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Die Reise des Zeichners

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
300 Seiten
Deutsch
Eichbornerschienen am09.09.20161. Aufl. 2016
Ein außergewöhnlicher Mann auf abenteuerlicher Reise: Am 29. November 1777 bricht der junge Johann Wolfgang Goethe in den Harz auf. Er reist unter falschem Namen und gibt sich als Zeichner aus Gotha aus. Als erster Mensch will er im Winter den Brocken besteigen.Wieder eine Aufgabe, mit der er beweisen kann, dass etwas Einzigartiges um ihn ist.



Lebendige Figuren, pointierte Dialoge, abenteuerliche Begebenheiten - so frisch ist uns Goethe lange nicht mehr begegnet.


Christian Schärf, geboren 1960 in Ludwigshafen am Rhein, lehrt seit 1989 Literaturwissenschaft, Philosophie und Kreatives Schreiben an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland. Seit 2013 leitet er das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim. Sein Romandebüt Ein Winter in Nizza erschien 2014 im Eichborn Verlag.
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Produkt

KlappentextEin außergewöhnlicher Mann auf abenteuerlicher Reise: Am 29. November 1777 bricht der junge Johann Wolfgang Goethe in den Harz auf. Er reist unter falschem Namen und gibt sich als Zeichner aus Gotha aus. Als erster Mensch will er im Winter den Brocken besteigen.Wieder eine Aufgabe, mit der er beweisen kann, dass etwas Einzigartiges um ihn ist.



Lebendige Figuren, pointierte Dialoge, abenteuerliche Begebenheiten - so frisch ist uns Goethe lange nicht mehr begegnet.


Christian Schärf, geboren 1960 in Ludwigshafen am Rhein, lehrt seit 1989 Literaturwissenschaft, Philosophie und Kreatives Schreiben an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland. Seit 2013 leitet er das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim. Sein Romandebüt Ein Winter in Nizza erschien 2014 im Eichborn Verlag.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783732529858
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Verlag
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum09.09.2016
Auflage1. Aufl. 2016
Seiten300 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2271894
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1.

Das Gebirge, aus der weiten Ebene aufragend, von weißen Wäldern bedeckt. Buchen, Eschen, Tannen, mit Schnee beladen. Dazwischen, verstreut, Höfe, Weiler und Dörfer, versprengte Siedlungen.

Dünner Kaminrauch steigt aus einzelnen Schornsteinen auf. Als hauste dort eine kleine Schar Zurückgelassener, vor langer Zeit ausgesetzt und vergessen, ohne Verbindung zur übrigen Welt. Schmale Wege führen aus den Siedlungen hinaus, werden vom Wald verschluckt.

Eine eingeschneite Lichtung. Rings im dunstigen Hintergrund Nadelwald. Dicht gestaffelt unter dem Schneedach die schwarze Armee der Baumstämme. Düstere Enge unter dem weißen Behang. Ein klirrend kalter, diesiger Nachmittag, der sich zum Abend neigt. Dunkelheit mischt sich ins schwindende Licht. Tief hängende Wolkenmassen. In der Höhe kreist ein großer grauer Vogel.

Vom Waldrand her ein Reiter. Er kommt nur langsam voran. Von der Kälte erschöpft, setzt das Pferd schwerfällig einen Schritt vor den anderen und stößt regelmäßig die weiß dampfende Luft aus den Nüstern. Die Winter sind lang und frostig. Man schreibt den 30. November 1777, Schauplatz ist der südliche Harz.

Der Reiter ist eine Reiterin. Erst im Näherkommen kann man die Frau unter dem weiten durchnässten Umhang erkennen. Sie reitet über das Feld, reitet vorbei, über die unberührte Schneefläche hinweg. Das dumpfe Stampfen der Hufe im Schnee. Es wird deutlicher, nähert sich, entfernt sich. Mund und Kinn der Frau sind mit einem dicken Schal umwickelt. Sie ist noch jung. Sie sitzt in gerader Haltung auf dem Pferd. Daran kann man den jahrelangen Reitunterricht erkennen. Und doch weicht sie von der Etikette ab. Sie reitet nicht, wie ihr mutmaßlicher Stand es verlangen würde, im Damensitz. Sie sitzt auf dem Pferd wie ein Mann.

Sie überquert die Lichtung. Der Ton der auf den Schnee aufschlagenden Hufe wird schwächer. Pferd und Reiterin verschwinden im Wald.

Noch immer kreist der Raubvogel über dem Areal. Die Dunkelheit nimmt mit jeder Minute, die vergeht, zu. Der Vogel in der Höhe stößt einen Schrei aus. Dann ist es ruhig. Eine unheimliche Stille, eine Stille, wie sie nur der tiefe Schnee erzeugen kann. Das Geräusch der bewegten Schwingen des Vogels legt sich einmal schwach hörbar darüber. Wieder ein Schrei. Fast dunkel jetzt.

