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Weiße Stunde

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
192 Seiten
Deutsch
Luftschacht Verlagerschienen am01.03.2013
Die flirrende Hitze Siziliens und der bröckelnde Barock der Stadt Noto dienen als pittoreske Kulisse für ein komplexes Lügenkonstrukt: Florian Scheibe forscht in seinem spannungsgeladenen Debütroman nach allgemeiner Wahrheit und subjektiver Realität. Der Sizilienaufenthalt eines deutschen Paares nimmt eine bizarre Wendung, als die Frau bei einem Tagesausflug in einem verlassenen Haus spurlos verschwindet. Der Mann reagiert seltsam: Anstatt ihrem Verbleib nachzugehen, fährt er in die gemeinsame Wohnung zurück, hängt seinen Gefühlen und Erinnerungen nach, lauscht den Geräuschen der Stadt und kommt das erste Mal seit Monaten mit der Arbeit an seinem Roman voran. Seine liebste Arbeitszeit ist die 'Weiße Stunde', wenn alles menschenleer und still in der Mittagshitze liegt. Je länger er jedoch untätig bleibt, ihr Verschwinden aufzuklären, desto mehr verstrickt er sich in ein Geflecht aus Lügen und Selbstbetrug und gerät schließlich unter Mordverdacht. Präzise und atmosphärisch schildert Florian Scheibe eine Mechanik des Sich-schuldig-Machens und führt seinen Protagonisten an die gefährlichen Grenzen zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzerstörung, bewusster Auslieferung und unkontrollierbarem Ausgeliefertsein heran.

Florian Scheibe, geb. 1971 in München, studierte Kulturwissenschaft in Bremen und Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Er arbeitete als Aufnahmeleiter, Regieassistent, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lektor. Florian Scheibe entwickelt Drehbücher, schreibt Auftragstexte und veröffentlicht regelmäßig Kurzgeschichten in Anthologien und Literaturzeitschriften. Er lebt in Berlin.
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Produkt

KlappentextDie flirrende Hitze Siziliens und der bröckelnde Barock der Stadt Noto dienen als pittoreske Kulisse für ein komplexes Lügenkonstrukt: Florian Scheibe forscht in seinem spannungsgeladenen Debütroman nach allgemeiner Wahrheit und subjektiver Realität. Der Sizilienaufenthalt eines deutschen Paares nimmt eine bizarre Wendung, als die Frau bei einem Tagesausflug in einem verlassenen Haus spurlos verschwindet. Der Mann reagiert seltsam: Anstatt ihrem Verbleib nachzugehen, fährt er in die gemeinsame Wohnung zurück, hängt seinen Gefühlen und Erinnerungen nach, lauscht den Geräuschen der Stadt und kommt das erste Mal seit Monaten mit der Arbeit an seinem Roman voran. Seine liebste Arbeitszeit ist die 'Weiße Stunde', wenn alles menschenleer und still in der Mittagshitze liegt. Je länger er jedoch untätig bleibt, ihr Verschwinden aufzuklären, desto mehr verstrickt er sich in ein Geflecht aus Lügen und Selbstbetrug und gerät schließlich unter Mordverdacht. Präzise und atmosphärisch schildert Florian Scheibe eine Mechanik des Sich-schuldig-Machens und führt seinen Protagonisten an die gefährlichen Grenzen zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzerstörung, bewusster Auslieferung und unkontrollierbarem Ausgeliefertsein heran.

Florian Scheibe, geb. 1971 in München, studierte Kulturwissenschaft in Bremen und Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Er arbeitete als Aufnahmeleiter, Regieassistent, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lektor. Florian Scheibe entwickelt Drehbücher, schreibt Auftragstexte und veröffentlicht regelmäßig Kurzgeschichten in Anthologien und Literaturzeitschriften. Er lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783902844354
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum01.03.2013
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1475 Kbytes
Artikel-Nr.2772999
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Eins

Im Nachhinein kann ich nicht mehr genau sagen, in welchem Moment mir eigentlich klar wurde, dass Svenja verschwunden war. Ich weiß nur, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon wieder im Auto saß und meinen Blick gedankenverloren über die Landschaft schweifen ließ: Karge Hügel wellten sich, und dahinter lag das Meer, ganz blau und still.

Meine plötzliche Gewissheit musste etwas mit der Zeit zu tun haben. Mit dem Gefühl, dass eine bestimmte Grenze auf einer imaginären Zeitachse überschritten war, zwischen dem Moment, als ich Svenja alleine in dem Haus zurückgelassen hatte, und der Sekunde, in der ich plötzlich begriff, dass sie zu lange fort war, um wiederzukommen.

