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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
208 Seiten
Deutsch
Schöffling & Co.erschienen am03.02.20151. Auflage
'Wir standen uns nicht nah, obwohl es immer hieß, ich sei ganz der Vater.' Das letzte Telefonat zwischen Vater und Sohn löst eine Flut von Erinnerungen aus: In seinem neuen Buch taucht Miljenko Jergovi? in die Abgründe seiner eigenen Familie ein und beleuchtet die tragischen Verwicklungen seiner Heimat. Er beschreibt den Lebensweg seines Vaters, eines angesehenen Arztes und Experten für Leukämie, dessen Einsatz für die ländliche Bevölkerung und politische Haltung. Zugleich bezieht er kritisch Stellung zur kroatischen Geschichte und dem Umgang mit der faschistischen Vergangenheit. Ohne Pathos, mit Witz und einer Portion Sarkasmus schildert Miljenko Jergovi? die jugoslawische Lebenswirklichkeit, die das Schicksal seines Vaters bestimmte und damit auch den Sohn prägte. Vater ist das literarische Dokument seiner Familie: Leidenschaftlich und pointiert erzählt er anhand ihrer Lebensstationen von den historischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan und deren Auswirkungen bis heute.

Miljenko Jergovi?, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis. Brigitte Döbert, geboren 1959, lebt in Berlin. Sie überträgt seit über zwanzig Jahren Belletristik, darunter 'Die Tutoren' von Bora ?osi? und das Werk von Miljenko Jergovi?, aus verschiedenen exjugoslawischen Staaten ins Deutsche und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (2016) sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse (2016).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

Klappentext'Wir standen uns nicht nah, obwohl es immer hieß, ich sei ganz der Vater.' Das letzte Telefonat zwischen Vater und Sohn löst eine Flut von Erinnerungen aus: In seinem neuen Buch taucht Miljenko Jergovi? in die Abgründe seiner eigenen Familie ein und beleuchtet die tragischen Verwicklungen seiner Heimat. Er beschreibt den Lebensweg seines Vaters, eines angesehenen Arztes und Experten für Leukämie, dessen Einsatz für die ländliche Bevölkerung und politische Haltung. Zugleich bezieht er kritisch Stellung zur kroatischen Geschichte und dem Umgang mit der faschistischen Vergangenheit. Ohne Pathos, mit Witz und einer Portion Sarkasmus schildert Miljenko Jergovi? die jugoslawische Lebenswirklichkeit, die das Schicksal seines Vaters bestimmte und damit auch den Sohn prägte. Vater ist das literarische Dokument seiner Familie: Leidenschaftlich und pointiert erzählt er anhand ihrer Lebensstationen von den historischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan und deren Auswirkungen bis heute.

Miljenko Jergovi?, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis. Brigitte Döbert, geboren 1959, lebt in Berlin. Sie überträgt seit über zwanzig Jahren Belletristik, darunter 'Die Tutoren' von Bora ?osi? und das Werk von Miljenko Jergovi?, aus verschiedenen exjugoslawischen Staaten ins Deutsche und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (2016) sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse (2016).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783731760634
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum03.02.2015
Auflage1. Auflage
Seiten208 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2240 Kbytes
Artikel-Nr.3164396
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


VII

Eine Partisaneneinheit griff meinen Vater, damals ein siebzehnjähriger Gymnasiast, Anfang April 1945 auf dem Heimweg von der Schule auf. Er wurde von der Straße weg mobilisiert, in einen Viehwaggon gesteckt und dann im Lastwagen nach Karlovac an die Front geschickt, wo ähnlich blutig und hirnrissig wie in der bekannteren Schlacht bei Srem einige Monate zuvor um die letzten Stellungen des Unabhängigen Staates Kroatien, von der Ustascha-Propaganda als Zvonimir-Linie bezeichnet, gekämpft wurde.

Vater hat mir nie davon erzählt.

Genau genommen hat mir Vater nie von seinem Leben erzählt.

Alles, was ich weiß, weiß ich von anderen. Er grinste auf jede meiner Fragen, drückte mich an sich, bis meine Rippen knackten, kniff mich am Ellbogen, bis ich blaue Flecke hatte und Mutter und Nona dachten, ich hätte mich in der Schule geprügelt. Physisch war er bis zum Schluss viel stärker als ich. Einmal, auf der Kirmes, drosch er, um sich vor Mutter wichtig zu machen, mit dem Hammer auf so ein Gerät zum Kräftemessen - Hau den Lukas -, es klingelte, bunte Lämpchen blinkten, ein Tusch erklang, es regnete Menthol-Bonbons in meine Arme, dem stärksten Mann der Welt zum Lohn, es waren vier, fünf Kilo, ich wollte sie mit niemandem teilen, es waren Bonbons von meinem Vater, sie hielten lange, verklebten aber nach ein, zwei Jahren und mussten zu meinem Entsetzen und trotz schlimmer Tränen in den Müll geworfen werden. Eins klebte aber noch am Boden der Schublade. Das habe ich bis zum Krieg aufbewahrt, was dann damit passierte, weiß ich nicht.

