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Der blinde Engel

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am24.01.20181. Auflage
Zusammen mit seinem italienischen Übersetzer Egi Volterrani reiste Tahar Ben Jelloun zwei Monate lang durch Süditalien auf den Spuren der Mafia und der Camorra in Neapel und der Ndrangheta in Kalabrien. Sie sprachen mit den Menschen auf der Straße, lasen Prozeßakten und die regionalen Zeitungen. Tag für Tag erlebten sie die Camorra als allgegenwärtig und spürten die Angst, die von den idyllischen Fassaden der Dörfer nur oberflächlich kaschiert wird. Seine Eindrücke hat Ben Jelloun in fünfzehn Erzählungen eingefangen.

Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun gilt als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur aus dem Maghreb. Seine beiden Kinderbücher Papa, was ist ein Fremder? und Papa, was ist der Islam? wurden Bestseller. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Paris und Marokko. Der Illustrator Charley Case ist ein junger belgischer Künstler und Weltenbummler, der bereits 'Papa, was ist ein Fremder?' illustriert hat..
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Produkt

KlappentextZusammen mit seinem italienischen Übersetzer Egi Volterrani reiste Tahar Ben Jelloun zwei Monate lang durch Süditalien auf den Spuren der Mafia und der Camorra in Neapel und der Ndrangheta in Kalabrien. Sie sprachen mit den Menschen auf der Straße, lasen Prozeßakten und die regionalen Zeitungen. Tag für Tag erlebten sie die Camorra als allgegenwärtig und spürten die Angst, die von den idyllischen Fassaden der Dörfer nur oberflächlich kaschiert wird. Seine Eindrücke hat Ben Jelloun in fünfzehn Erzählungen eingefangen.

Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun gilt als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur aus dem Maghreb. Seine beiden Kinderbücher Papa, was ist ein Fremder? und Papa, was ist der Islam? wurden Bestseller. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Paris und Marokko. Der Illustrator Charley Case ist ein junger belgischer Künstler und Weltenbummler, der bereits 'Papa, was ist ein Fremder?' illustriert hat..
Details
Weitere ISBN/GTIN9783688108145
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum24.01.2018
Auflage1. Auflage
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2584927
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Afrikanische Nacht