Der Frost zieht an. Minuten vergehen, eine halbe Ewigkeit, seit einer Viertelstunde schon ist die Reiterin im Wald verschwunden.

Aus der Baumreihe, die sie aufgenommen hat, kommt ein Reiter hervor. Er überquert in entgegengesetzter Richtung das Schneefeld. Er ist nicht viel schneller unterwegs als sie. Nähert sich beinahe genauso langsam der Mitte der Lichtung. Er ist in einen dunkelgrauen Umhang gehüllt. Ein elegantes Kleidungsstück, auf dem die Feuchtigkeit an einigen Stellen gefroren ist.

Sein Gesicht ist fast zur Gänze von schwarzem Tuch verhüllt. Es bedeckt auch noch seinen Oberkörper und fällt über seine Beine und über seinen Rücken bis auf den Rücken des Pferdes. Sein breiter Hut ist ebenfalls schwarz. In seinen Haaren, die hinten zu einem stattlichen Zopf gebunden sind, hängen Eiskristalle. Er sitzt nicht so gerade im Sattel wie die Frau. Aber auch ihm ist die standesgemäße Haltung zu Pferde anzumerken. Auch er ist jung.

Er hat für seine Reise einen falschen Namen angenommen. Niemand soll ihn erkennen. Sein wirklicher Name ist seit Kurzem bekannt. Sein Gesicht ist es nicht. So kann er sich unters Volk mischen und herausfinden, was es umtreibt, was und wie es denkt. Vor allem, was es von ihm denkt. Wie einst die Kalifen im Orient, die als Bettler verkleidet auf den Markt gingen. Die Leute sagen, was sie wirklich denken nur, wenn sie sich in vollkommener Sicherheit wiegen.

Wer über ihn Bescheid wüsste, würde sagen, er sei jung und berühmt.

Feudale Herrscher waren oft jung, sehr jung zuweilen, wenn sie auf den Thron kamen. Aber ein Bürger musste etwas vorweisen, etwas erfinden, eine von alters her gültige und scheinbar unumstößliche Wahrheit widerlegen, bevor er wenigstens ein gewisses Maß an Bekanntheit erlangen konnte. Er aber ist jung und mit einem Schlag berühmt geworden, und das ist etwas noch nie Dagewesenes. Es kam wie ein Schock über die Zeitgenossen. Wie die Ankündigung von etwas noch viel Bedeutenderem, von dem noch niemand sagen konnte, was es wäre.

Ein besonderes Schicksal sei über ihn verhängt. Das hat er häufig und von verschiedenen Seiten gehört. Zuerst von seiner Großmutter. Die sagte das auch zur Schwester und zu anderen Kindern. Für die Großmutter war die Welt ein magischer Ort. Es konnten einem die wunderlichsten Dinge geschehen, und jedes Kind stand unter einem besonderen Stern. Dann aber sagte das auch das Fräulein von Klettenberg. Auch sie, die schöne Seele aus Frankfurt, glaubte an seine Einzigartigkeit. Eine Freundin der Familie, die im Jahre neunundsechzig zu ihm kam, als es ihm schlecht ging, so schlecht, dass sie ihn schon fast aufgegeben hatten, dass sie für seine Seele beteten und das wunderliche Fräulein ihm auf dem Krankenlager den Pietismus lehrte. Von da an kam ihm das Wort vom besonderen Schicksal immer wieder entgegen. Seitdem spekulieren immer mehr Menschen über sein Schicksal. Als sei es ihnen wichtiger als ihr eigenes.

Er glaubte dann irgendwann selbst daran. An den verheißenen Glücksstern, der über ihm stehe. Der immer heller leuchte, bis er ganz in seinem Licht erscheinen würde. Ein Anwärter für eine neue Himmelfahrt.

Er schiebt es auf die Kälte und die Müdigkeit, dass er zu fantasieren beginnt. Jetzt holt ihn wieder der Größenwahn ein. Berühmtheit und Himmelfahrt. Und eine Vision, die er manchmal hat: Klopstock als Gartenzwerg vor ihm im Schnee und er selbst hoch zu Ross. Der Alte schimpft von unten herauf. Alles werde zugrunde gehen, in die Barbarei werde man zurückfallen, und er, der Junge, sei ganz allein schuld daran. Der Reiter beachtet ihn nicht und reitet weiter. Der zeternde Gartenzwerg versinkt hinter ihm im Schneetreiben.

