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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
366 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am11.09.20171. Auflage
Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.

Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul - ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche - nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.


Sasha Marianna Salzmann ist Theaterautor:in, Essayist:in und Dramaturg:in. Für ihre Theaterstücke, die international aufgeführt werden, hat sie verschiedene Preise erhalten, zuletzt den Kunstpreis Berlin 2020. Ihr Debütroman Außer sich wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt. Für ihren zweiten Roman, Im Menschen muss alles herrlich sein (2021), ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert, erhielt sie den Preis der Literaturhäuser 2022 und den Hermann-Hesse-Preis 2022.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextWer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.

Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul - ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche - nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.


Sasha Marianna Salzmann ist Theaterautor:in, Essayist:in und Dramaturg:in. Für ihre Theaterstücke, die international aufgeführt werden, hat sie verschiedene Preise erhalten, zuletzt den Kunstpreis Berlin 2020. Ihr Debütroman Außer sich wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt. Für ihren zweiten Roman, Im Menschen muss alles herrlich sein (2021), ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert, erhielt sie den Preis der Literaturhäuser 2022 und den Hermann-Hesse-Preis 2022.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518737583
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum11.09.2017
Auflage1. Auflage
Seiten366 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2437307
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe





36 Stunden




Die Fleischstückchen rutschten ihren Rachen runter, als wären sie flüssig. Der tote Vogel lag entblößt und halb zerrupft auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen im vierten Wagen des Zuges Moskau-Berlin. Anton und sie hatten Fensterplätze, mit Händen klebrig vom Fett des Hähnchens und der Kartoffeln und Tomaten schubsten sie sich gegenseitig, malten Buchstaben auf die Fensterscheibe, und die Eltern schaukelten auf zwölf Koffern und noch mehr Kisten, und da drin Bettwäsche und Adidasanzüge in Plastikverpackung, vielleicht zum Verkauf, man weiß ja nie, und sogar vergoldete Uhren, aber hauptsächlich Bettwäsche und Socken und Höschen und Bücher, »warum nehmt ihr so viele Bücher mit, seid ihr von Sinnen, die kann man drüben nicht verkaufen«, hat der Vater des Vaters den Kopf geschüttelt. Mutter und Vater saßen mit zusammengepressten Lippen und zusammengepressten Knien im Waggon und schauten auf die Kinder, die an Hähnchenkeulen kauten und grinsten, und hatten ihnen nicht gesagt, dass sie für immer fahren, von wegen Kinder verstehen es auch so, Kinder verstehen alles, Kinder verstehen immer nur Spiel, also spielten sie und alberten herum und schauten nicht auf die Eltern, die sich vor Angst in die Hosen machten und sich darum immer mal wieder ankeiften, aber was war schon dabei, das fiel nicht weiter auf, das machten die Eltern eigentlich immer so, und die Kinder konnten ja nicht ahnen, dass die Eltern es immer so machten, weil sie immer die Hosen voll hatten. Und der Vater der Mutter saß im Abteil daneben und tat so, als würde er nichts hören, und rauchte aus dem Fenster und schaute ab und zu bei Valja und Kostja und Ali und Anton rein, um zu fragen, ob Valja Analgin für ihn hatte. Valja kramte aus ihrer Handtasche die Aluminiumverpackung heraus, sie knisterte und sprang auf, rostbraune Kügelchen fielen auf die ausgestreckte Handfläche, auf die die Zwillinge starrten, weil sie so groß war und gelb mit tiefblauen Linien, Valja drückte ihrem Vater einen Plastikbecher mit Wasser in die andere Hand, und er verschwand wieder, der Nikotingeruch blieb.

Seine Frau, die Mutter der Mutter, war nicht mitgekommen, sie musste noch warten. Sie musste die Wohnung verkaufen, in der sie nie mehr wohnen, die sie nicht mehr besuchen würden, sie musste sich von Freunden verabschieden, sie musste den Umzug ihrer Eltern vorbereiten, denn auch sie würden nachkommen, die Mutter der Mutter der Mutter und der Vater dazu, also musste man alle einpacken, niemanden zurücklassen, ob man wollte, wurde nicht gefragt. Ali und Anton hatte man nicht gefragt und auch die Eltern der Eltern der Eltern nicht. Manche wurden mitgenommen, andere nachgeholt, ging nicht anders. Die Mutter der Mutter würde dann mit dem Flugzeug nachkommen mit einem Koffer voll Geld vom Verkauf der Wohnung, und diese fünf führen schon mal vor mit Koffern voll Sachen, die man drüben nicht verkaufen konnte.

