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Der Biss

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
448 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am14.03.2022
Sybil und David leben das gute, das richtige, das emissionsfreie Leben: Auf der Terrasse ihres Berliner Nullenergie-Mehrfamilienhauses halten sie sich ihr eigenes Bienenvolk, kaufen nur regional und biologisch, engagieren sich für den Fortbestand des Planeten. Doch das Idyll bekommt tiefe Risse, als ihr Sohn auf dem Spielplatz von einem fremden Jungen gebissen wird. Es ist der Sohn von Aurica und Petre, die aus Rumänien nach Deutschland gekommen sind in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft - und schnell feststellen müssen, dass nicht alle im gleichen Maße auf ein gutes Leben hoffen dürfen...
Bildmächtig, psychologisch präzise und mit entlarvendem Humor lässt Florian Scheibe zwei Welten aufeinanderprallen, die sich ferner nicht sein könnten. »Der Biss« zeichnet eindrucksvoll das Porträt einer zerrissenen Gesellschaft.

Florian Scheibe, geboren 1971 in München, hat Kulturwissenschaft, Geschichte und Filmregie studiert. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er als freier Autor arbeitet. Nach »Der Biss« erschien bei btb zuletzt sein vierter Roman »Paraiso«.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR14,99

Produkt

KlappentextSybil und David leben das gute, das richtige, das emissionsfreie Leben: Auf der Terrasse ihres Berliner Nullenergie-Mehrfamilienhauses halten sie sich ihr eigenes Bienenvolk, kaufen nur regional und biologisch, engagieren sich für den Fortbestand des Planeten. Doch das Idyll bekommt tiefe Risse, als ihr Sohn auf dem Spielplatz von einem fremden Jungen gebissen wird. Es ist der Sohn von Aurica und Petre, die aus Rumänien nach Deutschland gekommen sind in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft - und schnell feststellen müssen, dass nicht alle im gleichen Maße auf ein gutes Leben hoffen dürfen...
Bildmächtig, psychologisch präzise und mit entlarvendem Humor lässt Florian Scheibe zwei Welten aufeinanderprallen, die sich ferner nicht sein könnten. »Der Biss« zeichnet eindrucksvoll das Porträt einer zerrissenen Gesellschaft.

Florian Scheibe, geboren 1971 in München, hat Kulturwissenschaft, Geschichte und Filmregie studiert. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er als freier Autor arbeitet. Nach »Der Biss« erschien bei btb zuletzt sein vierter Roman »Paraiso«.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641267872
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum14.03.2022
Seiten448 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1457 Kbytes
Artikel-Nr.8381193
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Sand

Das Erste, was David an dem Jungen auffiel, war sein rasierter Schädel: schwarze Stoppeln, die eine dunkle Kopfhaut bedeckten. Das Zweite war seine Haltung. Er konnte nicht viel älter als Jonas sein, trotzdem bewegte er sich nicht wie ein Zwei- oder Dreijähriger, sondern mit der Selbstverständlichkeit eines erwachsenen Mannes. Das Dritte und vielleicht Befremdlichste war seine Kleidung: Obwohl die Frühlingssonne ihre wärmenden Strahlen durch die zarten Blätter des Ahorns schickte, der den Spielplatz schützend überthronte, trug der Junge eine Thermohose und eine blaue Steppjacke, aus der an einer aufgerissenen Stelle im Schulterbereich die Wattefüllung herausquoll. Dazu abgetragene, ehemals weiße Turnschuhe mit Klettverschluss, die ihm offenbar mehrere Nummern zu groß waren.

Der Junge war anders als die anderen Kinder auf dem Spielplatz. Eine Unregelmäßigkeit innerhalb eines einheitlichen Systems, eine wild wuchernde Pflanze inmitten einer gepflegten Blumenwiese. Mit leicht o-beinigen Schritten kam er zielstrebig den Weg entlanggestapft und hockte sich direkt neben Jonas, der selbstvergessen mit seiner Schaufel im Sand buddelte.

David selbst saß in diesem Moment auf einer Bank und dachte an Sex. Das heißt, genau genommen dachte er gar nicht an Sex, sondern er überlegte, wie lange er und Sybil keinen Sex mehr gehabt hatten. Im Zuge einer wohlwollenden Schätzung kam er auf gut drei Monate - und einer etwas weniger wohlwollenden auf knappe vier -, und er überlegte, wie er mit der Sache umgehen sollte.

