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Die unerhörte Geschichte meiner Familie

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
1144 Seiten
Deutsch
Schöffling & Co.erschienen am08.03.20171. Auflage
'Weil in jeder Familiengeschichte alles Wichtige der Weltgeschichte steckt', hat Miljenko Jergovic sich auf die Spuren seiner Familie begeben. Als seine Mutter, zu der er kein einfaches Verhältnis hat, im Sterben liegt, reist er nach Sarajevo und bringt sie zum Erzählen über die Vorfahren. Dort, wo jede Straße ihn in die Vergangenheit seiner traumatisierten Heimat führt, setzt er sich in einem schmerzlichen Prozess mit ihrem Erbe auseinander: Kinder des einstigen Habsburgerreichs, waren sie als Eisenbahner Zugereiste, und jeder Krieg stellte ihre Identitäten und Loyalitäten neu auf die Probe.Das Gefühl von Fremdheit ist dem großen europäischen Erzähler Miljenko Jergovic geblieben, auch wenn er sich an den Konflikten der Gegenwart auf seine Weise reibt. Fakten mit Fiktion vermischend und in konzentrischen Kreisen erzählend, zeigt er in diesem großen Weltentwurf, was das Leben in einem Vielvölkerstaat für den Einzelnen bedeutet, vor allem wenn er nicht zur Mehrheit gehört, sondern zu den 'Anderen'.'

Miljenko Jergovi?, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR34,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR16,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR16,99

Produkt

Klappentext'Weil in jeder Familiengeschichte alles Wichtige der Weltgeschichte steckt', hat Miljenko Jergovic sich auf die Spuren seiner Familie begeben. Als seine Mutter, zu der er kein einfaches Verhältnis hat, im Sterben liegt, reist er nach Sarajevo und bringt sie zum Erzählen über die Vorfahren. Dort, wo jede Straße ihn in die Vergangenheit seiner traumatisierten Heimat führt, setzt er sich in einem schmerzlichen Prozess mit ihrem Erbe auseinander: Kinder des einstigen Habsburgerreichs, waren sie als Eisenbahner Zugereiste, und jeder Krieg stellte ihre Identitäten und Loyalitäten neu auf die Probe.Das Gefühl von Fremdheit ist dem großen europäischen Erzähler Miljenko Jergovic geblieben, auch wenn er sich an den Konflikten der Gegenwart auf seine Weise reibt. Fakten mit Fiktion vermischend und in konzentrischen Kreisen erzählend, zeigt er in diesem großen Weltentwurf, was das Leben in einem Vielvölkerstaat für den Einzelnen bedeutet, vor allem wenn er nicht zur Mehrheit gehört, sondern zu den 'Anderen'.'

Miljenko Jergovi?, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783731761112
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum08.03.2017
Auflage1. Auflage
Seiten1144 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse7666 Kbytes
Artikel-Nr.3009273
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Da, wo andere Menschen wohnen
Vortrag

Vater, zwei Onkel und ich haben dasselbe Sarajever Gymnasium besucht.

Vor dem Zweiten Weltkrieg, in deren Schulzeit, hieß es umgangssprachlich Großes Gymnasium und offiziell Erstes Knaben-Real-Gymnasium, nach dem Krieg und der Abschaffung von Mädchen- und Knabenschulen schlicht Erstes Gymnasium. 1984, kurz vor meiner Matura, wurde es ein drittes Mal umbenannt und hieß fortan Helden und Revolutionäre des Ersten Gymnasiums. Während der Belagerung bekam es den alten Namen zurück, heißt seither wieder Erstes Gymnasium.

Der ältere meiner Onkel wechselte 1934, fast fünfzig Jahre vor mir, auf die weiterführende Schule, aber die Möbel blieben dieselben. Das fiel meiner Großmutter auf, die bei ihm wie bei mir die Elternabende besuchte. Der jüngere Onkel und mein Vater, die fünf, sechs Jahre später eingeschult wurden, hatten beim gleichen Lehrer Kunstgeschichte wie ich. Er starb, als ich in die sechste Klasse kam; wir drei waren gemeinsam bei der Beerdigung.

Gegründet wurde das Erste Gymnasium in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Eliteschule. Auch Ivo Andric, der bosnische Schriftsteller und Nobelpreisträger, machte hier seinen Abschluss, allerdings mit großer Mühe und Pein, er selbst erzählt mit Abscheu und einem gewissen Ekel davon. Wahrscheinlich deswegen fiel sein Name nie bei feierlichen Anlässen, wenn der Direktor sämtliche berühmten Absolventen aufzählte. In meiner Schulzeit waren kommunistische Revolutionäre sowie die Attentäter auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger die größten Berühmtheiten. Gavrilo Princip, der die Kugeln auf Franz Ferdinand und dessen schwangere Frau abfeuerte, ging in Belgrad zur Schule, also nicht aufs Erste Gymnasium, wohl aber einige aus dem engsten Kreis um ihn herum.

