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Das Birnenfeld

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am13.08.2018Deutsche Erstausgabe
Der Geschichtslehrer muss sterben, die Kinder sollen über das Birnenfeld in die Freiheit rennen - das ist Lelas Plan. Im Internat für geistig behinderte Kinder in Tbilissi, einem Relikt aus Sowjetzeiten, hat das zornige Mädchen die Rolle der Beschützerin übernommen. Die Lehrerinnen sind mit den 'Debilen' überfordert. Behindert sind die wenigsten ihrer Schützlinge, im Stich gelassen, abgehängt sind sie alle.

So mörderisch Lelas Hass auf den Geschichtslehrer, so schwesterlich ihr Verhältnis zu Irakli: Sie begleitet ihn in eine Hochhauswohnung in der Nachbarschaft, wo er einmal in der Woche mit seiner Mutter in Griechenland telefonieren darf. Irakli will nicht wahrhaben, was Lela längst weiß: Seine Mutter wird nie zurückkehren, sie wird ihn auch nicht zu sich holen. Lela zwingt ihn, Englisch zu lernen, unterstützt seine Hoffnung, nach Amerika zu gehen. Ein Traum, der eines Tages, als ein Ehepaar aus den Südstaaten anreist, wahrzuwerden droht...

Es sind die rebellischen Mädchen und Frauen in der georgischen Gesellschaft, denen Nana Ektvimishvili Gesicht und Stimme gibt.



Nana Ekvtimishvili, 1978 in Tbilisi geboren, studierte an der Filmhochschule Babelsberg und drehte mit Simon Groß zwei vielfach preisgekrönte Filme: Die langen hellen Tage (2014) und Meine glückliche Familie (2017). Sie lebt in Berlin und in Tbilisi.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR16,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR14,99

Produkt

KlappentextDer Geschichtslehrer muss sterben, die Kinder sollen über das Birnenfeld in die Freiheit rennen - das ist Lelas Plan. Im Internat für geistig behinderte Kinder in Tbilissi, einem Relikt aus Sowjetzeiten, hat das zornige Mädchen die Rolle der Beschützerin übernommen. Die Lehrerinnen sind mit den 'Debilen' überfordert. Behindert sind die wenigsten ihrer Schützlinge, im Stich gelassen, abgehängt sind sie alle.

So mörderisch Lelas Hass auf den Geschichtslehrer, so schwesterlich ihr Verhältnis zu Irakli: Sie begleitet ihn in eine Hochhauswohnung in der Nachbarschaft, wo er einmal in der Woche mit seiner Mutter in Griechenland telefonieren darf. Irakli will nicht wahrhaben, was Lela längst weiß: Seine Mutter wird nie zurückkehren, sie wird ihn auch nicht zu sich holen. Lela zwingt ihn, Englisch zu lernen, unterstützt seine Hoffnung, nach Amerika zu gehen. Ein Traum, der eines Tages, als ein Ehepaar aus den Südstaaten anreist, wahrzuwerden droht...

Es sind die rebellischen Mädchen und Frauen in der georgischen Gesellschaft, denen Nana Ektvimishvili Gesicht und Stimme gibt.



Nana Ekvtimishvili, 1978 in Tbilisi geboren, studierte an der Filmhochschule Babelsberg und drehte mit Simon Groß zwei vielfach preisgekrönte Filme: Die langen hellen Tage (2014) und Meine glückliche Familie (2017). Sie lebt in Berlin und in Tbilisi.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518757390
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum13.08.2018
AuflageDeutsche Erstausgabe
Reihen-Nr.4882
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2508676
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1


In einem Außenbezirk von Tbilissi, dort, wo die Straßen keine Namen haben, sondern das Viertel in Blöcke und Nummern unterteilt ist, stößt man auf eine, die doch einen Namen hat: die Kertsch-Straße. Sehenswürdigkeiten, historische Bauwerke, Denkmäler, Springbrunnen sucht man hier vergeblich. Der ganze Schmuck dieser Plattenbauwüste besteht aus Gebäuden wie dem Institut für Leichtindustrie, einem langgestreckten Marmorpalast auf einer mit Tannen gesäumten Anhöhe, zu der große, breite Treppen hinaufführen, oder den in die Jahre gekommenen Bauwerken wie dem Kindergarten, der Mittelschule, der ehemaligen ATS-Telefonzentrale, dem Einwohnermeldeamt, dem Kaufhaus und der Debilenschule, die in Wirklichkeit Internat für geistig beeinträchtigte Kinder heißt.

