Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Weinbrenners Schatten

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
336 Seiten
Deutsch
Emons Verlagerschienen am07.10.2014
Karlsruhe 1817. Oberbaudirektor Friedrich Weinbrenner ist auf der Höhe seines beruflichen Erfolgs: Unter seiner Leuitung entwickelt sich die junge barocke Residenz zu einer Hauptstadt des Klassizismus. Doch als ein Bäcker aus dem Dörfle, dessen Tochter bei Weinbrenner in Stellung ist, tot aufgefunden wird, muss der Baumeister um seinen Ruf fürchten...

Petra Reategui, geboren und aufgewachsen in Karlsruhe, war nach einem Dolmetscher- und Soziologiestudium Redakteurin bei der Deutschen Welle. Heute arbeitet sie als freie Autorin in Köln.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextKarlsruhe 1817. Oberbaudirektor Friedrich Weinbrenner ist auf der Höhe seines beruflichen Erfolgs: Unter seiner Leuitung entwickelt sich die junge barocke Residenz zu einer Hauptstadt des Klassizismus. Doch als ein Bäcker aus dem Dörfle, dessen Tochter bei Weinbrenner in Stellung ist, tot aufgefunden wird, muss der Baumeister um seinen Ruf fürchten...

Petra Reategui, geboren und aufgewachsen in Karlsruhe, war nach einem Dolmetscher- und Soziologiestudium Redakteurin bei der Deutschen Welle. Heute arbeitet sie als freie Autorin in Köln.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783863586188
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum07.10.2014
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4589 Kbytes
Artikel-Nr.3133794
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

DER ROTE BALL

Der Tag war eisig. In abgelegenen Winkeln und entlang der Häuser klebten schmutzige Schneehaufen. Über den Dächern des Markgräflich-Hochbergschen Palais am Rondell stand grau die Märzsonne und hüllte die Schloßstraße in fahles Licht. Auf den schwarzen Wassern des Landgrabens am Rande des Markts trieben Zweige und geborstene Latten, Reste eines Sacks, Papierfetzen, der aufgeblähte Körper einer toten Katze. Ein roter Stoffball wogte auf und ab, bevor er kreiselnd unter der steinernen Straßendecke verschwand, die den Kanal über die ganze Breite des Platzes überspannte.

Barbara Hemmerdinger, das dicke Wolltuch schützend um Kopf und Schultern geschlungen, war stehen geblieben. Wem hatte der Ball gehört? Wie lange würde er sich auf dem Wasser halten, bevor er sich vollsaugte und unterging? Sie klemmte die alte lederne Reisetasche mit dem abgerissenen Griff unter den Arm, rieb die steif gefrorenen Finger aneinander und ging dann hinüber zur anderen Seite. Dort, wo der Landgraben wieder zum Vorschein kam, zwischen Domainenkanzley und dem im Bau befindlichen neuen Rathaus, müsste auch der Ball wieder auftauchen.

Wenn er kommt, wird es Frühling. Richtiger Frühling.

Sie drückte fest beide Daumen und zählte.

Äste trudelten hervor. Ein Kantholz, das ein Stuhlbein gewesen sein mochte. Ein dickes Stück Kork, das Barbara an die kunstvoll geschnitzten Architekturmodelle erinnerte, die Oberbaudirektor Weinbrenner sammelte und im Bureau stehen hatte. Jede Menge Dreck und Unrat, nur kein roter Ball. Bei hundert gab sie enttäuscht auf.

Seit Monaten schon war das Wetter eine einzige Katastrophe. Nichts als Regen, Kälte und Gewitterstürme. Dazwischen, zur Abwechslung, Überschwemmungen, Hagelschauer und im letzten August ein Orkan, der in Karlsruhe Dächer abdeckte und Bäume entwurzelte. Viel zu früh hatte im vergangenen Jahr der Winter eingesetzt, und jetzt schien er nicht enden zu wollen. Niemand von den Alten konnte sich erinnern, jemals einen so verheerenden Temperatureinbruch erlebt zu haben. Kaum, dass Barbara das dünne Leinenkleid anziehen konnte, das ihr Friederike Weinbrenner geschenkt hatte. Nur einmal, im Spätherbst, als drei Tage lang die Sonne schien. Drei volle Tage! Um die Mittagszeit war es sogar heiß gewesen. Und danach alles wieder wie gehabt. Nass, trübe, kalt und überall im Land die Ernte abgesoffen. Die Kartoffeln waren im Boden verfault, Obst und Getreide hinüber, das neue Jahr 1817 begann für viele Menschen trostlos. Tausende von Kleinbauern und Tagearbeitern packten ihre Habseligkeiten und suchten ein Auskommen in der Fremde. Wer wollte schon gern hungers sterben.

