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Tiere, vor denen man Angst haben muss

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Arche Literatur Verlagerschienen am14.02.20241. Auflage
Große Literatur über den Rollentausch zwischen Eltern und Kindern und die Frage, was ein gutes Leben ausmacht Eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist zurück: Tiere, vor denen man Angst haben muss erzählt vom Aufwachsen zweier Schwestern auf einem mecklenburgischen Hof in den Neunzigerjahren, wo sich die Grenzen zwischen den Generationen und zwischen Natur und Zivilisation immer mehr auflösen. Der Herbst setzt ein, und Madeleine friert. In ihrem Zimmer steht ein qualmender Ofen, doch meist muss sie sich mit einer Wärmflasche begnügen. Madeleine lebt mit ihrer Schwester Ronja und ihrer Mutter auf einem maroden Hof im Norden Mecklenburgs. Als die Familie kurz nach der Wende von Lübeck hierherzog, erfüllte sich die Mutter ihren Traum vom antikapitalistischen Leben auf dem Land. Erst ging der Vater, dann die Brüder, nun bevölkern zahlreiche Tiere das Haus, denen die Mutter all ihre Zuwendung schenkt. Während Madeleine ihre Träume im Quelle-Katalog ankreuzt und auf das wartet, was andere die beste Zeit des Lebens nennen, bleibt den Mädchen immer weniger Raum zum Leben. Wie soll Madeleine das Haus und die Familie zusammenhalten, wenn ihre Mutter ständig weg ist und Tiere und Pflanzen durch alle Ritzen dringen? Und wie soll sie so den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft finden? »Eine berührende Heldin, der man gebannt folgt auf ihrer Suche nach Geborgenheit.« Kristine Bilkau  »Eindringlich, berührend und mit einem zwingenden, unvergesslichen Ende.« Frank Menden, Buchhandlung stories!, Hamburg

Alina Herbing, geboren 1984 in Lübeck, wuchs in Mecklenburg auf und lebt heute in Berlin. Sie studierte in Greifswald, Berlin und Hildesheim. 2017 erschien im Arche Literatur Verlag ihr vielbeachtetes Romandebüt Niemand ist bei den Kälbern, das unter anderem mit dem ?Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg? ausgezeichnet wurde. Der Roman kam 2022 verfilmt von Sabrina Sarabi in die Kinos. Alina Herbing unterrichtet Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextGroße Literatur über den Rollentausch zwischen Eltern und Kindern und die Frage, was ein gutes Leben ausmacht Eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist zurück: Tiere, vor denen man Angst haben muss erzählt vom Aufwachsen zweier Schwestern auf einem mecklenburgischen Hof in den Neunzigerjahren, wo sich die Grenzen zwischen den Generationen und zwischen Natur und Zivilisation immer mehr auflösen. Der Herbst setzt ein, und Madeleine friert. In ihrem Zimmer steht ein qualmender Ofen, doch meist muss sie sich mit einer Wärmflasche begnügen. Madeleine lebt mit ihrer Schwester Ronja und ihrer Mutter auf einem maroden Hof im Norden Mecklenburgs. Als die Familie kurz nach der Wende von Lübeck hierherzog, erfüllte sich die Mutter ihren Traum vom antikapitalistischen Leben auf dem Land. Erst ging der Vater, dann die Brüder, nun bevölkern zahlreiche Tiere das Haus, denen die Mutter all ihre Zuwendung schenkt. Während Madeleine ihre Träume im Quelle-Katalog ankreuzt und auf das wartet, was andere die beste Zeit des Lebens nennen, bleibt den Mädchen immer weniger Raum zum Leben. Wie soll Madeleine das Haus und die Familie zusammenhalten, wenn ihre Mutter ständig weg ist und Tiere und Pflanzen durch alle Ritzen dringen? Und wie soll sie so den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft finden? »Eine berührende Heldin, der man gebannt folgt auf ihrer Suche nach Geborgenheit.« Kristine Bilkau  »Eindringlich, berührend und mit einem zwingenden, unvergesslichen Ende.« Frank Menden, Buchhandlung stories!, Hamburg