Wer weiß, wem es damals, 1974, im sowjetischen Georgien eingefallen ist, die Straße nach Kertsch zu benennen â jener Stadt auf der ukrainischen Halbinsel Krim, die berühmt dafür ist, dass dort eines schönen Oktobertages im Jahr 1942, als eine Brise das noch sommerwarme Meer kräuselte, die Nationalsozialisten 160 000 Menschen als Geiseln nahmen und töteten. Hier aber sind weder Schiffe zu sehen, noch weht ein Wind vom Schwarzen Meer herüber. Es ist Frühsommer, die Sonne brennt herab, Hitzeschwaden steigen vom Asphalt auf, die paar spärlichen Ahornbäume verdorren. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, und wenn einem der herumliegenden Hunde danach ist, rennt er kläffend neben dem Fahrzeug her, bis zur nächsten Kurve, bleibt stehen, schaut ihm wehmütig nach, um dann umzukehren und sich wieder zu seinen Brüdern in den Staub zu legen.

Anders als in Kertsch gibt es in der Kertsch-Straße keine Helden. Damals, als die Wehrmacht anfing, die Einwohner der Stadt, die jüdischen und die nicht-jüdischen, zu vernichten, leisteten die in Kertsch eingekesselten sowjetischen Soldaten erbitterten Widerstand. Doch am Ende wurden sie besiegt, und das war vielleicht der Grund, weshalb die Sowjetregierung der Stadt nach Kriegsende keinen Heldenstatus zuerkannt hat. Sie bekam keine Hilfsgelder vom Staat und musste aus eigener Kraft wieder aufgebaut werden. Erst drei Jahrzehnte später wurde Kertsch zur Heldenstadt erklärt, und in Tbilissi wurde die Tianeti-Schnellstraße in Kertsch-Straße umbenannt, vermutlich weil Tianeti bis dahin keine sowjetischen Heldentaten vollbracht hatte.

Die Augenzeugen des »Großen Vaterländischen Krieges«, die in der Kertsch-Straße und Umgebung wohnten, nahmen langsam Abschied von ihrem Leben. Alte Menschen, die den Krieg durchgemacht hatten, legten an Feiertagen ihre ordensgeschmückte Uniform an, gingen auf die Straße, um dem Sonnenlicht die hagere Brust entgegenzustrecken und mit bedächtigen Schritten auf und ab zu spazieren.

Bei vielen hing ein Stalin-Foto im Wohnzimmer. Sie waren stolz auf den Sieg, und wenn wieder einer von ihnen diese Welt verlassen musste, blickte er voll Sorge auf die Zurückbleibenden. Sie, die Sterbenden, hinterließen ihnen eine wüste Heimat.

Ihre Kinder und Kindeskinder setzten in den Wohnblocks an der Kertsch-Straße, in den umliegenden Plattenbauten tschechischer und Moskauer Bauart oder in den Chruschtschowkas mit den niedrigen Decken ihr Leben fort, und die Wege, die sie zurücklegten, beschränkten sich immer noch auf den täglichen Gang zwischen Wohnung, Kindergarten, Schule und Arbeit.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gerieten diese Wege durcheinander: Manche Menschen setzten den Fuß nicht vor die Tür, andere waren gern draußen im Hof und auf der Straße oder verbrachten Tag und Nacht auf Kundgebungen und Streiks, einige nahmen das Stalin-Foto von der Wand, und andere sind vorzeitig aus dem Leben gegangen.

An einem Frühsommertag steht Lela im Badehaus unter dem heißen Wasserstrahl, den Kopf gesenkt, die Schultern leicht hochgezogen.

»Ich töte Wano.«

Sie kneift die Augen zusammen und rührt sich nicht.

»Sollen sie ruhig kommen und mich verhaften!«

Lela dreht den Wasserhahn zu. Im Badehaus dampft es. Auch ihr dünner, geröteter Körper dampft. Wie ein Drahtseil zeichnet sich ihre Wirbelsäule ab, die das schmale Becken und die viel breiteren Schultern verbindet.

»Ich bring ihn um ...« Sie zieht sich ihr khakifarbenes Hemd über den Kopf. Auf dem schäbigen Holzstuhl, der vom Rumstehen im Bad morsch geworden ist, liegt ein Stückchen Seife und ein Kamm mit ausgebrochenen Zinken. Sie nimmt die Hose von der Lehne und schlüpft hinein, steckt ihr Hemd fest und schnallt den Gürtel zu.

