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Die Wilden - Brüder und Feinde

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
416 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am13.08.2018
Modern, politisch und knallhart - ein Roman für unsere Zeit
Nach dem Anschlag auf Präsidentschaftskandidat Idder Chaouch steht Frankreich Kopf. Der Kandidat hat knapp überlebt, doch es ist nicht sicher, ob er sein Amt jemals ausüben wird. Währenddessen erklären die Behörden Nazir Nerrouche zum Staatsfeind Nr. 1, wohl wissend, dass er nicht allein hinter dem Attentat stecken kann. Die Familie Nerrouche steht vor einer Zerreißprobe und wird von allen Seiten angefeindet. Bis Nazir, der seinen Häschern stets einen Schritt voraus ist, unvermittelt anbietet, sich zu stellen und die Hintermänner zu benennen. Er hat nur eine einzige Bedingung: ein persönliches Treffen mit Idder Chaouch.


Sabri Louatah, 1983 in Saint-Étienne als Sohn eines Holzfällers und einer Hausfrau geboren, lebt heute mit seiner Frau in den USA. Die Unruhen in der Pariser Banlieu Anfang der 2000er Jahre inspirierten ihn zu seinem Roman-Zyklus »Die Wilden«, der in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert wurde. Zurzeit arbeitet Louatah an der TV-Adaption der Serie.
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Produkt

KlappentextModern, politisch und knallhart - ein Roman für unsere Zeit
Nach dem Anschlag auf Präsidentschaftskandidat Idder Chaouch steht Frankreich Kopf. Der Kandidat hat knapp überlebt, doch es ist nicht sicher, ob er sein Amt jemals ausüben wird. Währenddessen erklären die Behörden Nazir Nerrouche zum Staatsfeind Nr. 1, wohl wissend, dass er nicht allein hinter dem Attentat stecken kann. Die Familie Nerrouche steht vor einer Zerreißprobe und wird von allen Seiten angefeindet. Bis Nazir, der seinen Häschern stets einen Schritt voraus ist, unvermittelt anbietet, sich zu stellen und die Hintermänner zu benennen. Er hat nur eine einzige Bedingung: ein persönliches Treffen mit Idder Chaouch.


Sabri Louatah, 1983 in Saint-Étienne als Sohn eines Holzfällers und einer Hausfrau geboren, lebt heute mit seiner Frau in den USA. Die Unruhen in der Pariser Banlieu Anfang der 2000er Jahre inspirierten ihn zu seinem Roman-Zyklus »Die Wilden«, der in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert wurde. Zurzeit arbeitet Louatah an der TV-Adaption der Serie.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641207700
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum13.08.2018
Reihen-Nr.2
Seiten416 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1137 Kbytes
Artikel-Nr.2384829
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Was vorher geschah

Es schneite bereits seit dem Vortag. Der Raureif malte Eisblumen auf die beschlagenen Fensterscheiben. Es war Weihnachten, Heiligabend. Krim rauchte im Innenhof zwischen seinem Wohnblock und demjenigen gegenüber, der gerade erst renoviert worden war. Der Schnee bedeckte schon den gesamten Boden und fiel weiterhin in dicken Flocken vom Himmel. Zwischen den Mülltonnen stand ein aufgeplatztes Sofa. Die Armlehnen waren weiß, doch die Flocken, die in die Wunde des zerrissenen Polsters fielen, schmolzen dort sofort wie heilsame Blütenblätter.

An die verglaste Eingangstür gelehnt, beschützt vom Schirm seiner Kappe, sah Krim zum Himmel hinauf. Schnee war eine Belohnung, Regen eine Strafe. Regen wurde stets von einem grollenden Hämmern angekündigt. Schnee hingegen löste sich mit einem gedämpften und wohlwollenden Zittern aus den Wolken.

Krim zog, ohne es richtig zu merken, ein paar letzte Male an dem großen Joint, den er sich in weiser Voraussicht auf den Abend, der ihn erwartete, aus drei extralangen Papers gebaut hatte. Weihnachten bei den Nerrouches. Heiligabend bei den Kameltreibern. Auf jeden Fall würde irgendetwas dem Abend eine katastrophale Wendung geben. Ihnen würde es sogar gelingen, Weihnachten zu verderben.

Ein Hubschrauber durchschnitt den Himmel; er flog so nah an den Dächern vorbei, dass die Fenster erzitterten. Sein Motor stieß ein Gebrüll wie die Bestie Mensch aus; in seiner Bugwelle bildete sich ein Zickzackmuster auf der Schneeschicht, die Krim vom Windfang des gegenüberliegenden Gebäudes trennte. Und dann war da ein schwarzer Schatten, der sich ihm nicht in gerader Linie näherte. Ein Mensch. Er senkte den Regenschirm.

»Aaaach? Nazir?«

Zehn Sekunden nachdem dieser monströse Apparat knapp über den Dächern aufgetaucht war, hing noch ein Brummen in der perlmuttschimmernden Luft, ein Geräusch wie Pulverdampf.