Bei denen, die blieben, schlug das Wetter aufs Gemüt. Der Vater hatte aufgehört zu reden. Nicht erst seit Mutters Tod an Weihnachten. Vorher schon. Weil es kaum noch Mehl gab, und wenn er doch einmal welches finden konnte, war es so teuer, dass er nicht wusste, wie er den Händler bezahlen sollte. Es gab Tage, an denen der Vater nicht mal mehr den Ofen in der Backstube anfeuerte.

Der rote Ball blieb verschwunden, er musste in dem dunklen Tunnel hängen geblieben oder untergegangen sein. Ein ungutes Gefühl erfasste Barbara, etwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie schüttelte den Kopf. Wie dumm sie war. Hatte sie tatsächlich gedacht, dass das Leben wieder besser würde, wenn nur der Ball ins Freie käme? So abergläubisch waren bloß Kinder und alte Weiber, alte Weiber wie Apolone.

»Du wirst sehen, auf uns kommen schwere Zeiten zu«, hatte Weinbrenners Haushälterin orakelt, als im Herbst 1812 schwarze Rosse die Kutsche mit dem Särglein des kleinen Erbgroßherzogs über die nächtliche Chaussee von Karlsruhe nach Pforzheim zur fürstlichen Familiengruft gezogen hatten. Schaurig, die flackernden Wachtfeuer in den Dörfern am Rande des Zugwegs, und die Menschen hatten geweint.

Es war aber auch eine Tragödie gewesen. Der erste Sohn des jungen Großherzogs Karl und seiner Gemahlin Stéphanie de Beauharnais, der heiß ersehnte Erbprinz, tot, kaum, dass er auf die Welt gekommen war. Keine drei Wochen hatte das Engele leben dürfen. Völlig unerwartet, von einem Tag auf den anderen, erlag es einem Stickfluss. Wochenlang war das traurige Ereignis Stadtgespräch. Kerngesund solle der Bub doch gewesen sein, hatten die einen gesagt, andere behaupteten das genaue Gegenteil. Apolone hingegen glaubte noch etwas ganz anderes und ließ sich davon nicht abbringen. Es gebe da jemanden am Hof, der, oder vielmehr, die nachgeholfen habe. Nie würde Apolone es wagen, so etwas Unerhörtes laut zu sagen.

»Aber ich weiß es genau, das ist eine Hex«, flüsterte sie, »du kennst sie auch, wohnt ganz in unserer Nähe«, und sie deutete vage in Richtung Rondellplatz, wo das Markgräflich-Hochbergsche Palais stand, und senkte ihre Stimme noch mehr. »Und es würde mich nicht überraschen, wenn auch der jetzige Erbprinz, das arme kleine Alexanderle, nicht alt werden wird. Da will jemand partout den Thron an sich reißen. Mehr sag ich nicht, aber du wirst sehen, auf uns kommen schwere Zeiten zu.«

Hatte Apolone recht? Sollte die zweite Frau des verstorbenen Großherzogs, die Hochbergin, beim Tod von Karls erstem Sohn ihre Hände mit im Spiel gehabt haben?

Ach was, beruhigte sich Barbara, wenn die Haushälterin zum zigsten Mal mit ihren Vermutungen anfing. Alles nur Altweibergewäsch. Aber dann war im Dezember 1812 der große Brand in Karlsruhe ausgebrochen. Als Nächstes forderten Napoleons Kriege unsägliche Opfer, und die Männer kamen, wenn überhaupt, verkrüppelt in die Heimat zurück. 1816 fingen die Wetterkapriolen an, und schließlich starb die Mutter. Waren das die schweren Zeiten, von denen Apolone redete?

Die Beklommenheit, die ihr Angst einflößte, ließ nicht nach, aber Barbara hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie band ihr Wolltuch fester und hastete mit der kaputten Reisetasche weiter über den Markt zur Langen Straße.

