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Niemand ist bei den Kälbern

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Arche Literatur Verlagerschienen am10.02.2017
Sommer in Schattin, Gemeinde Nordwestmecklenburg. Christin ist gerade auf den Bauernhof ihres langjährigen Freundes Jan gezogen. Die Aufbruchstimmung der Nachwendejahre, die ihre Jugend prägten, ist längst dahin, doch für Jan ist der väterliche Betrieb trotz sinkender Milchpreise noch immer das Wichtigste im Leben. Christin hingegen will nur weg. Sie träumt von der Großstadt und einem Job im Büro. Aber wo soll sie hin ohne Ausbildung? Unüberwindbar scheinen die Grenzen, und so bleiben die immer gleichen Dorffeste, die immer gleichen Freunde, der arbeitslose Vater und der Kirsch aus dem Konsum. Bis Windkrafttechniker Klaus aus Hamburg auftaucht und Christin glaubt, einen Fluchtweg gefunden zu haben. Unerschrocken und mit großer Wucht erzählt Alina Herbing vom Landleben, wie es wirklich ist, von einer Jugend ohne Zukunft und einer vergessenen Region zwischen Ost und West.

Alina Herbing, geboren 1984 in Lübeck, wuchs in Mecklenburg auf und lebt heute in Berlin. Sie studierte in Greifswald, Berlin und Hildesheim. 2017 erschien im Arche Literatur Verlag ihr vielbeachtetes Romandebüt Niemand ist bei den Kälbern, das unter anderem mit dem ?Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg? ausgezeichnet wurde. Der Roman kam 2022 verfilmt von Sabrina Sarabi in die Kinos. Alina Herbing unterrichtet Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextSommer in Schattin, Gemeinde Nordwestmecklenburg. Christin ist gerade auf den Bauernhof ihres langjährigen Freundes Jan gezogen. Die Aufbruchstimmung der Nachwendejahre, die ihre Jugend prägten, ist längst dahin, doch für Jan ist der väterliche Betrieb trotz sinkender Milchpreise noch immer das Wichtigste im Leben. Christin hingegen will nur weg. Sie träumt von der Großstadt und einem Job im Büro. Aber wo soll sie hin ohne Ausbildung? Unüberwindbar scheinen die Grenzen, und so bleiben die immer gleichen Dorffeste, die immer gleichen Freunde, der arbeitslose Vater und der Kirsch aus dem Konsum. Bis Windkrafttechniker Klaus aus Hamburg auftaucht und Christin glaubt, einen Fluchtweg gefunden zu haben. Unerschrocken und mit großer Wucht erzählt Alina Herbing vom Landleben, wie es wirklich ist, von einer Jugend ohne Zukunft und einer vergessenen Region zwischen Ost und West.

Alina Herbing, geboren 1984 in Lübeck, wuchs in Mecklenburg auf und lebt heute in Berlin. Sie studierte in Greifswald, Berlin und Hildesheim. 2017 erschien im Arche Literatur Verlag ihr vielbeachtetes Romandebüt Niemand ist bei den Kälbern, das unter anderem mit dem ?Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg? ausgezeichnet wurde. Der Roman kam 2022 verfilmt von Sabrina Sarabi in die Kinos. Alina Herbing unterrichtet Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783037900901
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum10.02.2017
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1801 Kbytes
Artikel-Nr.3294571
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Seit Stunden verschwinden die Grashalme unter der gelben Plane. Wenn sie auf der anderen Seite des Mähwerks wiederauftauchen, liegen sie da und bedecken das Feld. Die abgemähten Halme sehen so weich aus, als könnte man sich einfach reinfallen lassen. Aber das kann man nicht. Dadrunter ist der Lehmboden und der ist hart wie Stein.

Ich sitze hinter Jan und gucke durch die zerkratzte Scheibe. Die Sonne war erst über dem Wald, jetzt sinkt sie auf den Flugplatz von Lübeck zu, wie eine Bombe, eine sehr langsame Bombe.

Ich muss schreien, wenn ich will, dass Jan mich hört. Aber bis jetzt wollte ich das nicht. Ich gucke auf den Leberfleck an seinem Hals, und mein Kopf schlägt immer wieder gegen die Scheibe, genau an der Stelle, an der schon ein Fettfleck ist.

Ich habe versucht, mir Büros vorzustellen, Strände und Cafés mit Tulpen auf den Tischen, aber überall sind nur Felder, bis an den Horizont.

Ein Rattern kommt aus dem Mähwerk, das neben dem Trecker das Weidegras vom Boden schneidet.

»Scheiße.«

Durch die staubige Scheibe sehe ich nur noch, wie ein Reh Richtung Wald davonspringt, und ich kann nichts dagegen machen, dass in meinem Kopf sofort Bilder sind von Knochen, Fleisch und braunem Fell, das innerhalb von Sekunden in winzige Fetzen gehäckselt wird.