Alina Herbing, geboren 1984 in Lübeck, wuchs in Mecklenburg auf und lebt heute in Berlin. Sie studierte in Greifswald, Berlin und Hildesheim. 2017 erschien im Arche Literatur Verlag ihr vielbeachtetes Romandebüt Niemand ist bei den Kälbern, das unter anderem mit dem ?Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg? ausgezeichnet wurde. Der Roman kam 2022 verfilmt von Sabrina Sarabi in die Kinos. Alina Herbing unterrichtet Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783037901502
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum14.02.2024
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1361 Kbytes
Artikel-Nr.13876559
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


An das Haus, in dem wir zur Welt gekommen waren, konnte ich mich noch erinnern. Ronja nicht mehr, aber sie liebte es, wenn ich ihr davon erzählte. Als sie jünger gewesen war, hatte sie mich oft gebeten, ihr die Geschichte ihrer Geburt zu erzählen. Es ist das Erste, an das ich mich überhaupt erinnere.

Unser Au-pair-Mädchen passte auf uns auf, in ihrer Einliegerwohnung unter dem Dach. Maral weinte die ganze Zeit, jammerte und betete und befahl Helge, ihr Pinimenthol aus einem Gläschen in die Augen zu schmieren, damit sie noch besser weinen konnte. Sie saß auf dem Klodeckel ihres Badezimmers, und Helge stand vor ihr und schmierte ihr mit äußerster Sorgfalt die Erkältungssalbe auf die Lider, unter die Augen und an die Augeninnenseiten. Die dicke Salbe klebte in ihren Wimpern, und Maral weinte und weinte. »Die arme Mutter«, jammerte sie. »Eure arme Mutter. Sie wird sterben. Sie wird sterben. Mehr Pinimenthol! Mehr Pinimenthol! Eure arme Mutter.« Ich stand in der Badezimmertür und beobachtete das Ganze. Wo Lasse war, weiß ich nicht mehr.

»Mehr Pinimenthol!«

Als der Frauenarzt Ronja in der Gebärmutter meiner Mutter ausfindig gemacht hatte, hatte er im Gebärmutterhals auffällige Zellen entdeckt, die, wenn sie es nicht schon waren, »in naher Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Krebs werden« würden. Er riet meiner Mutter, sich das betroffene Gewebe sofort entfernen zu lassen, da sich der Krebs schnell ausbreiten und das ihren Tod bedeuten könnte. Da der Teil, der entfernt werden sollte, meine kleine Schwester in der Gebärmutter hielt, entschied sich meine Mutter jedoch dagegen und beschloss, sich den Rest der Schwangerschaft ausschließlich von ihrer Hebamme betreuen zu lassen, die regelmäßig zu uns nach Hause kam und ihren langen hölzernen Abhörstab an den Bauch meiner Mutter setzte. Durch den gleichen Stab hatte sie auch schon Helges Herztöne gehört und meine und die von Lasse. Und auch wir waren in dem Bett auf die Welt gekommen, in dem meine Mutter an diesem Tag in den Wehen lag.

Mein Vater rief uns nach unten. Ich erinnere mich daran, wie ich als Erste die Treppe herunterkomme, weil Helge und Maral noch mit dem Pinimenthol beschäftigt sind. Ich sehe den Kopf meiner Schwester neben der Brust meiner Mutter auf dem Laken liegen. Sie hat drei braune Locken, die auf ihrer Kopfhaut kleben. Die Hebamme sitzt am Schreibtisch und notiert etwas in eine große Tabelle. Mein Vater nimmt mich an die Hand und geht mit mir um das Bett herum ans Fußende, damit auch Helge und Maral die Möglichkeit haben, ans Bett zu treten. Ich bleibe neben einem Eimer stehen, der gefüllt ist mit Blut und Schleim und etwas, das aussieht wie Fleischstücke. Den Eimer finde ich noch interessanter als meine kleine Schwester.

