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Das Leben wartet nicht

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am22.02.20173. Auflage
Ninetto war noch ein Kind, als er allein von Sizilien nach Mailand kam, um Arbeit zu suchen. Ein furchtloser Junge mit der Sonne des Südens im Herzen. Obwohl er noch zu klein war für das Fahrrad, fand er sogleich eine Anstellung als Bote. Heute, über fünfzig Jahre später, erkennt sich Ninetto in den Neuankömmlingen aus China und Nordafrika wieder. Sie haben dieselben Träume wie er damals. Und setzen alles daran, sie zu verwirklichen.

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Mit seinem Roman ?Das Leben wartet nicht? gewann er den Premio Campiello. Mit ?Ich bleibe hier? war er nominiert für den Premio Strega, in Italien und im deutschsprachigen Raum war das Buch ein großer Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in Mailand.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextNinetto war noch ein Kind, als er allein von Sizilien nach Mailand kam, um Arbeit zu suchen. Ein furchtloser Junge mit der Sonne des Südens im Herzen. Obwohl er noch zu klein war für das Fahrrad, fand er sogleich eine Anstellung als Bote. Heute, über fünfzig Jahre später, erkennt sich Ninetto in den Neuankömmlingen aus China und Nordafrika wieder. Sie haben dieselben Träume wie er damals. Und setzen alles daran, sie zu verwirklichen.

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Mit seinem Roman ?Das Leben wartet nicht? gewann er den Premio Campiello. Mit ?Ich bleibe hier? war er nominiert für den Premio Strega, in Italien und im deutschsprachigen Raum war das Buch ein großer Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in Mailand.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257607833
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum22.02.2017
Auflage3. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse902 Kbytes
Artikel-Nr.2240431
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
{17}2

So einfach von einem Tag auf den anderen bin ich aber nicht ausgewandert, nein. Es ist ja nicht so, dass ein kleiner Knirps plötzlich grundlos aufspringt und losfährt. Vorher haben sie mir alles vermiest, mit Zank, Tagen ohne Essen und unerträglichem Gekeife, erst dann bin ich weggegangen. Es war Ende 1959, ich war neun, und in dem Alter möchte man immer lieber in seinem Dorf bleiben, auch wenn es ein beschissenes Dorf ist und keineswegs das Schlaraffenland. Aber irgendwo hört´s auf, und wenn dir scheint, das Elend werde dich gleich verschlingen wie eine Sturzwelle, dann ist es besser, du packst dein Bündel und haust ab, Schluss, aus.

Meine Mama wurde jeden Tag dusseliger. Doktor Cucchi wiederholte bei seinen Besuchen sein übliches Palaver und verordnete uns, bestimmte Medikamente zu kaufen, die kein bisschen halfen, aber ein Vermögen kosteten. Man musste sie ihr unter die Zunge legen, wenn sie einen Anfall {18}bekam. Mein Vater war mittlerweile gespannt wie eine Geigensaite, besser, man zupfâte nicht daran und hielt mindestens eine Armeslänge Abstand. Er kam nach Hause, wann er wollte, und sagte nicht einmal »guten Abend«. Wenn er redete, dann nur, um mitzuteilen, dass er wieder rausging. »Ich gehe auf die Piazza, um mir die Beine zu vertreten«, knurrte er, während er mit der Zigarette im Mund die Tür hinter sich zuzog. Aber selbstverständlich ging er nicht deshalb auf die Piazza. Er ging Karten spielen im Keller von einem Typ namens Stefano. Und eins, zwei, drei hatte ihn die Spielwut gepackt. Ich weiß, dass er dorthin ging, denn einmal bin ich ihm barfuß gefolgt. Auf allen vieren habe ich mich auf dem Gehsteig vors Kellerfenster gehockt und ihn beobachtet. Gern hätte ich ihm die Karten der anderen Spieler verraten, doch mein Vater gewann auch ohne meine Einflüsterungen; das bisschen Geld, das ich nach Mailand mitnahm, hatte er alles dort unten gewonnen, in dieser verrauchten Höhle. Andere sind nur mit einem Glas Oliven oder mit einem noch warmen Brot abgereist, ich dagegen besaß ein nettes Sümmchen, auch wenn ich es dann gar nicht ausgeben konnte. Doch im Dorf hassten sie ihn allmählich wegen dieser Geschichte mit den Karten, und bald hatte er alle seine Freunde verloren. Einem nach dem anderen hat mein Vater die {19}Haut abgezogen, bis er den Bogen überspannte und selber reingelegt wurde.