Oft habe ich darüber nachgedacht, ob es vielleicht irgendeinen äußeren Reiz gab, der mich zu dieser Gewissheit getrieben hatte. Irgendein Geräusch vielleicht, einen Schrei oder das entfernte Brummen eines Motors. Doch je länger ich versuche mich daran zu erinnern, desto stärker breitet sich eine absolute Stille in mir aus, die diesen Moment wie mit Watte dicht umschließt.

Alles hatte damit begonnen, dass wir ein wenig die Insel erkunden wollten. Ohne ein konkretes Ziel hatten wir uns am Morgen in den Mietwagen gesetzt und waren losgefahren. Wir hatten angehalten, wenn ein Strand besonders schön und einladend wirkte, und waren wieder aufgebrochen, wenn die Hitze an uns zu nagen begann. Wir waren Serpentinen hinauf- und wieder hinuntergefahren, hatten in einer Trattoria zu Mittag gegessen und in den Bergen einen alten Friedhof besucht.

Später, am Nachmittag und bereits auf dem Rückweg nach Noto, hatten wir beschlossen, noch einen kleinen Umweg zu fahren. Wir hatten eine Abzweigung genommen, unausgeschildert, eine schmale Straße, die sich einen Hügel hinaufschlängelte und die schließlich auf dem verlassenen Parkplatz eines leer stehenden Hauses endete.

Ohne den Motor abzustellen, hatte ich meinen Blick kurz schweifen lassen (ein großes, altes Landhaus mit einer breiten Terrasse, von Wein bewuchert, die Fensterläden geschlossen, einige von ihnen zersplittert, schief und aus den Angeln gerissen) und wollte gerade wieder wenden, als ich feststellte, dass Svenja bereits die Beifahrertüre geöffnet hatte und auf den Parkplatz gesprungen war.

Die Arme verschränkt, stand sie neben dem Auto und blickte in die Ferne und sagte etwas von der herrlichen Aussicht, und wie sie diese Landschaft liebte: Und siehst du, ganz da hinten ist Noto, man kann es erahnen, hinter dem dritten Hügel. Ich betrachtete schweigend nur sie und nicht die Umgebung und spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog, ein Knoten, der immer enger wurde.

Bereits den ganzen Tag hatte ich mich ihr gegenüber kleiner gemacht, geringer (und am Ende könnte man ironischerweise sogar sagen: verschwindend gering). Und je geringer ich wurde, desto stärker hatte sie sich ausgebreitet, in ihrem Italienisch, ihrer Kenntnis über die Geschichte der Insel, den Mezzogiorno und seine Menschen und ihrer rückhaltlosen Begeisterung für die kleinen Dinge am Rand - Dinge, die ich selbst erst durch ihre Augen hindurch entdecken konnte (und vor allem durfte).

Doch zugleich war auch meine Hoffnung gewachsen, dass ihr vielleicht irgendwann auffallen würde, wie ich mich immer mehr in mich selbst verkroch, nichts mehr sagte oder kommentierte, nur noch nickte, müde und kraftlos, und am Ende nicht einmal mehr das.

Aber Svenja fiel nichts auf (und wenn doch, dann verbuchte sie es wahrscheinlich unter dem, was sie meine ewige Verstocktheit nannte, mein ständiges Brüten).

Und so stand sie auch in diesem Moment ganz unbekümmert auf dem Parkplatz, deutete zu dem Haus und sagte: Lass uns doch kurz hineingehen, vielleicht finden wir ja irgendwas, einen Schatz zum Beispiel, und lächelte. Wiederum fast schweigend machte ich sie auf die Schilder aufmerksam. Vietato l ingresso stand darauf, in Rot auf weißem Grund, mit Ausrufezeichen und hochgereckten Lettern. Doch Svenja lächelte nur weiter und sagte: Wir sind hier in Italien, Süditalien, und nicht in Deutschland, wann gewöhnst du dich denn endlich daran?!

Und noch ehe ich reagieren konnte, fasste sie mich an meiner Hand und zog mich die Treppen hinauf, Stufe für Stufe, bis zu der schweren Tür (und ich schwieg immer noch und ließ es geschehen).

Seltsam, was für ein Bild wir in diesem letzten gemeinsamen Moment da draußen abgegeben haben müssen: ich an ihrer Hand, wie ein kleiner Junge missmutig hinterhergezogen, und sie, strahlend mit ihren blonden Locken, vorauseilend, eine antike Kriegerin, im Sturm der Eroberung.

Das Erste, das mir aus dem Haus entgegenschlug wie eine kühle Welle, war die Dunkelheit, und es dauerte eine ganze Weile, bevor ich zwischen den hellen, scharf konturierten Linien aus Licht, die durch die Ritzen der geschlossenen Läden fielen, überhaupt etwas erkennen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt war Svenja mir schon wieder um einige Schritte voraus, tastete sich mutig durch die flimmernde Schwärze, stieß an etwas, stieß es sogar um, kicherte und sagte: Wie unheimlich es doch hier ist, wie in einer Geisterbahn.