Das Schaukeln des Zuges tat anfangs gut, wie ein tiefes Atmen in den Schlaf, und der heiße Tee auch, der von der Schaffnerin gebracht wurde, »hier, meine Süßen, sollt doch nicht frieren, mit Zucker und Zitrone«, die Mutter steckte eine Hand in ihren Büstenhalter und zog einen Schein heraus. »Danke, danke, meine Miezen«, die Schaffnerin verschwand wieder im Gang, Ali lugte ihr hinterher und konnte noch sehen, wie ein Mann im weißen Unterhemd, mit Hüften so breit wie der Flur selbst, hinterherdackelte und mit ihr in einem Abteil verschwand.

Die Reise würde nur sechsunddreißig Stunden dauern, wenn man den Zoll nicht mitrechnete. Der Zoll bedeutete ein Schütteln in der Nacht, ein Schlagen gegen Bettgestelle, die mit dicken Ketten an den Wänden befestigt waren und klapperten, als würde man an Gittern rütteln. Dann hieß es aufstehen, so tun, als hätte man geschlafen, sich ans Herz fassen, in den Büstenhalter, dort wo die zweihundert Dollar auf den Beamten warteten, einen unrasierten Mann mit blutunterlaufenen Augen, der so schaute, dass Valja froh war, ihren Mann mit im Abteil zu haben, auch wenn er nur ängstlich in der Ecke kauerte. Sie wusste, was wäre, wenn er nicht da wäre. Was wäre, wenn sie nicht die zweihundert Dollar genau für diesen Anlass auf der nackten Haut getragen hätte - ab auf den Bahnsteig bei Temperaturen unter null Grad, wo andere schon standen, die Nichtwissenden oder die Nichthabenden, das machte dann bei Minustemperaturen keinen Unterschied mehr. Sie schaute durch das beschlagene Glas zu ihnen hinaus, dann in die blutunterlaufenen Augen vor ihr, dann zu ihren Kindern, den zwei Augenpaaren, die unter einer Decke auf dem Bett über dem Fenster hervorblinzelten. Das Blutgesicht spuckte etwas durch die Zähne, sie hörte gar nicht hin, sie wusste, ihre Papiere waren in Ordnung, sie starrte wieder auf den Peron, auf dem sich drei, vier, fünf, sieben immer mehr Familien mit Kindern, Säuglingen zum Teil, junge Männer, eine Frau allein versammelten, und alle machten wie von einem Dirigenten angeleitet dieselbe Geste - sie griffen in ihre Jackentaschen, holten Zigaretten heraus, und über ihren Köpfen stieg wässriger Rauch auf. Die Abteiltür fiel zu, die Eltern fielen wieder in ihre Betten, die Zwillinge krallten sich gegenseitig in die Schulterblätter und hielten sich fest, um bei all der Schaukelei nicht vom Hochbett zu fallen, und wenn, dann gemeinsam.

 

Als die Familie Tschepanow am nächsten Morgen aus dem Zug stieg, tat die Welt so, als würde sie stehenbleiben, aber unter Alis kleinem Körper schaukelte es weiter. Das Hähnchenfett zitterte ihr im Rachen, kletterte aus dem Magen wieder zurück in ihren Mund, vielleicht war das Essen auch schlecht geworden auf dem Tisch im warmen Waggon, Anton grinste und hatte nichts, aber aus Ali wollte das Hähnchen wieder raus, auf die Schuhe des Mannes, der dem Vater gerade die Koffer abnahm. Onkel Leonid, der gekommen war, um die Ausreisenden oder Einreisenden abzuholen, je nachdem von wo aus man schaute, um sie erst mal nach Hause zu bringen, erst mal zu sich und dann zu den Behörden, der wundervolle Onkel Leonid stand vor ihnen und breitete die Arme aus, und Ali kotzte ihm auf die Schuhe, das ganze halbe Hähnchen, das sie gegessen hatte, und fiel selber hin.