»Niemand wird mich verhaften, sie werden sagen, die ist nicht ganz dicht ... Höchstens bringen sie mich ins Irrenhaus. Na und? Da war Ghnazo ja auch ... Und jetzt läuft er wieder frei herum ...« Lela fährt sich mit den Fingern durch das kurze Haar und schüttelt sich wie ein nasser Hund.

Mit einem Knall fliegt die Tür auf. Lela erkennt eine kleine, zarte Silhouette.

»Bist du da?« Es ist Irakli, der sich an der Türklinke festklammert. Lela zerrt sich die Socken über die nassen Füße.

»Dali ruft dich, schon die ganze Zeit!«

»Was will sie denn?« Lela bindet sich die Turnschuhe zu. Der Luftzug zerstäubt den Dampf, in der Tür steht der kleine Junge mit seinen komischen Spitzohren, die Augen aufgerissen. Er ringt nach Atem.

»Komm, schnell ... Die Kinder sind oben im Vierten, in den Betten, sie kommen nicht runter ... Dali schafft es nicht mehr.«

Draußen brennt die Sonne, kein Mensch weit und breit. Sie laufen über den Sportplatz zum Hauptgebäude.

In der Halle mit den Mosaikfliesen empfängt sie angenehme Kühle. An den Wänden hängen ein paar leere Schaukästen. In einem ist ein roter Feuerlöscher befestigt.

Lela nimmt die Treppe in den vierten Stock und rast durch den langen Gang, aus dem hintersten Zimmer gellt Dalis schrille Stimme.

Vor ein paar Monaten hatte das Internat vom Ministerium neue Holzbetten erhalten - als humanitäre Hilfe. Die alten, schweren Eisenbetten wurden in den vierten Stock verfrachtet, in ein Zimmer, wo es von der Decke tropfte. Das ging schon lange so, auch damals, als das Zimmer noch wie ein Zimmer aussah und die Kinder dort schlafen mussten. Arbeiter wurden gerufen und reparierten das Dach, doch es half nichts. Sie kamen ein zweites Mal, ein drittes Mal - sobald es regnete, sickerte Wasser durch die Decke, und nach und nach fanden sich alle damit ab. Die Kinder liebten es, bei Regenwetter hinaufzulaufen und einander durch die Pfützen zu jagen. Seitdem stehen überall Wannen und Eimer, um das tröpfelnde Wasser zu sammeln, das dann mit Schwung aus dem Fenster oder vom Balkon geschüttet wird. Nachdem die alten Eisenbetten sich bei den Eimern und Wannen eingefunden hatten, wurde der Raum Bettenzimmer getauft. Jetzt war es völlig unmöglich, die Kinder aus dem Zimmer zu vertreiben, weil im Internat nichts größeren Spaß machte als auf diesen Eisenbetten zu hüpfen, am liebsten bei Regen.

Erst kürzlich war der kleine Balkon, der einzige auf dieser Gebäudeseite, abgestürzt. Betonbrocken, das Balkongeländer, Schieferplatten donnerten in die Tiefe. Nur noch die Stahlträger ragten aus der Wand. Man konnte von Glück sagen, dass den Internatskindern, die auf dem Sportplatz Fußball spielten und ganz in der Nähe herumrannten, nichts passiert war. Die Direktorin und die Verwaltung waren viel zu erleichtert, als dass sie sich über den herabgebrochenen Balkon ärgern wollten. In den folgenden Tagen verschwand die Balkontür samt Rahmen. Vermutlich dachte jemand, wozu eine Balkontür, wenn der Balkon nicht mehr existiert. Im Bettenzimmer klaffte nun ein türgroßes Loch in der Wand, durch das der klare Himmel, die Pappeln und der benachbarte Wohnblock zu sehen waren.

Im ersten Moment scheint es Lela, als spielte Dali mit den Kindern Versteinern, doch schnell wird klar, dass sie verzweifelt hinter den Kindern herläuft, die ihr ständig entwischen. Die kleine kompakte Frau ist heute diensthabende Aufseherin. Das rotgefärbte lichte Haar...


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Autor

Nana Ekvtimishvili, 1978 in Tbilisi geboren, studierte an der Filmhochschule Babelsberg und drehte mit Simon Groß zwei vielfach preisgekrönte Filme: Die langen hellen Tage (2014) und Meine glückliche Familie (2017). Sie lebt in Berlin und in Tbilisi.
Weitere Artikel von
Ekvtimishvili, Nana
Weitere Artikel von
Teti, Ekaterine
Übersetzung