 

Meine zweite Kindheitserinnerung hat auch mit der Treppe zu tun, die zu Marals Einliegerwohnung führte. Maral stand auf einer der unteren Stufen und mein Vater auf dem Boden davor, sodass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. Maral lachte und sagte immer wieder »Nein« und »Lass das!«, aber durch ihr Lachen klang es, als würde sie es eigentlich gar nicht so meinen, und mein Vater strich sich über den stoppeligen Bart auf seinen Wangen, und dann strich sie ebenfalls darüber. »Das pikst«, sagte sie und zog schnell ihre Hand weg und lachte wieder und sagte »Hör auf!«.

 

Das dritte Ereignis, das ich in meinem Leben für erinnerungswürdig hielt, fand im Herbst des Jahres statt, in dem meine Schwester zur Welt gekommen war. Ich huschte hinter meinem Vater aus dem Haus und folgte ihm durch den Garten. Eigentlich durften wir Kinder das Haus nicht verlassen an solchen Tagen in diesem Herbst, aber als mein Vater mich entdeckte, wollte er nicht umdrehen und mich zurückbringen. Er nahm mich an die Hand, schob das große Tor zur Seite, und wir gingen die lange Einfahrt zur Straße hoch. Das scheppernde Knattern wurde immer lauter, je näher wir den kleinen Autos kamen, die vor unserer Einfahrt standen. Die meisten waren beige, aber es gab auch hellgelbe, hellblaue und grüne.

»Und der in Orange, das ist ein Wartburg«, erklärte mir mein Vater. »Das ist in der DDR so was wie unser Mercedes.«

Die Trabis sahen für mich wie große Spielzeugautos aus. Die Menschen darin mussten sich mühsam hineingezwängt haben. Wir waren nicht die Einzigen, die auf dem Bürgersteig standen, um sich das Ganze anzusehen, auch vor den anderen Häusern hatten sich kleine Grüppchen von Anwohnern gebildet, die die sich kaum vorwärts bewegenden Autos beobachteten.

»Warum ist hier eine Kiste mit Bananen?«, fragte ich meinen Vater, als ich den Pappkarton bemerkte, der neben der Laterne stand. Es waren allerdings nur zwei ziemlich kleine Bananen drin.

Doch mein Vater war nicht mehr bei mir, er stand direkt neben einem Trabi, hatte sich runtergebeugt zu dem offenen Beifahrerfenster und unterhielt sich mit einer Frau mit lockigen Haaren. Als ich die Straße hochsah, entdeckte ich noch mehr Pappkartons auf dem Bürgersteig. Ich war gerade losgelaufen, um zu sehen, ob auch in ihnen Bananen lagen, aber mein Vater rief mich schon nach ein paar Schritten zurück.

»Komm, hier kriegt man ja keine Luft«, sagte er, und wir gingen zurück zu unserem Grundstück.

Tatsächlich bestand die Luft aus bläulichem Dunst. Auch über unserem Garten lag dieser Nebel, und er sollte sich den ganzen Winter nur an wenigen Tagen verziehen. Wenn die Wolken tief hingen und kein Wind wehte, erlaubte unsere Mutter uns nicht rauszugehen, aber auch in unserem Haus hatte sich der Gestank mittlerweile ausgebreitet.

Nur abends konnten wir zum Einkaufen fahren, dann war die Spur nach Lübeck frei, dafür stauten sich die Trabis auf der Seite, die zur Grenze führte, und wir brauchten ewig, um wieder nach Hause zu kommen. Wir bekamen unser Abendbrot von unserer Mutter auf die Rückbank gereicht, die gerade gekauften Bio-Brötchen und Soja-Würstchen aus dem Reformhaus. Meist waren wir eingeschlafen, wenn wir irgendwann aus der Trabischlange in unsere Einfahrt bogen.