Was aber die Prügel betrifft, die er mir manchmal am Abend verabreichte, gibt es nicht viel zu philosophieren, zimperlich durfâte man nicht sein. In San Cono prügelten alle Eltern, Schluss, aus. So, wie der Himmel regnet, die Kuh muht und der Baum seine Blätter verliert, so natürlich schlugen die Eltern von San Cono ihre Kinder. Hatte man sich zum Beispiel mit einem anderen Kind geprügelt, kriegte man gleich noch eins drauf. »Wie? Du hast dich verhauen lassen? Was für ein Schlappschwanz soll bloß aus dir werden?!« - und zack, sauste der Gürtel herunter. »Du hast deine Hose dreckig gemacht?« - Fußtritte ohne Ende. »Du hast dir weh getan?« - fliegende Holzschuhe. Allerdings waren die Holzschuhe eine weibliche Waffe, die Spezialität der Mütter und einiger älterer Schwestern. Meine Mama zum Beispiel war ein Profi im Holzschuhwerfen. Zielgenau wie ein Soldat. Egal aus welcher Entfernung, sie traf immer. Manchmal war das Erstaunen darüber heftiger als der Schmerz. Sie brauchte dir nur mit ihrem Tigerblick in die Augen zu starren, und der Holzschuh flog los wie ein Vogel, vorbei am Geschirr und zwischen den Türen durch, hinter denen ich Schutz suchte. Mich hat das einen Zahn gekostet, aber einige Freunde hat es schlimmer erwischt.

{20}Einmal wurde ich auch dafür verhauen, dass ich in die Schule gegangen bin. Da mein Vater mir am Abend zuvor nichts zu essen gegeben hatte, sagte er, ich dürfe dafür später aufstehen. So dachte ich beim Aufwachen, dass ich für die Arbeit als Tagelöhner sowieso zu spät dran war, und lief mir nichts, dir nichts in die Via dei Ginepri. In meinem Übermut hielt ich an der Bäckerei in der Via Ruggero il Normanno an und bettelte um einen Tarallo. Als Bub konnte ich so rührend schöne Augen machen! Sogar falsche Tränen konnte ich weinen, wie ein Schauspieler von Cinecittà. Die Frauen fielen immer drauf rein. Jetzt dagegen sind meine Augen so schmal wie Schlitze, als wollten sie die Sonne nicht einlassen.

Jenen Schultag habe ich bis heute nicht vergessen. Erst mal war ich enttäuscht über den Empfang, den mir meine Klasse bereitete. Ich erwartete ein großes Trara wie beim Fest des Dorfheiligen, aber außer Peppino, der rumhüpfte wie ein Kaninchen, beachtete mich niemand. Es war, als hätte ich gar nie gefehlt. Nur Ettore kam und flehte mich an, ihm ja nicht das Pausenbrot zu klauen, und flennte wieder wie ein Mädchen. Auch der Lehrer Vincenzo sagte beim Eintreten kein Wort zu mir. Er runzelte nur die Stirn, als er mich auf meinem Platz sitzen sah, sonst nichts. Da dachte ich, mit unserer {21}Freundschaft sei es aus und vorbei, und wollte sofort raus aufs Feld rennen.

Aber die Stunde war spitze. Er sprach über einen Herrn namens Schanschak Russò und nannte ihn einen Denker, ein Wort, das ich noch nie gehört hatte und das nach Meinung meines Banknachbarn jemanden bezeichnete, der sehr schlau und gescheit war, doch Peppino meinte, das sei einer, der morgens aufstehe, den ganzen Tag nichts zu tun habe und bloß rumhänge.

Der Lehrer zeichnete zwei Männer an die Tafel. Einer stand auf einem eingezäunten Feld und sagte: »Das gehört mir!«, der andere stand auf einem Feld ohne Zaun und sagte nichts. Der Lehrer ließ uns seine Zeichnung abmalen und erklärte, dass es, bevor jener Mann sagte: »Das gehört mir!«, keine Gesellschaft mit Kasernen, Krankenhäusern, Schulen, Gerichten, Gefängnissen und Banken gab und die Menschen frei waren, denn die Natur war so üppig, dass es für alle reichte, man musste sich nicht wegen einem Bissen zerfleischen. Doch dann sagte jener Mann: »Das gehört mir!«, und daraufhin war der Teufel los. Alle fingen an, es ihm nachzumachen, und statt von einer Landschaft oder einer schönen Frau träumten sie nun von immer höheren Zäunen und schafften sich für ihre Häuser Türen mit Schloss und Riegel an und bissige Hunde für die Tore.