Gleichzeitig versuchte er sich nicht zu sehr über die anderen Eltern zu ärgern. Darüber, wie sie mit ihren Wegwerf-Coffee-to-go-Bechern zwischen den Sandkästen herumliefen, achtlos Plastikdeckel und Holzrührstäbe verschwendeten und literweise unfair produzierten Kaffee schlürften; von der aufgeschäumten Kuhmilch, die mit Hilfe von unzähligen Methanrülpsern entstanden war, ganz zu schweigen.

Doch nun war da auf einmal dieser Junge und forderte seine volle Aufmerksamkeit. Nicht nur seine Erscheinung war auffällig, auch sein Verhalten. Er saß seltsam nah neben Jonas, und die Art, wie er den Kopf neigte und die Augen zusammenkniff, hatte etwas Forderndes.

David sah sich nach möglichen Bezugspersonen um. Nach jemandem, der Ähnlichkeit mit dem Jungen hatte oder mit einem Blick signalisierte, dass er zu ihm gehörte. Doch es war weit und breit niemand zu sehen.

Der Junge hatte sich inzwischen Jonas´ Förmchen zugewandt. Er griff nach dem hellblauen Seestern und patschte Sand hinein.

Erst jetzt hielt Jonas in seinem Buddeln inne und schaute auf.

»Meins«, sagte er. Es klang wie eine Feststellung, aber David wusste aus Erfahrung, dass es nur der Auftakt eines großen, wenn auch einsilbigen Plädoyers zum Thema Eigentum war.

Der Junge beachtete Jonas nicht. Im Gegenteil, er griff nach einem zweiten und einem dritten Förmchen, die er ebenfalls mit Sand befüllte.

Hilfesuchend schaute Jonas zu David, der ihm trotz seines eigenen Befremdens aufmunternd zunickte, lächelte und mit sanfter Stimme sagte: »Lass den Jungen doch ein bisschen mit deinen Sachen spielen. Du hast doch noch deine Schaufel und deinen Eimer.«

»Meins!«, wiederholte Jonas. »Meins!«

»Ja, natürlich«, sagte David. »Und sie bleiben ja auch deine, wenn er ein bisschen damit spielt.«

Nun, da Jonas zu verstehen schien, dass er von David keine Unterstützung in dieser Angelegenheit erwarten konnte, wandte er sich dem Jungen zu.

»Meins!«, rief er noch einmal mit aller Bestimmtheit. Anschließend griff er nach dem Förmchen, das der Junge in der Hand hielt, und riss es an sich.

Der Junge schaute auf. Er fixierte Jonas. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Dann schnellte sein Oberkörper nach vorn, seine Kiefer klappten auseinander, und er biss zu.

Das war die Schreckensszene, die sich David einbrennen sollte. Unabhängig davon, wie sehr er sich um einen vernunftgeleiteten Überbau und die dazugehörigen psychologischen Erklärungsmuster bemühte - der lange, beschwerliche Weg vom Säugling zum ichbewussten Kleinkind, mangelnde Affektkontrolle, die Aggression als Kompensation fehlender Sprachkompetenz oder einfach nur: eine Übersprungshandlung -, dieser Moment verfolgte ihn nachts in seine Träume und tagsüber, was immer er tat: beim Einkaufen im Bioladen, beim Säubern der Bienenkästen, beim Chai Soja trinken, beim Spazierengehen im Park. Ein dunkelhaariger Junge in einer zerschlissenen Winterjacke, der seine kleinen, scharfen Zähne in Jonas´ Unterarm versenkte und seine Kiefer so fest zusammenpresste, bis er endlich Blut schmeckte.

Ja, er wollte Blut!

In der unmittelbaren Gegenwart war es jedoch, als hinkte David den Ereignissen hinterher. Vermutlich lag es daran, dass der Junge gleich mehrere Stufen des normalen kleinkindlichen Konfliktverhaltens übersprungen hatte: kein Schubsen, Rangeln, Kneifen, Haareziehen, Kratzen. Keine sich allmählich steigernde Auseinandersetzung, die in das unvermeidbare Weinen des unterlegenen Kindes mündete, sondern sofort der brutale Erstschlag.

Es dauerte einen Moment, bevor die Schmerzsignale über den Umweg von Jonas´ Nervensystem in seinem Gehirn ankamen, und mindestens noch einmal so lang, bis David ein Gefühl für die Situation entwickelte.

»Hey«, rief er, wobei er sofort spürte, dass ein »Hey« nicht wirklich angemessen war. Aber David brauchte diesen Übergang, um innerlich zu den Ereignissen aufzuschließen.