Ein verhangenes Licht hat sich über Villa Literno gesenkt. Es bedeckt eine braune Ebene. Die Erde hat jene undefinierbare Farbe, als hätte der Rost einiger vergessener Nägel eine leichte Spur auf den Steinen hinterlassen. Nur die Bäume, kränkliche Pappeln, stehen aufrecht, abseits von den niedrigen Häusern und den Plätzen, wo alte Menschen sitzen und eher auf etwas als auf jemanden warten. Seit Jahrhunderten warten sie darauf, daß der Himmel heruntersinkt und die Erde berührt, um sie zu segnen und zu bessern. Der Himmel hat sich oft über Villa Literno gebeugt, er ist sogar eines Abends mit einem zuckenden Blitz aufgerissen und hat seltsame Vögel mit halb weißem und halb schwarzem Gefieder auf die Dächer regnen lassen. Die Vögel haben sich über die Tomaten hergemacht und sind dann, ohne je zu singen, gestorben. Man hat sie aufgelesen und am Stadtausgang weggeworfen; jemand, der dort vorbeikam, hat sie in Brand gesteckt. Seit jenem Tag hat Villa Literno Angst vor dem Himmel, der Erde und den Schatten. Auf diese erste ungehörte, unverstandene Botschaft folgten weitere, ausdrücklichere: Die Erde hat gebebt, Häuser sind eingestürzt, Leute sind verschwunden, dann hat sich die Erde erneut über einigen Leibern geschlossen, denen keine Zeit zum Tanzen blieb. Auf den in einem Massengrab vermischten Vögeln und Leibern wächst ein Gras, das man Langeweile nennt, weil es bitter und traurig ist. Ein unbedeutender pensionierter Finanzbeamter hat versucht, aus mit Lebertran vermengter Langeweile ein pikantes Gericht zu machen. Versuche mit diesem Gericht an den wenigen Katzen von Villa Literno haben zu einer Fluchtwelle all jener Tiere geführt, die davon gekostet haben. Sie irrten in der Umgebung herum, bis sie das Gegessene ausgeschieden hatten. Der Erfinder solch ungenießbarer Gerichte heißt Antonio. Er ist alt genug, pensioniert zu sein, aber in Wirklichkeit wurde er von der Verwaltung wegen Inkompetenz und des Verdachts auf Korruption entlassen. Da man ihm nie etwas beweisen konnte, hat man ihn mit einer ordentlichen Entschädigung abgefunden und weggeschickt. Das Einschreiten anonymer, einflußreicher «Freunde» hat Antonio die vorzeitige Pensionierung ermöglicht. Er leidet an zwei scheinbar unheilbaren Gebrechen: Langeweile und Schlaflosigkeit. Seine Tage verbringt er im Kaffeehaus, wo er die zwischen elf Uhr und Mittag ausgeschenkten Tassen und die zu Boden geworfenen Zigarettenstummel zählt. Er notiert all diese Zahlen in ein kleines Verwaltungsheft, addiert sie und rahmt dann die Tagessumme ein. Oft döst er auf seinem Stuhl. Niemand stört ihn; alle wissen über seine Schlaflosigkeit Bescheid; er spricht oft davon; er hat eine eigentümliche Rechtfertigung dafür: «Ich schlafe nicht, weil sie mir gesagt hat, daß sie nachts wiederkommen wird und daß ich die Augen weit aufsperren soll.» Es handelt sich um Antonietta, eine Frau, die sich ihm eines Nachts hingab und mit einem Teil seiner Ersparnisse verschwand. In Wahrheit hatte ihm einer seiner «Freunde», ein notorischer Schieber aus Neapel, dem er einige kleine Dienste geleistet hatte, diese Frau geschickt. Niemand fragt ihn, welche Art Dienste er ihm geleistet hat. Man weiß oder errät es. Man läßt es gut sein. Man nennt die Dinge nicht beim Namen. Man spricht nicht davon. Hier, an diesem gottverlassenen Ort, spricht man einfach gar nicht. Man sieht zu und sagt nichts. Man beobachtet den Stadteingang und bemerkt die Fremden, im Auto oder zu Fuß. Antonio weiß, wie man hinsieht, ohne aufzufallen. Die Leute in dieser Stadt sprechen mit den Augen, besonders wenn ein Fremder dabei ist. Auch ein Bauer aus dem nächsten Dorf kann hier ein Fremder sein. Selbst Antonio, der in Villa Liternos Hauptstraße geboren wurde, wurde eine Zeitlang als Fremder angesehen. Daß er wegging, um anderswo zu arbeiten, machte ihn weniger liternesisch als jene, die dablieben, um sich um die Tomatenzucht zu kümmern. Doch Antonio ist ein Abenteurer. Er erzählt viele Geschichten und sagt seinen Zuhörern: «Es ist nicht schlimm, wenn ihr es nicht glaubt. Ich glaube es, denn ich habe es erlebt. Es gibt Dinge, die erfindet man nicht, wie zum Beispiel Narben. Diese hier an meinem linken Arm ist das Werk einer schönen Frau, die ich in Athen am Hafen traf. Ich habe sie geliebt und gebeten, mich mit diesem Taschenmesser zu zeichnen. Diese andere Narbe ist eine Verbrennung aus der Küche eines Restaurants in Neapel. Ich wurde von zwei Jugendlichen, die ihre Prozente abholen wollten, als Geisel genommen. Sie sprachen nicht. Ihre bloße Anwesenheit bedeutete, daß man ihnen den Umschlag aushändigen mußte. Der Besitzer war nicht da. Der Kellner war neu und wußte nicht Bescheid. Da ich ihn mit einem kleinen Lächeln im Mundwinkel ansah, mit der Ironie des Typen, der verstanden hat, aber nichts tun kann, glaubten sie, ich sei der neue Teilhaber des Besitzers. Als sie sich ihres Irrtums bewußt wurden, war es zu spät. Schließlich traf der wirkliche Besitzer ein, und alles kam in Ordnung. Ich hatte große Schmerzen. Die beiden Jugendlichen fuhren mich zum Notdienst. Seither sind wir Freunde. Sie nennen mich Onkel Tony. Nette Kerle, ein wenig turbulent, ein wenig nervös, aber wirklich nett.» Seit die Erde gebebt hat, mag Antonio den Sonnenuntergang nicht. Diese wechselnden Töne des Himmels, dieses finstere Licht bedrücken seine Seele. Am Ende jeden Tages verlebt er eine ungemütliche Viertelstunde. Die Angst läßt ihn schwarze Schatten sehen, die zwischen den Bäumen durchschlüpfen, um in die Stadt einzudringen. Wie alle Einwohner hatte er von den afrikanischen Saisonarbeitern gehört, die zur Tomatenernte gekommen waren. Doch er hatte sie nie gesehen. Eines Abends ist er nach dem bösen Augenblick des Sonnenuntergangs auf seinem Stuhl eingedöst. Seine Kumpanen waren alle nach Hause gegangen, um das Spiel Neapel-Mailand zu sehen. Er hatte sich, mit beiden Händen auf seinen Stock gestützt, einer angenehmen Schläfrigkeit ergeben. Man wollte ihn nicht stören, sie dachten, er sei in eine dieser schönen Träumereien vertieft, voll junger Mädchen mit schweren Brüsten und langem, dichtem Haar. Sie überließen ihn seinen Träumen. Als die Nacht hereinbrach, war niemand mehr auf dem Marktplatz. Paolo hatte seine Kneipe geschlossen; Gino hatte seine Obst- und Gemüsekästen hineintragen lassen; Ciara hatte ihren Friseurladen zugemacht. Keine Menschenseele auf der Straße. Auch keine Hundeseele. Villa Literno bereitete sich ohne Überraschung, ohne Geschäftigkeit auf die Nacht vor. Eine alltägliche Nacht, so leer, so lang wie tausend andere Nächte, die über den Dächern von Villa Literno lagen, eine Frühsommernacht, in der sich der Himmel sanft von dieser zu braven Landschaft entfernte, eine Nacht, die wie alle anderen beginnen und mit einem unerhörten Schauspiel enden sollte.