Nur wenige Passanten waren an diesem Mittwochmorgen unterwegs. Eine Gruppe Herren Buben, die Lernbücher an Gurten über dem Rücken, lungerte unter der Kolonnade der evangelischen Stadtkirche herum, sie zeigten sich gegenseitig ihre Hefte, schrieben geschwind noch Aufgaben voneinander ab und flitzten, als die Turmglocken zu schlagen anhoben, aufkreischend ins Lyceum nebenan. Barbara schaute ihnen belustigt nach, dann schweifte ihr Blick die mächtigen Säulen empor bis zum Fries, den Rosetten und Blumengirlanden schmückten. Für sie war dieses von Weinbrenner geschaffene Gotteshaus ein Wunder, ein Meisterwerk. Und für diesen Baumeister durfte sie arbeiten.

Sie hätte die sechs Säulen am Eingangsportal mit geschlossenen Augen beschreiben können. Helle, fast weiß getünchte, glattwandige Rundpfeiler auf breiten Sockeln. Darüber, als Abschluss, auf jedem ein fein gehauener steinerner Blätterbusch, etwas Schöneres, Erhabeneres gab es nicht. Sie sah die Risse vor sich, die überall in Direktor Weinbrenners Bauschule auf Tischen und Schemeln herumlagen und an den Wänden hingen. Immer wieder staunte sie, wie aus hingehuschten Skizzen und den mit dem Lineal akkurat gezeichneten Plänen Kirchen und Paläste, Theater und Wohngebäude entstanden. Wie Maurer und Zimmerleute daraus schlau wurden, sodass am Ende die bleifederschwarzen Rechtecke auf den Papieren zu veritablen Zimmern und Hallen emporwuchsen und Punkte oder Kreise zu Säulen. Ionische Säulen zum Beispiel oder korinthische, hörte sie manchmal die Schüler sagen, wenn sie abends ins Bureau zum Saubermachen kam. Sie hatte keine Ahnung, was korinthisch bedeutete, aber das Wort gefiel ihr.

Es erinnerte sie an Weihnachten, wenn in den Tagen vor dem Fest ihr Vater die Dambedeimännle und -fräuleins formte, die dann mit Rosinen, Korinthen und Mandeln bestückt wurden. Jeder in der Familie musste mithelfen. Zwei Korinthen als kohlschwarze Knopfaugen und eine halbe Mandel für den Mund. Selbst zum letzten Fest hatten die Leute, trotz des knappen und teuren Mehls, darum gebittelt und gebettelt, und der Vater hatte getan, was er konnte. »Aber dieses Jahr gibt´s nur Kinder«, hatte er entschieden, »ich kann die Dambedeis nur halb so groß machen wie sonst.«

Vaters Dambedeis waren berühmt. Im Dezember kamen die Leute aus ganz Karlsruhe, um bei ihnen in der Waldhorngasse die süßen Hefemänner zu kaufen. Das war schon früher so gewesen, zu der Zeit, als das schäbige Dörfle noch gar nicht zur neuen, aufstrebenden Residenzstadt gehörte, als in dem wild zusammengewürfelten Haufen von Hütten und Baracken nur die Handwerker hausten, die der Markgraf notgedrungen zum Bau seines Schlosses und der feinen Bürgerhäuser brauchte. Vom Hof vornehm Klein-Karlsruhe genannt, durfte und sollte dieser dreckige Wurmfortsatz jedoch nie Teil der neuen Stadtanlage sein. »Aber Frondienste verrichten!«, hatte der Vater einmal zur Mutter gesagt, »jahrelang Frondienste verrichten und Hintersassengeld blechen!« Da war Barbara noch klein gewesen und hatte nicht gewusst, was Frondienste und Hintersassen waren.

Das Leben in Klein-Karlsruhe war billig, billiger als in der Residenz, und weil die Ansiedlung nur einen Katzensprung vom Groß-Karlsruher Marktplatz entfernt lag, zog bald schon einfaches Volk aus dem ganzen Umland in das Geviert, auch niedrige Hofbedienstete und Soldaten der unteren Ränge. Die vornehmen Bürger hingegen, die Großkopferten, verirrten sich eher selten ins Dörfle. Die windschiefen Häuschen und staubigen Gassen beleidigten das Auge, und der stinkende Landgraben sei eine Zumutung, hatte einmal ein Gast im mit Kronleuchter bestückten und zolldicken Teppichen ausgelegten Weinbrenner´schen Salon abfällig erklärt und die Nase gerümpft. Und dieses Pack, das dort wohne! Steinbrecher,...
mehr