrollen, auf dem sie sanft landen kann; dann wird sie sich uns zuwenden, dem eroberten Publikum, und uns zum Dank eine Verbeugung schenken, vielleicht sogar ein Lächeln, in dem sich Freude, Demut und Erschöpfung mischen.

Die Liszt-Sonate eignet sich aufs Allerbeste für diese kleine Übung in der Manipulation der Massen. Die letzten Noten eröffnen dem Interpreten, der sein Charisma ausspielen will, einen wahren Prachtboulevard. In New York gönnte ich mir diese Lust am Stillsitzen und bedeutungsschweren Schweigen genau deshalb, weil niemand mich sehen konnte. Die Sekunden verrannen. Auf der anderen Seite des Wandschirms kein Geräusch, kein Beifall. Nur ein diskretes Hüsteln. Dann: Thank you very much von einer etwas zu hohen Männerstimme, wobei das very leicht betont war. Nicht weit davon schnäuzte sich jemand, und ich ging mit dem Gefühl von der Bühne, dass dieser schlichte Dank viel mehr wert war als dreitausend tobende Zuschauer.

Auch die Ergebnisse wurden in New York nicht mit Tusch und Trommelwirbel offiziell verkündet. Um zu erfahren, wie man im Wettbewerb abgeschnitten hatte, sollte man am selben Abend zu einer bestimmten Uhrzeit eine bestimmte Telefonnummer anrufen. Wie in einem Spionageroman, finden Sie nicht? Aber warten Sie, es kommt noch besser.

Um die Zeit totzuschlagen, bis ich erfahren würde, ob es sich gelohnt hatte, mir den Billigflug Genf-New York in der Bretterklasse zu leisten, natürlich ohne am Konservatorium oder gar meinem Vater Bescheid zu sagen, ging ich in ein Museum im Norden Manhattans, The Cloisters.

The Cloisters, das sind fünf aus Europa nach Amerika überführte und dort zu einem Museum mittelalterlicher Kunst zusammengestoppelte romanische und gotische Klöster, das Ganze finanziert von John D. Rockefeller jr. Gut zwei Stunden irrte ich durch diese abenteuerliche Operettenabtei und dachte an meinen Bruder, der sich in einem Bunker eingeschlossen hatte, um dort sein monastisches Ideal zu leben und seinen übermäßigen Bedarf an Stille zu befriedigen.

Am Ende gelangte ich in einen großen Saal mit sieben Wandteppichen aus der Zeit um 1500, die sieben Etappen einer Einhorn-Jagd darstellten; diese Tapisserien haben sich auf ewig in mein mittelmäßiges Gedächtnis eingeprägt, ich kenne sie in- und auswendig und beschreibe sie Ihnen gern, wenn Sie freundlicherweise Ihre Fantasie spielen lassen wollen:

Die Jäger dringen mit ihrer Meute in den Wald ein.

Eine Jungfrau als Köder soll das Tier anlocken.

Das Einhorn wird aufgestöbert, verfolgt und mit tausend geschliffenen Lanzen umstellt.

Es wird zum Angriff geblasen.

Das Einhorn wehrt sich.

Es wird von den Hunden und Lanzen zerrissen.

Das verletzte Einhorn verendet in einem Gehege vor dem Schloss.

Dem Ende nah, schlägt das arme Tier verzweifelt aus und verletzt sich an den Stäben seines Gefängnisses. Das aus seinen Wunden fließende Blut befleckt sein weißes Kleid. Seine Kehle wird von einem mit Edelsteinen besetzten Halsband abgeschnürt, das von den Kerkermeistern sicherheitshalber noch an einen Obstbaum angekettet wurde.

Allein im Saal, setzte ich mich vor die siebte Tapisserie und rief zur besagten Zeit die angegebene Nummer an. Die Jury hatte mich zum Artist of the year gewählt und zur Siegerin erklärt. Ich sagte Thank you, thank you so much, wobei ich das so much leicht betonte. Ich konnte meine Augen nicht mehr von dem angeketteten Einhorn lösen. Um das Gatter herum wuchsen Myriaden bunter Blumen. Dann hörte ich Schritte auf dem Parkett, ein alter Mann setzte sich neben mich und versank in die Betrachtung der sieben Wandteppiche. Er trug eine Tweedjacke, womöglich dieselbe wie in Brüssel, und roch nach kaltem Tabak.

Wussten Sie, dass diese Einhornjagd eines meiner Lieblingswerke ist? Wenn ich in New York bin, lasse ich mir nie die Gelegenheit entgehen, es zu betrachten, das schöne Einhorn, das von den Pöbelhorden gehetzt und verletzt wird. Da möchte man am liebsten das Gatter öffnen, in dem es gefangen gehalten wird ... Ich sah ihn schweigend an. Das Telefon in meiner Hand war noch ganz heiß von der Nachricht meines Sieges. Ich war vorhin dabei. Sie haben Liszt gespielt, und ich habe mich gefragt, wer die h-Moll-Sonate so spielen kann. Mann oder Frau? Das habe ich während Ihres Vorspielens die ganze Zeit überlegt ... Und? Sind Sie vor dem Ende draufgekommen? ... Ich war mir sicher, dass ein junger Mann hinter dem Schirm sitzt. Ich hätte nicht sagen können, warum, aber ich habe ihn mir eher dunkel vorgestellt; mit Locken und feinen Zügen, aber großen, starken Händen ... Sie skizzieren gerade ein Bild meines Bruders ... Ich erinnere mich sehr gut an Sie, Ariane. Wir sind uns vor zwei Jahren beim Concours Reine Elisabeth begegnet. Da waren Sie ein Teenager, noch ganz im Banne Ihrer Kindheit, inzwischen sind Sie zur Frau geworden ... Ich erinnere mich auch an Sie ... Das war nach dem Halbfinale; Ihr Bruder hat mir meine Visitenkarte ins Gesicht geworfen ... Sie übertreiben. Er wollte bloß in Ruhe seinen Tee trinken und noch ein bisschen in seiner Blase verharren ... Natürlich übertreibe ich. Das ist mein Metier: alles zu übertreiben, das Unsichtbare sichtbar zu machen ... Nur um das klarzustellen, Monsieur Bogatt, sind Sie mir tatsächlich bis hierher gefolgt? ... Selbstverständlich, liebste Ariane. Ich konnte doch nicht zulassen, dass Sie mir nach dieser denkwürdigen Interpretation entkommen ... Sie haben den Bruder vor zwei Jahren nicht gekriegt, also haben Sie sich gedacht, Sie könnten ja die Schwester in Ihren Stall holen ... Sie unterscheiden sich von David so gewaltig wie das Einhorn von einem jungen Hengst ... Und was macht diesen gewaltigen Unterschied aus? ... Na, das Horn, meine Liebe, das Horn, mit dem man den Gegner durchbohren kann, das einem hilft, in einer Welt zu überleben, in der man sich entscheiden muss, ob man Jäger oder Gejagter sein will ... Sehen Sie es sich doch an, Monsieur, Ihr Einhorn, das tödlich verwundet in seinem Gatter liegt. Finden Sie wirklich, dass es so einen eleganten Auftritt hinlegt? ... Wie ich gerade erwähnte, liebste Ariane, bin ich derjenige, der den Schlüssel zum Gehege hat. In Hinkunft bin ich der Garant Ihrer künstlerischen Unabhängigkeit und Ihrer Freiheit als Frau. Und ich weiß, dass Sie mir im Gegenzug nie so in die Parade fahren werden wie Ihr Bruder beim Finale in Brüssel. Nie. Jetzt könnten wir doch unseren Sieg feiern, was meinen Sie, Ariane? Haben Sie Zeit für ein Essen?

Dass ich in New York nicht für einen Paravent gespielt habe,...


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Autor

Alexis Ragougneau (*1973) studierte zunächst Betriebswirtschaftslehre, bevor er sich dem Theater zuwandte und eine Schauspielausbildung absolvierte. Bis 2013 war er als Schauspieler, Regisseur und vor allem als Dramatiker tätig, seine Theaterstücke wurden in Frankreich, Belgien und der Schweiz aufgeführt. 2014 gab er sein Romandebüt. Für seinen Roman Opus 77 wurde er mit dem Prix Libraires en Seine und dem Prix de l'Union Interalliée ausgezeichnet und stand u. a. auf der Shortlist des Prix Femina und des Prix Goncourt.

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