Diese liebenswürdige Kraft setzte Vater gegen alle meine Fragen nach seinem Leben ein.

Gern antwortete er hingegen auf alle anderen Fragen: Wie man Kinder macht, wie man Krebs kriegt, was ein Abortus ist, was Schwule sind, »Männer, die statt einer Frau andere Männer lieben«, antwortete er, »kann ich auch schwul sein?«, fragte ich weiter.

Als ich solche Fragen stellte, mochte ich fünf, sechs Jahre alt gewesen sein. Er war froh, dass ich nicht nach dem anderen fragte, und erzählte mit Begeisterung ohne Rücksicht auf mein Alter von Dingen, über die Eltern in unserer Kultur mit Vorschulkindern nicht reden.

Wie es ihm nach dem Fall der Zvonimir-Linie erging, weiß ich nicht; ob er wohl in einer der Einheiten war, die die Bande quer durch Slowenien bis Österreich jagte? Möglich ist es; wann immer ich auf Verdacht in Bibliotheken und Partisanengedenkstätten nach Spuren von Vaters Weg im Krieg suchte, immer in der Hoffnung, irgendwann irgendwo auf seinen Namen oder ein Foto zu stoßen, wies alles in Richtung Slowenien und Österreich, dorthin, wo sie die Besiegten gefangen genommen und in den umliegenden Wäldern und Schluchten erschossen haben, das Massaker von Katyn unserer Partisanen, das in der jüngeren Geschichte Kroatiens mythische Ausmaße annehmen sollte - als hätten die Partisanen damals ein ganzes Volk abgeschlachtet, fast so viele Kroaten getötet wie am Ende überlebten.

Auf die Geschichte von Bleiburg und dem Kreuzweg, auf dem die Partisanen massenhaft Staatsfeinde, Ustaschas, Heimatschutzleute, Weißgardisten, Tschetniks usw. exekutierten, stieß ich im Sommer 1983 durch puren Zufall, weil ich im internen Buch- und Zeitschriftenbestand im Rathaus von Sarajevo, der National- und Universitätsbibliothek, Person und Werk von Ante Pavelic studieren durfte. Ich war siebzehn Jahre alt, meine engere Umgebung war im Großen und Ganzen zufrieden mit dem frühen wissenschaftlichen und literarischen Interesse ihres Zöglings und verschaffte mir über Beziehungen Zutritt zu Bibliotheken in der sehr irrigen Überzeugung, daraus könne kein Übel erwachsen, Lesen sei besser als Besäufnisse oder Drogenkonsum.

Es lässt sich nicht leicht beschreiben, wie sich in diesen ersten relativ liberalen, aber noch sozialistischen Jahren nach Tito ein ideologisch unbeleckter, unbescholtener Jugendlicher fühlte, der auf die Geschichte stößt, Partisanen hätten entwaffnete Kriegsgefangene umgebracht.

Eine Lüge des Feindes, klar, aber die liegt dir wie ein Stein im Magen, Tage und Monate schleppst du den mit dir herum und darfst mit keinem drüber reden, weil du vielleicht völlig zu Recht davon überzeugt bist, dass du im Gefängnis landest, sollte herauskommen, dass du in der Bibliothek Lügen des Feindes gelesen hast.

War Vater dabei? War er 1945 in Slowenien und Österreich?

Das war mein erster Gedanke. Von Karlovac bis zur Grenze ist es nicht weit. Bei der Befreiung des Landes bewegte sich die Mehrheit der Einheiten in diese Richtung. Allgemeiner gefragt, hat mein Vater jemanden umgebracht? Wahrscheinlich schon, es war Krieg.

Er war siebzehn Jahre alt, lauter Einsen in der Schule, in demselben Ersten Gymnasium, das ich, wenn auch mit deutlich weniger Erfolg, besucht habe. Wahrscheinlich haben sie ihn irgendwo in Karlovac untergebracht, ihn und seine Altersgenossen, vielleicht in einer verlassenen Kaserne.

Ich weiß nur, dass er Ende des Sommers entlassen wurde.

Er kam halbtot in Sarajevo an, hatte sich mit Typhus angesteckt.

Oma Stefanija nahm ihn nur widerwillig auf, weil er zu den Partisanen gegangen war und Kroaten getötet hatte. Er lag im Bett und delirierte, und sie sagte, er solle ruhig verrecken. Wie im Volkslied - ein Detail, das in der Literatur und wahrscheinlich auch im Leben unbrauchbar ist - brachte sie ihm nicht einmal ein Glas Wasser, obwohl er wahnsinnigen Durst hatte.