»In Los Angeles heißen die Dinger Ghetto Birds. Sie kreisen über den gefährlichen Stadtvierteln. Tag und Nacht. Gehen wir nach oben?«

Krim hatte seinen Joint fallen lassen. Als er sich bückte, um ihn auszutreten und die Kippe unter die Fußmatte zu schieben, bemerkte er, dass Nazir keine Spuren auf der schönen weißen Decke des Innenhofs hinterlassen hatte. Die dicken Flocken, die noch immer herniederrieselten, hatten sie wohl schon wieder zugedeckt.

Sein Lächeln war auf Autopilot, Kinn und Mund zeigten identische Fältchen. Mit finsterem Blick musterte er das Wohnzimmer und hinterließ in jedem Eckchen das stumme Gift seines Sarkasmus: auf den Regalen voller albernem Nippes, den schwarz-weißen Familienfotos, Krims Kinderzeichnungen und Lunas Lieblingskuscheltier, das inmitten der wenigen Bücher auf dem Regalbrett thronte.

Bei den Büchern handelte es sich um eine mehrbändige Enzyklopädie mit weinrotem Einband, die allerdings nur bis Band acht vorhanden war, so fanden sich hier die Erklärungen aller Begriffe von A bis Aphyllisch (Band 1), von Aphytikum bis Baronisieren (Band 2), von Barothermograf bis Bulbös (Band 3), von Bulbus bis Chelat (Band 4), von Chelcický bis Contradictio in adjecto (Band 5), von Contra legem bis Denier (Band 6), von Denim bis Elektromyogramm (Band 7) und von Elektron bis Fair Play (Band 8) - aber von keinem Wort mehr.

Nach einer Weile wurde Rabia wegen Nazirs Schweigen unruhig. Schließlich war er es, der Heiligabend hier hatte verbringen wollen. Wahrscheinlich hatte er sich ein großes Familientreffen vorgestellt, spontan und chaotisch, so wie früher. Er hatte ihr heimlich fünf Hunderteuroscheine zugesteckt, damit sie nach Herzenslust einkaufen und ein Festessen wie die Franzosen vorbereiten konnte: Lachs und Gänsestopfleber, Pute mit Kastanienfüllung, Schnecken - und sogar Kaviar.

Während die Kinder mit Rabia die Toasts butterten und dabei ganz aufgeregt über den Preis dieser kleinen schwarzen Eier diskutierten, rauchte Dounia am Fenster der Wohnung ihrer Schwester, dasselbe Fenster, das fünf Monate später mit gelbem Siegelband versehen würde, sobald die Familie Nerrouche für die ganze Welt zum Inbegriff des »hausgemachten« islamistischen Terrorismus geworden wäre. Doch an jenem Abend musste Dounia sich keine Sorgen um Journalisten machen, die unten vor dem Wohnblock auf der Lauer lagen, oder um bis an die Zähne bewaffnete Polizisten. Von der dritten Etage dieser kleinen gemütlichen und überheizten Dreizimmerwohnung aus atmete sie die Abendluft ein, die die Rue de l´Éternité durchwehte. Sie roch nach Schnee, es war allerdings noch nicht so kalt, dass er liegen geblieben wäre. Eine weiße Schicht bedeckte schüchtern die Autodächer und die Fenstersimse; der kleinste Windstoß fegte ganze Fetzen davon hinweg, die nicht ersetzt wurden.

Dounia suchte nach einem Vorwand, um ihren Blick von diesem Schauspiel der Vergänglichkeit abzuwenden. Sie hatte eine weitere Nachricht von Fouad, ihrem zweiten Sohn, erhalten. Er drehte über die gesamten Feiertage in Marokko. Doch während die Nachricht sie von der düsteren Szenerie ablenkte, wurde sie zugleich umso brutaler mit der Nase auf eine traurige, eiskalte Wahrheit gestoßen: Nazir war nur deshalb nach Saint-Étienne gekommen, weil sein kleiner Bruder, der Fernsehstar, nicht hier war.

Als sie ins Esszimmer zurückkehrte, sah Dounia ihn mit einer Hand auf dem Rücken vor dem blinkenden Weihnachtsbaum stehen. Er trug einen schwarzen Samtanzug und ein bis oben hin zugeknöpftes weißes Hemd. Mit seiner fahlen Haut und den hohlen Wangen wirkte er wie ein russischer Prinz, der aus dem Exil heimgekehrt war. Seit dem Begräbnis seines Vaters vor drei Jahren war er verschwunden gewesen. Einmal pro Monat hatte er Dounia eine Postkarte geschrieben, zu besonderen Anlässen hatte er sogar angerufen. Nun war er zurückgekehrt, und Dounia fragte sich, warum sie sich darüber nicht mehr freute.