Jan stellt den Motor ab. Ich höre mich atmen, und irgendwo im Trecker knackt es noch. Ich kann kein Wort sagen, will die Stille nicht gleich wieder kaputtmachen. Ich stelle mir vor, dass überall Blut klebt. Gedärme verfangen sich in den Klingen.

Meine Hände rutschen von Jans Schultern, als er sich aus dem Sitz schwingt. Blut sickert in den Lehmboden. Ich stehe auf und halte mich am Metallgriff fest, der so heiß ist, dass ich eigentlich wieder loslassen müsste, um mir die Handinnenflächen nicht zu verbrennen, aber dann würde ich sofort umfallen, so zittrig sind meine Knie noch von der Fahrt.

»Dauert das lange?«, will ich fragen, aber aus meinem Hals kommt nur ein Krächzen. Ich räuspere mich und versuche es noch mal. »Ich muss aufs Klo«, sage ich.

Jan kniet neben dem Mähwerk und hebt die Plane an.

»Und ich hab Hunger.«

Ich ziehe mir die Sonnenbrille vor die Augen, bevor ich die Stufen runtergehe. Damit ich die Augen nicht zusammenkneife und sich bald dicke Krater über meine Stirn ziehen. So wie bei Manuela.

Ich schau mich um. Da ist nur das Windrad, das sich nicht dreht, und dann ist da doch ein kleiner brauner Fleck am Wald, der zwischen den Bäumen verschwindet.

Aber direkt vor mir liegen Fellreste. Sie sind viel größer, als ich sie mir vorgestellt hab. Die Haare sind noch ganz ordentlich, kein bisschen zerknickt, und ich hab sofort diesen Impuls, mich runterzubeugen und diese Fetzen zu streicheln. So ein komischer Streichel-Reflex. Aber ich bleibe stehen, weil auf Tieren immer massenhaft Bakterien rumkrauchen.

 

Ich war noch nie dabei, wenn ein Kitz zerhäckselt wurde. Früher hat Jans Vater uns Kinder geholt, um vor dem Trecker herzulaufen beim ersten Schnitt, mit Stöcken in der Hand, die wir waagerecht von uns gestreckt ins Weidegras halten mussten. Eigentlich hab ich das nie wegen dem Fünfmarkstück gemacht, das wir dafür gekriegt haben, sondern weil ich unbedingt ein Rehkitz finden wollte. Hab ich aber nie. Wahrscheinlich waren wir so laut, dass die Rehe schon weggelaufen sind, als wir uns noch um den besten Stock stritten.

»Is das nich viel zu spät«, sage ich, »im Juni?«

Jan steht auf, sucht das Gras ab. Er geht auf ein Stück zu, an dem ein winziges Ohr hängt, völlig heil, als könnte es noch hören und wackeln und alles. Daneben liegt ein schwarzer Klumpen, der das Auge sein könnte oder die Schnauze. Mir wird schlecht.

Jan greift nach dem Ohr und wirft den Kopfrest in die Treckerspur.

»Da sind Bakterien dran«, sage ich.

»An dir sind Bakterien dranne«, sagt er, greift nach einem Knochen, an dem noch Fell hängt, und wirft auch den in die Treckerspur, in der ich stehe.

»Das stimmt aber«, sage ich, »die meisten Rehe sind von Lungenwürmern und Haarbalgmilben befallen.« Hab ich erst vor ein paar Tagen im Internet gelesen.

»Das is so frisch, das können wir zum Abendbrot essen«, sagt Jan.

Er wischt sich die Hand an seiner Hose ab.

»Knusprige Rehöhrchen.« Er will tatsächlich seinen Arm um meine Schultern legen. »Kitz-Kotelett.« Ich kann gerade noch rechtzeitig wegtauchen. In diesen Momenten ist Jan so weit weg von mir, als wäre ich Bauchtänzerin auf Bora Bora und er eben Bauer in Schattin.

»Wollten wir nicht fertig werden?«

Ich setz meinen Fuß auf die unterste Treckerstufe, als ich Motorengeräusche höre. Zwei Kleinbusse fahren den Berg hoch, die weißen von der Windkraftfirma.

»Och nö«, sagt Jan.

Die Busse biegen in den Feldweg ein, schlingern hin und her um die Schlaglöcher und wirbeln so viel Staub auf, dass die Reifen verschwinden.

»Komm jetzt«, sage ich, kletter rein und setze mich wieder auf meinen Platz.

Die Luft ist immer noch unerträglich stickig hier drin und es riecht sogar ein bisschen nach verbranntem Plastik, als würden die Sitze mit ihren Gummibezügen gleich schmelzen. Die sind schwarz und saugen sich sofort mit Sonne voll, sodass man sich den Hintern verbrennt, wenn man sich draufsetzt. Die neuen Trecker haben Klimaanlagen, getönte Scheiben und so, und Jan hat erzählt, er hat sogar schon mal einen mit Kühlschrank gesehen.