Zu diesem Zeitpunkt waren zwei von Stefanijas Schwestern bereits in einem italienischen Flüchtlingslager, von wo aus sie, natürlich mit Hilfe eines Geistlichen, nach Argentinien emigrierten. Die dritte Schwester, Paulina Slavka, lebte als Nonne in einem Kloster in Sarajevo. Die vierte war Hausfrau, und für die fünfte, Tante Mila, war es die Erlösung, weil sie nicht mehr Angst haben musste, dass die Ustascha Onkel Bude in eins ihrer Jasenovacs verschleppte.

Stefanija und drei ihrer Schwestern verwanden das Ende des Unabhängigen Staates Kroatien nie. Die fünfte, Paulina Slavka, glaubte an Gott und versuchte die vier vor ihrem Charakter zu schützen, und die sechste, Mila, behielt den Unabhängigen Staat Kroatien als Inbegriff des gesellschaftlichen und persönlichen Bösen in Erinnerung.

Wie bei vielen aus ihrer Generation war der Unabhängige Staat Kroatien eine innerfamiliäre Angelegenheit, nicht nur ein Staat. Die Art, wie sich diese Frauen mit Pavelic und seinem Werk identifizierten, unterschied sich von dem Gesellschafts- und Familienmodell im nationalsozialistischen Deutschland. Sie ist von unserer ruhmsüchtigen Balkanmentalität geprägt: Während die Deutschen emotional distanzierte Menschen sind, sind wir in unseren Identifikationen und Intimitäten heißer und aggressiver. Im Unterschied zu Deutschland, in dem das Verbrechen nach einem durchorganisierten und bürokratisierten industriellen Prinzip betrieben wurde, hatte das Verbrechen im Unabhängigen Staat Kroatien handwerklichen Charakter. Deswegen gab es nicht noch mehr Opfer, überspitzt gesagt: Deswegen gab es nach den Maximalkriterien der jugoslawischen Nachkriegspropaganda nicht genug Opfer, und in Jasenovac wurden nicht siebenhunderttausend Menschen ermordet, wie wir in den siebziger Jahren in Sarajevo aus den Geschichtsbüchern für die achte Klasse lernten, sondern ungefähr hunderttausend, also teuflisch-mathematisch gesprochen »nur« ein Siebtel.

Der handwerkliche Charakter der Mordstätten der Ustascha wirkt einerseits weniger monströs als die Maschinerie der Nazis, einfach weil im Verhältnis weniger Menschen liquidiert wurden, aber andererseits ist die Arbeit in Manufakturen persönlicher und intimer als in industriellen Fabriken, Manufakturarbeit ist Handarbeit, in die der Einzelne seine Gefühle, sein Wissen und Wollen steckt, und die eine Eigeninitiative verlangt, die weit über das hinausgeht, was die industrielle Produktionsweise von ihm erwartet.

Allein dadurch ist ein Ustascha-Verbrechen dem Ausübenden näher und im Ausüben persönlicher als ein Nazi-Verbrechen.

Außerdem waren jene, die die Verbrechen als gute, ehrbare Durchschnittsbürger nur beobachteten, im Unabhängigen Staat Kroatien näher dran als im nationalsozialistischen Deutschland. Auschwitz war ein geheimer Ort, von dem die Menschen in Berlin oder München wirklich nichts wussten (die Deutschen wussten, dass ihre Nachbarn spurlos verschwanden, ihnen musste klar sein, dass dieses Verschwinden nur den Tod bedeuten konnte, aber im Unterschied zu den Kroaten wussten sie von den Orten, an denen ihre Nachbarn starben, meistenteils nichts), während Jasenovac öffentlich war, alle wussten Bescheid.

Vielleicht liegt in der handwerklichen, intimen Natur der Ustascha-Verbrechen auch der Grund, warum sich die Kroaten fünfundsechzig Jahre später mit der Auseinandersetzung über ihren eigenen, originalen und lokalen Holocaust und Genozid so schwertun und ihn nur sehr widerwillig, voller Einwände und Gegenanschuldigungen akzeptieren.

Ständig schieben sie die Schuld auf andere: Angeblich haben die Deutschen den Nationalsozialismus nach Kroatien gebracht wie die Amerikaner Coca-Cola, und den armen Kroaten blieb nichts anderes übrig, als Cola zu trinken und den Nationalsozialismus zu übernehmen; aber vielleicht lag es auch eher an den Engländern, die die Kroaten 1945 in Österreich bei Bleiburg verrieten und hintergingen und anschließend des Nazismus bezichtigten und über ihre Geheimdienste jahrzehntelang, bis zum heutigen Tage, die Lüge von den Verbrechen des Ustascha-Staates und vom kroatischen Nazismus verbreiten, wobei es, wie wir wissen, einen solchen verbrecherischen...

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Autor

Miljenko Jergovic, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis.

Brigitte Döbert, geboren 1959, lebt in Berlin. Sie überträgt seit über zwanzig Jahren Belletristik, darunter "Die Tutoren" von Bora Cosic und das Werk von Miljenko Jergovic, aus verschiedenen exjugoslawischen Staaten ins Deutsche und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (2016) sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse (2016).

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