Die Lehrer sagten oft, wir sollten uns an diesen leuchtenden Vorbildern ein Beispiel nehmen. In unserer sozialistischen Gesellschaft gab man viel auf leuchtende Vorbilder. Dazu zählten unter anderem opferbereite, heldenhafte Eltern, Onkel und Tanten.

Mein Vater zum Beispiel war ein ausgezeichneter Schüler, einer der besseren seines Jahrgangs, ebenso der jüngere Onkel mütterlicherseits, Repräsentant der jugoslawischen Metallbranche in der Sowjetunion, ein Mann von Welt. Beide wurden mir oft als Vorbilder genannt. Der Name des älteren Onkels fiel nie, er war trotz noch besserer Schulnoten kein leuchtendes Vorbild. Über solche wie ihn wurde nicht geredet, es gab sie in fast allen bürgerlichen Familien Jugoslawiens. Wie im Märchen: Einer von drei Söhnen ist kein leuchtendes Vorbild.

Der ältere Onkel hatte ausschließlich Einsen, korrespondierte mit ausländischen Freunden auf Lateinisch, löste unlösbare mathematische Aufgaben, spielte Gitarre und verfasste einen Essay über Paul Valéry. Blond und blauäugig, schlank und feingliedrig, sieht er auf Fotos wie ein junger Aristokrat in Thomas-Mann-Romanen aus, der kurz vor Ende des Buches stirbt, an Meningitis oder weil sich eine Kaverne in der Lunge öffnet, und dessen Tod für das Schicksal einer ganzen Familie oder Generation steht. Bitte sehr - so sah mein älterer Onkel mütterlicherseits aus, ansonsten hat er nichts mit einer Figur von Thomas Mann gemein, außer dass ich ihm gern auf den Stein seines vermutlich längst abgeräumten Grabes die Worte gravieren lassen würde, mit denen Serenus Zeitblom seinen Freund, den Tonsetzer Adrian Leverkühn, verabschiedet: Ein einsamer alter Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.

Wobei ich nicht mit letzter Sicherheit wissen kann, was Vaterland meinem älteren Onkel bedeutete. Ich weiß nur, dass ich selbst kein Vaterland habe. Also letztlich weiß ich nicht recht, was der Spruch auf einem abgeräumten Grab soll.

Folgendes dürfte für seinen Begriff von Vaterland konstitutiv gewesen sein: Geboren in Usora, einer Kleinstadt in Zentralbosnien, wo sein Vater, mein Großvater, einige Jahre als Bahnhofsvorsteher arbeitete, aufgewachsen entlang österreichisch-ungarischer Gleise, mehrfach umgezogen, immer wieder neue Freunde; vom Vater, einem gebürtigen Slowenen, lernte er Slowenisch, von der Mutter Kroatisch, aber seine ersten Worte waren deutsch, denn sein Großvater, mein Urgroßvater, war ein Banater Schwabe aus einem Nest, das heute in Rumänien liegt. Auch er, ein hoher Eisenbahnbeamter, verbrachte nach Schule und Ausbildung in Vrsac, Budapest und Wien sein gesamtes Berufsleben entlang bosnischer Gleise.

Damit dürfte eins klar geworden sein: Mein älterer Onkel mütterlicherseits - auch sein Name sei genannt: Mladen, denn wenn wir ohne Namen weitermachen, wird es konfus - lebte in einer schwer durchschaubaren und sprachlich vielschichtigen Umgebung. Wie verworren und schicksalhaft, wird sich noch zeigen. Mladens Großvater, Karlo, war ein nationalbewusster Deutscher, der bis zu seinem Tod mit seinen vier Kindern ausschließlich Deutsch redete. Niemals richtete er ein kroatisches Wort an sie. Mit den Schwiegersöhnen, zwei Kroaten sowie Mladens slowenischem Vater, die alle drei perfekt Deutsch konnten, sprach er Kroatisch, mit den Enkeln Kroatisch oder Deutsch, aber sie mussten ihn zunächst auf Deutsch anreden. Begrüßten sie ihn auf Kroatisch, stellte sich Opapa taub.