{22}»Russò schreibt, diese Erfindung mit den Zäunen heißt Privateigentum«, sagte der Lehrer.

Peppino hob die Hand, um zu fragen, ob dieser Herr denn im Leben nicht nur viel gedacht, sondern auch viel geträumt und geschnarcht habe, wobei er so durch die Nase grunzte, dass ich bei dem Gedanken immer noch lachen muss und im Kopf die ganze Klasse kichern höre. Vor vielen Jahren erzählte man mir in San Cono, dass auch Peppino mit etwa fünfzehn Jahren ausgewandert sei und eine Zeit lang in Mailand gelebt habe. Anfangs hatte er Mühe, sich einzuleben, und verbrachte die Tage in Pornokinos, zettelte Schlägereien an und klaute Autos. Später ging er mit seinem Bruder nach Deutschland, und dort hat er vielleicht Vernunft angenommen, eine feste Arbeit gefunden und eine Familie gegründet. Peppino war noch ärmer als ich. Seine Familie hielt das Vieh direkt im Haus, das eher ein Stall war als eine Wohnung. Und seine Eltern wirkten selber wie Tiere. Wegen dem Geruch nach feuchtem Stroh, den sie verströmten, wegen ihren Kuhaugen und weil sie wie die Esel im Stehen aßen. Wer weiß, vielleicht sind wir uns in der Stadt sogar manchmal begegnet, womöglich an einem Sonntag, dem schlimmsten Tag der Woche.

Zur Abwechslung knurrte mir auch an jenem Tag wieder der Magen, und mir war schwindlig. {23}Um bei der Heimfahrt auf dem Fahrrad meines Vaters nicht einzuschlafen, erzählte ich ihm von der Unterrichtsstunde.

»Papa, weißt du, warum das Land, wo wir ackern, nie uns gehören wird?«, fragte ich ihn.

»Warum?«

»Weil ein Denker namens Russò schreibt, dass ein Mann vor vielen Jahrhunderten Das gehört mir! gesagt und einen Zaun um ein Feld gezogen hat, und seitdem sind die Menschen ungleich geworden.«

»Und wer war dieser verfluchte Kerl?«

»Den Namen weiß ich nicht, den hat uns der Lehrer nicht gesagt, aber es war der, der das Privateigentum erfunden hat, während vorher alles allen gehörte, vorher gab es reichlich zu essen und keine Gesetze, Schulen, Krankenhäuser und Rechtsanwälte.«

»Das hat dir wohl ein Kommunist beigebracht!«, zischte mir mein Vater ins Ohr.

Aber ich war ja noch ein Kind, die Bedeutung dieses Wortes kannte ich gar nicht. Im Gegenteil, ich verstand Camionist.

 

Auf den Feldern von Don Alfio arbeiteten wir zu viert, zwei auf der einen Seite, zwei auf der anderen. Mein Lohn bestand aus Erbsen, Tomaten, {24}Kaktusfeigen ... wertlosem Kleinkram. Am Abend schickte mich mein Vater los, um noch einen Korbvoll zu holen. Die ersten Male protestierte ich lautstark, weil ich mich vor den Hunden fürchtete. Er hänselte mich und sagte: »Hast du Angst? Lang dir an den Sack, das hilfât!« Später habe ich gelernt, wie der Blitz den Baum hochzuklettern, und mich nicht mehr so angestellt.

Dort auf dem Acker habe ich Giuvà kennengelernt. Ich nannte ihn paesano. In San Cono nannte man die Älteren entweder paesano oder, wenn es einer aus dem engeren Kreis war, der dir Geschenke machte, dich zum Essen einlud oder dein Pate war, compare. Giuvà schielte und hatte eine Halbglatze. Er war etwas über vierzig, doch seine Haut war schon so gegerbt wie bei einem alten Bauern. Alles in allem sah er aus wie ein Trottel. An dem Tag, an dem er auf die Welt gekommen ist, muss sich der Herrgott zwischendurch ein paar Stunden freigenommen haben. Zu mir war Giuvà aber sehr nett, und wenn mein Vater nicht dabei war, ließ...
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Autor

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Mit seinem Roman >Das Leben wartet nichtIch bleibe hier