Vor dem Fernseher, in dem ein Weihnachtsfilm lief, saß der alte Ferhat in Strümpfen und unterhielt sich mit Slim, riet ihm davon ab, zuerst Gitarre zu lernen, wenn er eigentlich Mandoline spielen wollte. »Fang gleich damit an«, wiederholte er jedes Mal, wenn er an der Reihe war, etwas zu sagen, in seinem starken Akzent, als wäre das der einzige französische Satz, den er wirklich beherrschte.

Slim hatte sich gerade frisch verlobt, und Onkel Ferhat hatte keine Mütze nötig, um seinen zu diesem Zeitpunkt noch vollen Haarschopf zu bedecken. Es war hübsch anzusehen, wie sich die Lockenköpfe der beiden im Schein von Rabias alter Stehlampe bewegten. Diese stammte noch aus den 1970er-Jahren und war das einzige Verlobungsgeschenk der Großmutter gewesen. Ihr Schirm aus vergilbtem Stoff hatte Fransen mit kleinen Samtschleifchen daran, die aussahen wie die Zöpfe kleiner Mädchen. Wie ihre Besitzerin strahlte auch Rabias Lampe ein warmes und ehrliches Licht aus, eine goldene, menschliche Wärme, genau wie ein offener Kamin. Wie zum Beweis dafür versammelten sich alle Anwesenden um sie, entfernten sich vom Wohnzimmertisch, der doch bald gedeckt werden müsste.

In der Küche war der Startschuss nämlich bereits gefallen. Die tüchtige älteste der Nerrouche-Schwestern führte das Kommando. Wenn die Großmutter sich in Algerien aufhielt - wie etwa an den Tagen, an denen sie sich um ihre geheimnisvollen Immobilienangelegenheiten kümmerte -, blühte Tante Zoulikha sofort auf. Die arme alte Jungfer fristete ihr Dasein im Schatten ihrer unzerstörbaren Mutter. Ansonsten tyrannisierte die Großmutter sie ohne Unterlass, goss ständig Kübel voller unverdienter Beleidigungen und Demütigungen über ihr aus, ja, schlimmer noch, sobald sie auch nur das geringste Fünkchen Widerstand spürte, unterstellte sie ihr sofort muttermörderische Hintergedanken. Immer wenn die Großmutter  - und sei es auch nur vorübergehend - in ihr Heimatdorf reiste, nahmen Zoulikhas freundliche Hängebacken eine rosige Farbe an. Sie nahm gleichzeitig die Zubereitung der Pute und der Kastanienfüllung in Angriff und rief dabei der im Wohnzimmer vor sich hin schnatternden Rabia zu: »Wallah, die kann man auch zehnmal bitten herzukommen, sie reagiert einfach nicht! Sie verquasselt und verquasselt sich einfach immer weiter!«

Rabia musste losprusten, wenn sie ihre analphabetische Schwester so daherreden hörte. Daraufhin warf sie sich Dounia, von einem Lachanfall geschüttelt, in die Arme.

»Jetzt hör aber mal auf, dich über deine große Schwester lustig zu machen!«, tadelte Dounia sie daraufhin. »Mal ehrlich, du bist ja ein tolles Vorbild für die Kleinen!«

Rabia streckte ihr die Zunge raus, hüpfte in die Küche und gab Tante Zoulikha einen dicken Schmatzer auf den rosigen Nacken - sogar ihre Schwestern sprachen sie mit »Tante« an, seit sie bei Ferhat eingezogen war.

Bouzid traf als Letzter ein. Er brachte die Geschenke der Großmutter für die Kleinen mit: einen Umschlag mit zwei Scheinen, die vom Geldautomaten noch ganz warm waren, und ein Säckchen aus perlgrauer Kunstseide mit Zuckerzeug. Bouzid musste als Mittelsmann herhalten, denn die Großmutter weigerte sich, das Fest der Franzosen zu feiern.

Als er die Wohnung betrat, wirkte der Weihnachtsmann nicht sehr zufrieden, sondern bedachte Krim mit langen vorwurfsvollen Blicken. Krims Augen waren stark gerötet. Der große kahle Schädel seines Onkels reizte ihn geradezu unwiderstehlich dazu, lauthals loszulachen. Also verschwand er grußlos in sein Zimmer, wo er sich auf dem Rücken ausstreckte. Er versuchte abzuschätzen, wie bekifft er war, während er sich selbst dabei beobachtete, wie er die Arme hob, und sich dann in die duftende Bettdecke seiner Mutter einrollte. An den Weichspüler seiner Mutter, ein Duft von Vanille und...

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Autor

Sabri Louatah, 1983 in Saint-Étienne als Sohn eines Holzfällers und einer Hausfrau geboren, lebt heute mit seiner Frau in den USA. Die Unruhen in der Pariser Banlieu Anfang der 2000er Jahre inspirierten ihn zu seinem Roman-Zyklus »Die Wilden«, der in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert wurde. Zurzeit arbeitet Louatah an der TV-Adaption der Serie.