Jan hat das mit den heißen Sitzen auf jeden Fall nie gestört, aber ich hab mal in der Jolie gelesen oder Maxi, ich weiß nicht mehr genau, dass die Spermien im Hoden absterben, wenn sie zu warm werden, und wenn sich Jan, seit er vier ist, auf diese Sitze gesetzt hat, ist es ein Wunder, wenn da überhaupt noch Leben zwischen seinen Beinen ist.

»Jan«, rufe ich nach draußen. »Jan!«

Es ist gleich halb neun. Ich hab Hunger. Ich will nach Hause.

Aber bevor ich aus dem Trecker springen kann, um Jan zu sagen, wie spät es ist, geht er los, quer durchs abgemähte Gras. Er wird immer kleiner und seine Gummistiefel schlackern um seine nackten Beine. Wenn ich nicht selber Stiefel anhätte, würde ich ihm jetzt hinterherrennen.

Eine Maus läuft vor mir in ein Loch im Boden. Über Lübeck startet ein Flugzeug und fliegt direkt in die Sonne. Und sofort hab ich das Gefühl, ein dickes Kind klammert sich an meinen Rücken und schlingt seine Arme so fest es geht um meinen Hals. Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin. Wieso sollte ich sonst in diesem Moment auf einem halb abgemähten Feld stehen? Nicht mal in einer Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ostsee oder auf der Seenplatte, nicht mal auf dem Todesstreifen, sondern kurz davor, daneben, irgendwo zwischen alldem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehmboden und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Windräder hinzustellen. Als Kind hat mir das irgendwie noch gereicht, aber nur weil ich fest davon überzeugt war, spätestens mit achtzehn würden meine Füße Tag und Nacht in High Heels stecken, mit denen ich lachend über den Berliner Asphalt stöckel.

 

Ich nehme die Fanta, die unterm Gaspedal klemmt. Die Flasche zischt nicht mal mehr beim Öffnen. Nach einem Schluck von diesem warmen Zeug ist mir jedenfalls schlecht und mein Magen fängt an zu knurren. Ich wühle zum dritten Mal in der Gefrierbox, aber da sind nur noch Alufolienreste und leere Gefrierbeutel, die orange angelaufen sind von meinen Möhren. Ganz unten liegt das Taschenmesser. Mit dem hat Jan mir vorhin eine braune Stelle aus meinem Apfel geschnitten, den ich dann zwar doch nicht gegessen hab, weil er nach Verfaultem geschmeckt hat, aber Jan hat ihn gegessen, mit Kernen und allem, bis nur der Stiel übrig war.

Ich klappe das Messer ein. Jan ist schon fast am Windrad. Er sieht wie ein kleiner Junge aus, wie er da in seinen abgeschnittenen Jeans über dieses riesige Feld stapft. Wenn er zurückkommt, brauchen wir bestimmt noch eine Stunde für die restlichen Bahnen. Ich klappe das Messer wieder aus. Über mir ist dieser riesige Himmel, und als ich hochgucke, sehe ich nur dieses verdammt blaue Blau, das sich über die ganze Welt zieht wie eine Plane, unter der wir gefangen sind.

Ich sehe Jan nicht mehr. Er ist in einer Senke verschwunden. Mit dem Messer kratze ich über den Trecker-Reifen, sodass der Lehm auf den Boden bröselt. Ich weiß nicht, ob dieses kleine Taschenmesser dazu in der Lage wäre, diesen Reifen zu durchstechen. Irgendwie hab ich das Gefühl, es würde mir viel, viel besser gehen, wenn ich es ausprobieren würde. Ich glaube, dann wäre ich auch nicht mehr sauer auf Jan, weil er mich hier stehen lässt und einfach zu diesen Windrad-Leuten gelaufen ist, obwohl ich Hunger hab und nach Hause will. Ich klappe es auf, die Klinge blitzt in der Sonne, und dann ist da so ein Kabel, das außen am Trecker langläuft, das schneide ich durch. Es beginnt an so einer Art Tank und verschwindet dann unter der Motorhaube. Jan hat mir mal erzählt, warum bei diesen alten Treckern die Tanks und Schläuche außen liegen. Aber ich hab den Grund wieder vergessen.

Ich gucke diese beiden Enden an, die da vor mir in die Luft ragen, und kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich das war. Bevor noch mehr passiert, werfe ich das Messer lieber wieder in die Gefrierbox.

 

Meine Stiefel sinken ein ins Gras, ich wische mir den Staub von den Armen, streiche mir die Augenbrauen glatt. Ich greife mir mit der rechten Hand in den Ausschnitt und rücke mir die linke Brust zurecht, dann mit der linken Hand die rechte. Die Ränder vom BH schimmern durch den Stoff. Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute...
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