Seit er an einer Kreuzung den Wegweiser nach Quedlinburg gesehen hat, muss er immer wieder an Klopstock denken. Er geht dagegen an, versucht den Gedanken zu verdrängen, schafft es aber gerade nicht. Klopstock steht ihm vor Augen in seiner ganzen überlebten Autorität. Niemand in Deutschland fühlt sich berechtigt, Goethe öffentlich zu kritisieren - außer Klopstock. Er muss bei Sinnen bleiben. Sein größter Feind ist die Selbstüberhebung. Weiter, einfach weiterreiten, alle Fantasien ausblenden, nicht nachdenken, nicht zurückdenken. Kein Genie mehr sein. Kein Genie mehr sein wollen. Kein Glückskind. Kein Höfling. Kein Liebhaber. Niemand mehr. Er gibt seinem Pferd einen Tritt in die Seite. Es zeigt keinerlei Reaktion und verändert sein Schritttempo nicht im Geringsten. Pferd und Reiter verschwinden zwischen den Bäumen. Möglich, dass ihm im Wald die Reiterin begegnet.

Niemand wusste in Weimar von seiner Abreise. Weder der Herzog noch die Stein. Er hat Zettel hinterlassen. Er liebt es, Zettel zu hinterlassen. Er sieht sie vor sich, die Zurückgebliebenen, mit seinen Zetteln in Händen, wie sie sich fragten, was seine Mitteilungen zu bedeuten hätten. Er würde nur wenige Tage allein unterwegs sein, zwei Wochen, mehr nicht, um dann zur Jagdgesellschaft des Herzogs hinzuzustoßen, die zur Wartburg nach Eisenach aufgebrochen war.

Der Vogel über ihm kreist immer noch. Goethe bringt sein Pferd zum Stehen. Er schaut hinauf. Wie der Geier, geht es ihm durch den Kopf, so wie der Flug des Geiers müsste sein, was ich mache. Schweben soll es, nach Beute Ausschau halten, erhaben, allein und unantastbar in der Höhe. Im Geheimnis bleiben.

Dem Geier gleich. Diese Worte gehen ihm durch den Kopf. Der Volksmund hier nennt Greifvögel kurzerhand Geier. Obwohl es im Harz gar keine Geier gibt. Ihm ist das bewusst, er nennt den Vogel trotzdem oder gerade deswegen Geier. Die Römer beobachteten den Vogelflug, um Zeichen des Schicksals herauszulesen. Der Geier, der sie faszinierte und den sie am genauesten beobachteten, gab ihnen am meisten zu denken. Könnte auch er das Kreisen des Vogels über sich deuten? Er ist kein Römer. Er sieht nur einen kreisenden Raubvogel und kann nicht sagen, was seine Flugbahn bedeutet. Es fällt ihm sogar schwer zu glauben, dass sie etwas zu bedeuten haben soll.

Die Lichtung hat er jetzt überquert. Er reitet in den Wald hinein. Niedrige Tannen, die dicht beisammenstehen. Der Schnee drückt ihre Zweige nach unten. Der schmale Pfad, den er einschlägt, wird durch die herabhängenden Äste noch enger. Manchmal streift ein Ast seine Schulter oder greift ihm ins Gesicht. Dann fällt der Schnee in kleinen, dichten Wolken wie zerstäubendes Mehl zu Boden. Hinter ihm schlagen die Äste zusammen. Den Schnee haben sie abgeworfen. Ich hinterlasse eine Spur, denkt er. Aber niemand wird sie finden, niemand ihr folgen.

In Nordhausen hat er gleich am ersten Tag viel gezeichnet. Die Stadtmauer, Gebäude, Menschen. Seit Nordhausen ist ihm kein Mensch mehr begegnet. Den ganzen Tag nur Kälte und Wälder. Im Wald ist es jetzt schon ganz dunkel. Leichter Schneefall setzt ein. Schnell ist die Spur, die er zieht, vom frischen Schnee gelöscht.

Auf der Lichtung ist es noch etwas heller. Die Reiterin ist zurückgekehrt. Der Raubvogel hat aufgehört zu kreisen und sich auf einem Baum niedergelassen. Schnarrende Schreie der Krähen, die zwischen den Bäumen auffliegen. Sie sieht ihnen nach. Wie sie schwarz die schwarzen Bäume umfliegen und in der Finsternis des Nadelwalds verschwinden.

Sie steigt ab, füllt mit den Händen Schnee in eine der Satteltaschen, holt dann aus der anderen ein Stück Papier heraus, eine kleine...

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Autor

Christian Schärf, geboren 1960 in Ludwigshafen am Rhein, lehrt seit 1989 Literaturwissenschaft, Philosophie und Kreatives Schreiben an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland. Seit 2013 leitet er das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim. Sein Romandebüt Ein Winter in Nizza erschien 2014 im Eichborn Verlag.
Die Reise des Zeichners