Den Erzählungen nach muten die sonntäglichen Mittagessen, bei denen die Großfamilie zusammenkam, seltsam an. Eine derart strenge Sprachregelung existiert heute vermutlich nur noch in den Gremien der Europäischen Union, aber damals hat sie keiner hinterfragt. Urgroßvater Karlo legte überaus großen Wert auf sein Deutschtum und seine Auserwähltheit als Deutscher, dem mussten sich alle fügen. Aber keiner, er am wenigsten, verbot ihnen zu sein, was sie waren, untereinander konnten sie reden, wie sie wollten. Urgroßvater liebte seine Schwiegersöhne, war, vornehmlich wegen ihrer Berufe, stolz auf sie und störte sich kein bisschen daran, dass sie keine Deutschen waren. Die Eisenbahnerzunft war wie ein Geheimbund oder eine Freimaurerloge, wer ihr angehörte, sah die Welt sowie die eigene Rolle in der Welt anders als gewöhnliche Zeitgenossen. Der deutsche Eisenbahner war dem kroatischen Eisenbahner brüderlich und damit enger als einem Landsmann verbunden. Urgroßvater Karlo stand politisch links, wurde Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts inhaftiert und außer Dienst gestellt, weil er einen Eisenbahnerstreik unterstützt hatte - was niemanden gestört hätte, wäre er nicht der deutsche Bahnhofsvorsteher unter den wilden Slawen gewesen. So aber bestrafte ihn die königliche Verwaltung hart: Er hatte seiner Volks- und Kastenzugehörigkeit zuwider gehandelt.

Zu Hause wurde nicht über ideologische Fragen geredet. Es sei denn, man würde das familiäre Erziehungsideal, dass alle Menschen unabhängig von Glauben und Vermögensstand gleiche Rechte haben, ideologisch nennen. Bosnien, in jenen zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein armes Land mit neunzig Prozent Analphabeten, in dem eine Typhus- oder Choleraepidemie die nächste jagte und die endemische Syphilis ohne Unterlass wütete, dieses Bosnien war für Urgroßvater Karlo und die Seinen ein guter Ort zum Leben. Nie äußerte er den Wunsch, zurück ins Banat zu ziehen, nach Wien oder Deutschland. Obwohl Deutscher, war ihm Deutschland fremd. Dort könne er nicht leben, sagte er: Die Leute sind anders. Ich persönlich wüsste keine genauere Definition von dem, was nicht Heimat ist.

Onkel Mladen hing an seinem Opa mehr als die anderen Enkel, obwohl er ihm nicht ähnlich sah. Der alte Karlo war ein kleiner, stämmiger Mann mit dunklem Haarschopf und langem grauen Bart, glich eher einem rumänischen Rabbiner als einem Deutschen. Mladen schlug mit seinen nordisch-blauen Augen, seiner hoch aufgeschossenen Statur nicht der deutschen, mütterlichen, sondern der väterlichen Linie nach, slowenische Bauern aus der Gegend um Tolmin. Ich betrachte Opa und Enkel auf vergilbten Schwarzweißfotos und versuche mir vorzustellen, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte sich Mladen mit dem Deutschlernen schwergetan, das großväterliche Geigenspiel abgelehnt oder während der sonntäglichen Mittagessen nicht direkt neben ihm gesessen. Was wäre gewesen, hätte der Alte den Enkel wenigstens ein bisschen als Slawen verachtet? Ich wüsste es zu gern.

Hinter dem Haus, in das wir Anfang der dreißiger Jahre einzogen, stand die aschkenasische Synagoge, die von allen, nicht nur von den Gemeindemitgliedern, Tempel genannt wurde. Dort beteten Juden, die unter Kaiser und König Franz Joseph nach Sarajevo versetzt wurden und sich in unserer Stadt dauerhaft niederließen. Früher, unter den Osmanen, lebten hier nur Sepharden, spanische Juden, die waren meistens bettelarm, trauten der neuen Besatzungsmacht nicht über den Weg und verweigerten den aschkenasischen Neuankömmlingen den Zutritt zu ihren Gebetsräumen. Das waren für sie keine richtigen Juden, sie warfen alle Deutschen in einen Topf und nannten sie unterschiedslos Schwaben. Und so blieb nichts anderes übrig, als eine zweite, aschkenasische oder deutsche Synagoge zu bauen, eben den Tempel.

Unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen, ein paar Tage, bevor die Ustascha, die kroatischen Faschisten, Sarajevo erreichten, drang der Pöbel in die Synagoge ein und schlug alles kurz und klein. Die Randalierer trugen keine Uniformen, es waren ganz normale Bürger, ausschließlich Zivilisten: Stadtstreicher und feine Herren, Schlägertypen und kleine Angestellte, aber auch Roma, die ein paar Tage später zusammen mit den Sarajever Juden in die Konzentrationslager deportiert wurden.

Mein slowenischer Großvater - er hieß Franjo, ich...

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Autor

Miljenko Jergovic, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis.

Brigitte Döbert, geboren 1959, lebt in Berlin. Sie überträgt seit über zwanzig Jahren Belletristik, darunter "Die Tutoren" von Bora Cosic und das Werk von Miljenko Jergovic, aus verschiedenen exjugoslawischen Staaten ins Deutsche und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (2016) sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse (2016).

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt