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Die Kunst des wirkungsvollen Abgangs

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
109 Seiten
Deutsch
Haymon Verlagerschienen am30.01.20141. Auflage
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

Details
Weitere ISBN/GTIN9783709973288
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum30.01.2014
Auflage1. Auflage
Seiten109 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1514 Kbytes
Artikel-Nr.2444889
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Die Baumschule

Als Karr zu uns aufs Land hinauskam, war es, um ein neues Publikum zu finden. In der Stadt hatte er, bis zu dem Tag, an welchem er, in der Stunde, bevor er seine Klasse, wie man sagt, ins Leben entlassen sollte, seinen Mädchen zum Abschied eine Rose mitbrachte, in atemraubendem Tempo - eine Stunde hatte dort vierzig Minuten - und tatsächlich mit von Minute zu Minute immer atemloser werdender Stimme, indem er sich schließlich bis an den Rand des Wahnsinns erhitzte, ihnen Büchners «Lenz» vorlas und sie zum Ende mit einem gefährlichen Flackern im Blick bat, im Leben nicht unglücklich zu werden wie ihre Mütter, mit denen sie es deshalb so schwer hätten, wie mancher andere Lehrer seine Lektionen erteilt. Dies aber mußte durchgedrungen sein, Karr wurde zum Rektor geladen, und bevor noch das neue Semester begann, war er zwar nicht gerade gekündigt, aber doch ersetzt. Das war im Frühjahr. Etwas an seiner Lektion hatte mißfallen. Die Rose, Büchner oder die Sache mit den Müttern.

Auf dem Land bekam er vorerst keine neue Stelle, die Zeiten waren schlecht, wohl war ihm auch sein Ruf vorausgedrungen, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Gedanken, die er früher an seine Schüler, je nach der Blickweise, verwendet oder verschwendet hatte, spazieren zu führen, und dies in seinem Kopf, der ihm dazu als Korb diente. Mit einem Korb oder Kopf voll fertigen Lektionen, aber auch voll noch ungeordneten Gedanken sah man ihn, vor allem im Hochsommer, wohl den Schatten suchend, durch die Wälder ziehen, vornehmlich am Fluß entlang, aber auch über den Berg, wo, wie er wußte, Rilke auch gegangen war. Bis er ihm zu schwer wurde oder zu heiß und er ihn in einer Wirtschaft unterwegs, meist aber, wenn er ihn noch erreichte, im Garten des Restaurants Tößegg im Schatten der Kastanien für eine Stunde oder zwei abstellen mußte. Und von Tag zu Tag, je mehr es schon auf den Herbst zuging, wurde er ihm früher schwer, weil er ja insgesamt immer voller wurde und am Ende zu voll, weil er ja auf jedem neuen Umgang immer Neues noch in ihn hineinfüllte, indem er die Welt, die an seinem Kopf vorbeizog, oder vielmehr, an der sein Kopf vorbeizog, durch diesen Kopf hindurchgehen ließ oder zumindest in ihn hinein und dann in seinem Kopf hin und her und nichts, das er einmal drinnen hatte, je wieder herausließ, da er ja kein Publikum hatte, sondern höchstens von einer Ecke in die andere schichtete und wieder, was zuunterst lag, nach oben holte. Er war, durch die Umstände, von einem Lehrer zu einem Denker geworden, und als solcher war er auch im Dorf bekannt.

Dies war, wie gesagt, gegen Herbst. Seine Umgänge wurden täglich kürzer, seine Einkehren länger, sein Kopf, wie auch gesagt, immer schwerer, unhaltbarer. Schon neigte er sich bedenklich zwischen den Achseln einmal vornüber, einmal hintüber, während Karr mit besonders aufrechtem Gang, die Hände auf dem Rücken, verzweifelt das Gleichgewicht zu wahren bemüht war. Aber der Tag war absehbar, an dem der Kopf ihm vom Rumpf kippen und er, Karr, ihn am immer länger sich ausziehenden Hals auf der Erde hinter sich herschleppen und bei jeder Richtungsänderung in die Gefahr kommen würde, sich selber auf den Kopf zu treten. Kurz, die Entwicklung zielte auf den Punkt hin, an dem Karr, dessen Umgänge, Bannumgänge nannte man das im Dorf und meinte damit, daß man den eigenen Bereich, die eigenen Grenzen abschreite, begründet durch die begründete Furcht, einmal den Rückweg nicht mehr zu schaffen, ohnehin schon mehr zu Drehungen um die eigene Achse geworden waren, einfach zu Hause blieb, im Hause seinen Kopf, ihn ins Kissen bettend, niederlegte aufs Bett und endlich sich selber dazu.

Nichts mehr hereinlassen, sagte er sich, nichts mehr in diesen Kopf herein, solange nichts wieder hinauskann. Keinen Blick mehr aus dem Fenster werfen, denn in jeden Blick, den ich hinauswerfe in die Welt, wirft sich die Welt wieder hinein und durch den Blick hindurch hinein in mich. Aber auch kein Buch mehr anfassen, keine Zeitung mehr in die Hand nehmen, keine Musik mehr hören und vor allem: die Bilder an der Wand umdrehen, von mir weg, alles von mir weg. Denn jedes Bild, das ich sehe, jedes Buch in der Hand, jede Zeile darin wird in meinem Kopf zu einem neuen Bild, zu einem neuen Buch, und wem soll ich daraus dann vorlesen. Alles wird ja in meiner Lehrerseele immer zur Lektion, und wem soll ich sie dann halten? - Die Läden zu, die Augen zu, die Sinne zu, den Verstand abschalten, rief er sich zu, nichts mehr hereinlassen, nichts mehr hereinlassen ..., bis ihn der Schlaf - scheinbar - erlöste. Aber in seinen Träumen lernte und lehrte er weiter seine Lektionen, vor leeren Bänken.

Es war Spätherbst, als er ein letztes Mal hinausging aus seiner Wohnung und in den Wald hinein oder vielmehr bis an den Wald heran. Die Weinbauern, die in ihren Hängen die Spätlese lasen, sahen ihm nach, wie er am Waldrand entlangging, von Zeit zu Zeit stehen blieb, sich bückte und aus dem braunen Laub etwas aufhob. Es waren Eicheln, und wo er stand, standen über ihm gewaltige Eichen. Nachdem er eine Weile auf dem Boden herumgerutscht war und die Taschen seiner Jacke gefüllt hatte, mit kleineren und größeren, noch grünen und schon halb verfaulten, ging er in der Abendsonne wieder zurück, vom Waldrand weg, den Hügel hinunter, seinem Haus entgegen und in die Wohnung hinein. Und jetzt - was nach allen Ohrenzeugenberichten im Dorf für ihn erstmalig war - pfiff er sogar vor sich hin. Zu Hause entleerte er die Taschen und entleerte er all seine Zimmerpflanzentöpfe von ihren zwar nicht eingeborenen, aber eingepflanzten Zimmerpflanzen, um sie mit frischer Erde zu füllen, die er aus dem Garten heraufholte, in die er dann all seine Eicheln hineinsetzte, und solcherart mit neuer guter Hoffnung geschwängert, stellte er die Töpfe an den besten Platz am Fenster über der Heizung zurück. Er goß sie gut durch, nahm selber einen Schluck zu sich und legte sich dann wieder zur Ruhe. Aber diesmal war es ein heiterer, leichter Schlaf, den er schlief, und ein heiterer, leichter Kopf, den er mit sich ins Bett nahm.

Von jetzt an stand er auch wieder jeden Morgen auf, goß, noch bevor er ein Frühstück zu sich nahm, seine Eicheln, setzte sich dann oft für Stunden auf einem Stuhl zu ihnen, von denen noch gar nichts zu sehen war, und glotzte sich die Augen aus dem Kopf und den Töpfen die Keime aus der Erde.

Als sie kamen, war es mitten im Winter, erst einer, dann zwei, dann mehr, am Ende waren es einundzwanzig - zwei Schwächlinge nicht gerechnet, die nach wenigen Tagen schon eingingen -, einundzwanzig Eichen, die da vor seinen Augen am Fenster aufwuchsen, gegen die Jahreszeit, gegen die Natur wuchsen und sich, da sie dicht beisammenstanden und einander Licht wegstahlen, gegenseitig zwangen, in unnatürlichem, fast schon unheimlichem Tempo über sich und übereinander hinauszuwachsen, immer ein Stämmchen höher als das andere, das ihm am nächsten stand, und mit einem Blattkranz mehr, wozu auch die Tatsache nicht unwesentlich beitragen mochte, daß Karr, einem alten Bauern- und Gärtnerrezept folgend, einmal die Woche mit seinen frisch geschnittenen Zehennägeln und zweimal mit seinen Fingernägeln düngte. So daß sich in wenigen Monaten über seine Topfränder hinaus ein regelrechter kleiner Eichenwald erhob. Aus der Spritzkanne ließ Karr häufig regnen, manchmal blies er durch die jungen Blätter einen sanften Wind. Und als er, im Februar, seine Zöglinge für groß genug hielt, begann er mit dem Unterricht. Büchner mied er, von den Müttern ließ er die didaktischen Finger vorerst auch, und auf die Rosen wollte er, so hatte er sich fest vorgenommen, erst im Zusammenhang mit den Bienen notfalls zu sprechen kommen. So begann er bei den Vätern.

Ihr stammt, fing er an, indem er sich an einem Montag früh vor seine Eichen setzte und nachdem er sich zweimal geräuspert hatte - schließlich war schon fast ein Jahr seine Stimme unbenutzt geblieben -, ihr stammt, begann er also feierlich' aber trotzdem so buchstäblich wie möglich, ihr stammt aus den Eicheln ... Von den Eicheln bis zu den Bienen war es nur ein kleiner Schritt, und so hatte Karr, obwohl er mit äußerster Behutsamkeit vorging und seine Weisheit nur in kleinen Portionen servierte, seinen Pflänzchen bald einen recht guten und allgemeinen Begriff von der Natur und insbesondere von ihrer eigenen Natur beigebracht. Auf dieses solide Fundament sich abstützend, konnte er es wagen, persönlicher zu werden und zu seiner Haupt- oder Kardinallektion zu kommen, die er seinen Schülern, die er nach seinem Bild zu formen dachte, in einem sorgfältig abgefaßten und konzis gehaltenen Traktat bis zur Mundgerechtigkeit vorbereitet hatte, dem sogenannten, von ihm so genannten «Tractatus über die Widernatur in der Natur selbst», den er an einem regnerischen, nach seiner Meinung dafür besonders geeigneten Grauwettertag aufschlug, um daraus vorzulesen.

Er las. Und wieder, wie vor einem Jahr beim «Lenz», las er sich mit zunehmender Dauer des Vortrags in ein zunehmend beängstigenderes Feuer hinein. Ihr werdet euch wundern, begann er noch ruhig, daß ich euch von...
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Autor

Jürg Amann, geboren 1947 in Winterthur/Schweiz, lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2013 in Zürich. Studium der Germanistik in Zürich und Berlin, Literaturkritiker und Dramaturg, seit 1976 freier Schriftsteller. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ingeborg-Bachmann-Preis, Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Bei Haymon: "Zwei oder drei Dinge". Novelle (1993), "Über die Jahre". Roman (1994), "Und über die Liebe wäre wieder zu sprechen". Gedichte (1994), "Schöne Aussicht". Prosastücke (1997), "Kafka". Wort-Bild-Essay (2000), "Am Ufer des Flusses". Erzählung (2001), "Mutter töten". Prosa (2003), "Übermalungen. Überspitzungen". Van-Gogh-Variationen (zus. mit Urs Amann, 2005), "Zimmer zum Hof". Erzählungen (2006), "Nichtsangst". Fragmente auf Tod und Leben (2008) und "Die Reise zum Horizont". Novelle (2010). Zuletzt erschienen: "Wohin denn wir". Roman (2012) und "Lebenslang Vogelzug". Gedichte (2014).