Motorräder überqueren mit ohrenbetäubendem Geräusch den Platz. Sie fahren eine Runde, noch eine, um dann in einer der Gassen zu verschwinden. Diese Jugendlichen arbeiten in Neapel. Sie kommen zum Abendessen nach Hause. Der Lärm reißt Antonio aus seinem Halbschlaf. Er hebt den Kopf, sieht ein rotes Licht blitzschnell davonsausen, reibt sich die Augen, sieht sich um und stellt fest, daß er allein ist. Die Leuchtreklamen sind abgeschaltet. Die Läden sind geschlossen. Die Bürgersteige sind leer. Nur das rote Rücklicht der Motorräder hat eine Spur in der Luft hinterlassen. Antonio wollte aufstehen, konnte sich aber schlecht bewegen. Er fühlte sich wie am Stuhl angenagelt. Es kribbelte in seinem rechten Fuß, dann an seinem sich versteifenden Bein. Er tastete sein Knie ab, dann gelang es ihm, das rechte Bein über das linke zu legen. Er fühlte sich gut, das heißt eher, er spürte wie sein Körper in einen seltsamen, aber beruhigenden Zustand geriet. Es verschaffte ihm den gleichen Genuß wie Schläfrigkeit, aber mit offenen Augen. Er sagte sich, daß er der einzige der 9522 Einwohner von Villa Literno war, der in dieser Sommernacht draußen saß. Dieser Gedanke beglückte ihn. Er erinnerte sich an seine Zeit als Seemann; damals stellte er sich auf die Brücke, um die Spiegelungen des Vollmonds auf dem Meer zu beobachten. So behandelte er seine Schlaflosigkeit. Auch diesmal war es eine Vollmondnacht. Es gab wenig Spiegelungen auf dem rissigen, holprigen, löchrigen Boden der Straßen von Villa Literno. Er schaute auf die Risse und fragte sich, warum die Gemeinde sie nie repariert hatte. «Doch», sagte er sich dann, «es gibt auch die Risse der Seele ... Wer schert sich drum? Es gibt weder ein Krankenhaus noch eine Ambulanz ... Vier oder fünf Ärzte, die alles vergessen haben ... Sie sind tapfer, sehr tapfer, sich hier in diesem wasserlosen Loch niederzulassen. In meiner Kindheit hatten wir genug Wasser. Heute ist das Wasser selten geworden. Früher gab es Brunnen. Sie sind immer noch da, doch das Wasser ist ungenießbar. Irgend etwas hat es vergiftet. Nun muß man akrobatische Verrenkungen vornehmen, um sich zu waschen. Ich bin das gewöhnt: An Bord war Wasser immer kostbar. Man kann auch sagen, die Literneser waschen sich seltener als die Mailänder.»

Antonio fährt sich mit der Hand über das Gesicht, reibt seine Augen, stützt sich auf seinen Stock, um aufzustehen, und fällt wieder auf seinen Sitz zurück. Es scheint unmöglich, von diesem Stuhl loszukommen und die Piazza Retonda zu überqueren, um nach Hause zu gehen. Niemand erwartet ihn. Er lebt seit langem allein. Heute abend wird das Fußballspiel übertragen. Er wird es verpassen. Er wird es als einziger nicht sehen. Villa Literno erinnert an einen Friedhof, weil Maradona spielt. Er mag diesen Ballkünstler gern, bedauert aber, daß er zuviel Lärm um sein Privatleben und seine Karriere macht. Jedenfalls wird er ihn nicht sehen. Maradona ist es schnurzegal, ob ihm ein an seinem Sitz festgewachsener...
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Autor

Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun gilt als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur aus dem Maghreb. Seine beiden Kinderbücher Papa, was ist ein Fremder? und Papa, was ist der Islam? wurden Bestseller. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Paris und Marokko. Der Illustrator Charley Case ist ein junger belgischer Künstler und Weltenbummler, der bereits "Papa, was ist ein Fremder?" illustriert hat..