 

Wir wohnten in einer Villa am Stadtrand damals, in der Nähe des Hafens, neben einer Fischkonservenfabrik, deren Gestank in unseren Garten wehte, wenn der Wind von Norden kam. Unser Grundstück war umgeben von einer Mauer, bewachsen von Wildem Wein, die uns abschirmte von der Welt um uns herum, zumindest für ein paar Jahre, denn die von Abgasen und Fischgeruch getränkte Luft konnte auch die Mauer nicht aufhalten, ebenso wenig wie die vergifteten Fische, die unsere Katzen töteten.

Das Haus hatte vor uns dem Inhaber der Fischkonservenfabrik gehört, der einsam in der Villa gelebt hatte, bis er sich im Alter von siebenundfünfzig Jahren entschloss, einen Strick in das Gebälk des Dachbodens zu binden, wo er wenige Tage später von seiner Putzfrau gefunden wurde. Den Gerüchten nach war er homosexuell gewesen und an Aids erkrankt. In den vielen Zimmern gab es Schränke voll ungetragener Sakkos, Hemden und Pullunder, die ein Vermögen wert waren. Der Neffe, der die Verwaltung des Erbes übernommen hatte, ließ den Großteil der Kleidung von einer Sammelstelle des Roten Kreuzes abholen und übergab den Verkauf einem Maklerbüro, das aufgrund der Selbstmordgeschichte Schwierigkeiten hatte, einen Käufer zu finden, bis meine Eltern schließlich, möglichst rasch, noch vor Helges Geburt, unterzeichnen wollten. Mein Vater hatte es eilig, weil er nach der Offenbarung der Schwangerschaft meiner Mutter von seiner Frau vor die Tür gesetzt worden und in eine billige Pension in der Nähe der Klinik, an der er arbeitete, gezogen war. Meine Mutter hatte es eilig, weil sie seit der durch die Schwangerschaft mitverursachten Trennung von ihrem Ehemann im Gartenhäuschen meiner Großeltern wohnte, was in Hinsicht auf die sinkenden Temperaturen und die steigenden Spannungen zwischen meinen Großeltern und ihrer einzigen Tochter als Dauerlösung nicht infrage kam.

Darum standen meine Eltern also, sie 31, er 46 Jahre alt, im Spätsommer in dem verwunschenen Garten, die Mauern rot vor Wildem Wein, die nahe Straße nicht zu hören, der Fisch nicht zu riechen, und die Trabis waren noch Jahre entfernt. Meine Mutter sah die Gemüsebeete, die sie anlegen würde, die Kinder, die im Laub spielten, und strich sich verträumt über den runden Bauch, während mein Vater mit dem Makler das Vertragliche besprach. Wind kam vom Meer, und meine Mutter bildete sich ein, das Salz zu riechen und gleich viel besser atmen zu können.

Kurz nachdem sie von der Schwangerschaft erfahren hatte, war sie zusammengebrochen, konnte sich kaum noch bewegen, weil sie keine Luft mehr bekam. Es war kein akuter Asthmaanfall, vielmehr fühlte es sich an, als würde nur noch ein unbefriedigend kleiner Teil der Luft, die sie einatmete, in ihrer Lunge ankommen. Mit letzter Kraft und der Hilfe ihrer vierzehnjährigen Tochter packte sie die nötigsten Sachen zusammen, verließ das Haus ihres Mannes, stieg in ihre Ente und fuhr mit Anna auf dem Beifahrersitz und ihrem Riesenschnauzer Baldur auf der Rückbank die wenigen Kilometer aus der Stadt hinaus zum Haus ihrer Eltern, die selbst nicht da waren, weil sie den Sommer im Bayerischen Wald verbrachten.

Meine Mutter wurde von ihrer Tante, die im hinteren Teil des Hauses wohnte, herzlich aufgenommen, ins Gästebett gesteckt und mit Hühnersuppe versorgt. Baldur wurde von den Katzen angefaucht. Anna wurde mit abgelaufener Schokolade verwöhnt und musste sich zum zehnten Mal die Sammlung der Katzenpfoten ansehen, die Tante Elsie in der obersten Kommodenschublade in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte.

Als mein Vater zu Besuch kam und meine Mutter kaum atmend, kaum sprechend in dem staubigen Zimmer vorfand,...
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