»Alissa? Was ist mit dir? Alissa!«

Alissa lag im Erbrochenen neben Onkel Leonids schwarzen Turnschuhen und sah seine Schnürsenkel auf sich zukriechen. Außerhalb ihres Kopfes verlief die Zeit schneller, es bewegten sich Dinge in Blitzgeschwindigkeit, Schuhe, die wie Schlangen um sich schnappten, Ottern und riesige Insekten, die sie ansprangen, sie schrie auf und hatte das Gefühl, geschrumpft und in ein Bild gesteckt worden zu sein, das bei McDonald's an der Wand hing. Alles war Dschungel, alles war Farben, alles machte ihr Angst, und sie wusste nicht, ob sie auf dem Boden lag oder in ein Loch gefallen war.

»Entschuldige dich«, hörte sie. Es hallte von oben aus dem Himmel.

Ihr Vater hob sie vom Boden auf, hielt sie vor Onkel Leonids Gesicht und sagte: »Entschuldige dich.«

»Weißt du nicht, wohin mit den Füßen«, sagte die Mutter und wischte an Alissas vollgekotztem Hemdchen herum. »Du, weißt du, Leo, wir sind sechsunddreißig Stunden gefahren -«

»Mehr!«, unterbrach der Vater.

»Mehr. Und da wackelt der Boden halt immer noch, meine Knie zittern auch. Deine auch?«

»Meine? Nein.«

»Meine auch nicht!«, schrie Anton. Ali schoss auf ihn mit ihren Augen, er wich ihr aus. Der Vater wippte mit Alis Körper vor Leonid und forderte erneut, dass sie sich entschuldigte. »Na wird's bald?«

»ÐзвиниÑе.« Ali heulte los.

»Nein, sag es ordentlich«, der Vater schüttelte sie, die Mutter: »Lass.«

»ÐзвиниÑе«, piepste Ali durch Tränen.

Onkel Leonid wischte sich mit einem Taschentuch die Galle von den Turnschuhen, mit einem Papiertaschentuch aus einer Plastikverpackung, Ali kannte das noch nicht, sie kannte nur die Tücher aus Stoff mit Rotze an Zipfeln in den Hosentaschen, Leonid murmelte irgendwas in der Art »na ja, ist nicht so schlimm«, und als er in ihr verheultes Gesicht schaute, lachte er auf und sagte: »Weißt du, was Entschuldigung auf Deutsch heißt?«

Ali schüttelte den Kopf, alle schüttelten den Kopf, die ganze Familie schüttelte einen einzigen Kopf, keiner hatte hier Sprachkenntnisse, außer der Vater der Mutter, aber der war gerade eine rauchen, für Valja und Kostja kam der Sprachkurs noch, »eins, zwei, drei« konnte man vielleicht noch sagen und »Hände hoch«, aber das tat man nicht, über so etwas machte man keine Witze.

»Entschuldigung«, sprach Onkel Leonid das deutsche Wort aus. »ÐзвиниÑе heißt auf Deutsch Entschuldigung.«

»Aha.«

»So heißt es. Sag mal. Sag es auf Deutsch. ÐзвиниÑе auf Deutsch.«

Ali schaute, alle schauten.

»Sag es, sag es auf Deutsch. Entschuldigung. ÐзвиниÑе auf Deutsch. Sag doch mal.«

Ali roch Erbrochenes und verzog die Nase.

Die Mutter half nach, formte mit ihren Lippen das Wort E-ntschu-ldi-gung, »sag doch mal, meine Kleine, na? E-«.

Der Vater wiegte Ali leicht hin und her und flüsterte ihr dieses Wort in die Locken, ihr erstes deutsches, »na sag mal, stell dich nicht so an, was ist denn los mit dir. Jetzt sag einfach das Wort E-ntschu-ldi-gung. ÐзвиниÑе auf Deutsch«.

Ali wollte wieder heulen, aber stattdessen schaute sie von Mama zu Anton zu dem Onkel mit den Papiertaschentüchern und sagte: »ÐзвиниÑе auf Deutsch«, und vergrub ihr Gesicht in Vaters Hals.

Eine Pause entstand, man schaute sich an, man war so erleichtert, angekommen zu sein, egal wie, die Koffer alle unversehrt, die Taschen auch, und...


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Sasha Marianna Salzmann ist Theaterautor:in, Essayist:in und Dramaturg:in. Für ihre Theaterstücke, die international aufgeführt werden, hat sie verschiedene Preise erhalten, zuletzt den Kunstpreis Berlin 2020. Ihr Debütroman Außer sich wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt. Für ihren zweiten Roman, Im Menschen muss alles herrlich sein (2021), ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert, erhielt sie den Preis der Literaturhäuser 2022 und den Hermann-Hesse-Preis 2022.