Erst jetzt erkannte ich einen Flur voller Gerümpel, an den Wänden entlang aufgetürmt. Svenja war bereits auf dem Weg nach oben und rief: Komm, komm her, und ich zögerte erst, doch dann folgte ich ihr (besonders zielstrebig und schnell sogar, als bewusster Kampf gegen meinen inneren Widerstand).

Als ich oben angelangt war (ich hatte inzwischen aufgeholt und war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt), öffnete sich ein großer, halbrunder Saal, gesäumt von verdunkelten Fenstern (doch die Läden waren brüchig, und der Staub tanzte in den überstrahlten Bahnen). Auch hier stand wieder Gerümpel, Stühle und Tische und ganz am Ende ein Bett, noch bezogen sogar, mit einem blassen, verknickten Laken. Svenja befand sich in der Mitte des Saals und drehte sich und rief: Komm, lass uns tanzen, doch schon im nächsten Moment hatte sie sich wieder abgewandt. Nun war sie über einen Tisch gebeugt und sagte: Sieh mal, hier sind Papiere, handbeschrieben, und sogar Fotos, komm, komm doch mal her!

Ich fühlte mich unwohl. Dieses Haus war eine fremde Welt, in die wir uns, ohne nach Erlaubnis zu fragen, Eintritt verschafft hatten. Die Dinge strahlten eine seltsame Intimität aus, die wie eine verletzliche Hülle alles bedeckte. Ich versuchte, diesem Unwohlsein irgendwie Ausdruck zu verleihen, es in Worte zu kleiden, doch ich wusste nicht wie. Ich spürte, dass Svenja darauf wartete, dass ich etwas sagte. Doch ich murmelte nur etwas von unerlaubtem Eindringen , privat und von Verbot , starrte zu Boden und schwieg.

Eine ganze Weile standen wir so in der Stille, während der Staub in den Sonnenbahnen sich allmählich beruhigte. Dann holte Svenja tief Luft und sagte: Ich glaube, es ist am besten, du setzt dich einfach wieder in den Wagen und liest in deinem verdammten Buch, wenn dich die Welt nicht interessiert.

Und noch ehe ich etwas erwidern konnte, war sie verschwunden, und ich sah nur noch ihre Schulter, für eine Sekunde von einem Lichtstrahl aus dem Schwarz herausgeschält. Unzählige Male habe ich diesen Moment inzwischen vor meinem inneren Auge abgespielt, ihn vor- und zurückgespult, angehalten und vergrößert und versucht, ihn nachträglich aufzuhellen, denn dieses Stück Schulter war das Letzte, was ich von Svenja gesehen habe.

Einige Sekunden noch blieb ich stehen, hörte, wie sie in irgendetwas wühlte, dann machte ich kehrt, stieg die Treppe hinunter (knarzend und morsch), lief durch den dunklen Gang, stieß mich an etwas, spürte den Schmerz, fluchte, und im nächsten Moment stand ich wieder draußen in dem hellen, beißenden Licht.

Als ich mich kurz darauf ins Auto setzte (tatsächlich, um mein Buch zu nehmen, genau wie Svenja es mir an den Kopf geworfen hatte), gab es einen Moment, in dem ich glaubte, von irgendwoher eine Stimme zu hören: ein kurzes Aufbranden, ein lautes Rufen, punktuell, an einem bestimmten Fleck hinter dem Haus. Doch inzwischen, nachdem ich unzählige Male gedrängt worden bin, mich des Klangs dieser Stimme zu entsinnen, ob sie zu einer Frau oder zu einem Mann gehörte, ob sie auf Italienisch rief oder auf Deutsch, seitdem bezweifle ich, dass sie überhaupt existierte.

Es ist ein Phänomen: Je intensiver man versucht, sich an etwas zu erinnern, das eigentlich nur als eine unscharfe Randnotiz des Bewusstseins existiert, desto weiter entfernt man sich davon. Es ist, als ob man eine flüchtig aufs Papier geworfene Skizze im Nachhinein mit dicken Strichen übermalt - das Bild, das entsteht, wird mit dem ursprünglichen Ansatz nur noch wenig zu tun haben.

Zwischen dem Moment, in dem ich mich ins Auto gesetzt hatte, und meinem plötzlichen Bewusstsein, dass Svenja verschwunden war, muss ungefähr eine halbe Stunde gelegen haben. Eine halbe Stunde, in der ich versunken gewesen bin: in mein Buch, mein Rauchen, in das Radio oder mich selbst. Eine halbe Stunde, in der ich mir keine Gedanken gemacht...
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