Durch Jonas´ Schrei waren sie unterdessen zum Mittelpunkt des Spielplatzes geworden. Die Kinder hatten ihre Schaufeln sinken lassen. Sie hockten auf Rutschen und neigten ihre kleinen Köpfe, schaukelten weiter, ohne zu schaukeln. Eltern unterbrachen ihre Gespräche, setzten ihren Coffee-to-go ab und schauten von ihren Smartphones auf.

Endlich kam Bewegung in Davids Körper: die übereinandergeschlagenen Beine entknoten.

Aufspringen.

Losrennen.

Kleine, weiche Sandberge und die dazugehörigen Täler stellten sich ihm in den Weg: einsinken, umknicken, auf der Stelle treten.

Er strauchelte, stolperte, fing sich wieder, und schließlich warf er sich der Länge nach hin und packte den Jungen am Kopf. Mit seinen Handballen drückte er gegen die kleinen Kiefer und versuchte die Zahnreihen von Jonas´ Arm zu lösen. Doch der Junge wirkte wie angefeuert von Davids Eingreifen und schien seine Beißkraft sogar noch einmal zu erhöhen.

Jonas´ Schrei war nun ein Riss im Universum: hoch, spitz und unwirklich grell. Er schien aus einer tieferen Sphäre zu kommen, aus einer früheren Zeit, als Raubtiere noch Raubtiere waren und die Menschen in Höhlen lebten.

»Hör sofort auf!«, brüllte David. »Lass ihn los!« Und dann, als der Junge unbeirrt weiterbiss, einfach nur noch: »Aus! Aus! Aus!«

Davids Stimme überschlug sich, und doch kam es ihm so vor, als wäre sie lediglich ein dünner Windhauch in dem gewaltigen Sturm von Jonas´ archaischem Schrei. Seine Daumen waren am Kinn des Jungen angelangt, und er zog mit aller Kraft nach unten. Die Kiefer wirkten wie miteinander verschraubt. David spürte, wie seine Handballen verkrampften, während Jonas´ Schrei sich in seinen Kopf bohrte wie eine heiße Nadel.

Und dann, endlich, klappten die beiden Zahnreihen auseinander, öffneten sich wie eine Schnappfalle, die eine Wildtierpfote erwischt hatte, und der Junge, überrascht von dem plötzlich fehlenden Halt, stürzte kopfüber in den Sand.

Ein tiefer Abdruck hatte sich in Jonas´ Unterarm gegraben, Zahn an Zahn, wie ein sorgsam gemeißeltes Miniaturrelief, in den Mulden sammelte sich bereits Blut.

David zog Jonas an sich heran. Der kleine Körper zitterte, und jedes Mal, wenn er für eine neuerliche Schluchz-Attacke nach Luft schnappte, befürchtete David, dass der komplette Systemausfall nun unmittelbar bevorstand: Schockstarre, Ohnmacht, Katatonie.

Inzwischen weinte auch der Junge. Er lag mit verkniffenem, sandverklebtem Gesicht auf die Ellbogen gestützt, während ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Nach wie vor waren sie der unangefochtene Mittelpunkt des kleinen Spielplatzuniversums. Das schwarze Loch, das alle Aufmerksamkeit ansaugte, der Fixstern, auf den sich alles bezog. Aber niemand machte Anstalten, ihnen zu helfen. Keiner fragte, ob er etwas tun könnte. Alle starrten nur herüber.

Erneut suchte David in den Gesichtern nach jemandem, der sich für den Jungen verantwortlich fühlte: nach der Mutter, die kurz auf dem Klo gewesen war. Dem Vater, der vor dem Spielplatz eine Zigarette geraucht hatte und nun suchend zwischen den Sandkästen herumlief. Doch es war niemand zu sehen. Nur diese stummen, leeren Blicke.

Während Jonas sich allmählich beruhigte - die Auf- und Abstiege wurden flacher, die schroffen Berge zu kleinen Hügeln und die Schluchten zu sanften Tälern -, rappelte sich der Junge wieder hoch und rieb schniefend mit einer sandverklebten Faust an seinem Auge.

David streckte ihm anklagend Jonas´ Arm hin. »Siehst du das? Siehst du, was du getan hast?«, rief er. »Du hast ihn gebissen! Er blutet!«

Jonas wimmerte. Der Junge senkte den Kopf und betrachtete die Wunde, und einen Moment lang kam es David so vor, als ob er verstände. Als ob er weit über sein biologisches Alter hinauswüchse und die Schuld einsähe, die er auf sich geladen hatte - bereit, Abbitte zu leisten.

Doch dann beugte sich der Junge nach vorn, griff nach der roten Schaufel und dem blauen Seesternförmchen, sprang auf und rannte los.

»Hey«, rief David und fühlte sich wie...
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