Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Der letzte Granatapfel

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am15.05.20161. Auflage
An Bord eines Bootes, das ihn zusammen mit anderen Flüchtlingen in den Westen bringen soll, erzählt Muzafari Subhdam seine Geschichte. Selbst ein hochrangiger Peschmerga, rettete er dem legendären kurdischen Revolutionsführer einst das Leben, als sie von Truppen des Regimes umstellt waren. Er aber geriet in 21-jährige Gefangenschaft, mitten in der Wüste. Wieder in Freiheit, begibt er sich auf eine Reise durch das, was aus seinem Land geworden ist. Eine Reise durch Geschichten, Geheimnisse und zu Personen, die ihm dabei helfen, seinen verschollenen Sohn zu finden. Eine Reise, die ihn schließlich auf den Weg führt, den Tausende schon vor ihm genommen haben: übers Mittelmeer in den Westen.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextAn Bord eines Bootes, das ihn zusammen mit anderen Flüchtlingen in den Westen bringen soll, erzählt Muzafari Subhdam seine Geschichte. Selbst ein hochrangiger Peschmerga, rettete er dem legendären kurdischen Revolutionsführer einst das Leben, als sie von Truppen des Regimes umstellt waren. Er aber geriet in 21-jährige Gefangenschaft, mitten in der Wüste. Wieder in Freiheit, begibt er sich auf eine Reise durch das, was aus seinem Land geworden ist. Eine Reise durch Geschichten, Geheimnisse und zu Personen, die ihm dabei helfen, seinen verschollenen Sohn zu finden. Eine Reise, die ihn schließlich auf den Weg führt, den Tausende schon vor ihm genommen haben: übers Mittelmeer in den Westen.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293309388
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.05.2016
Auflage1. Auflage
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2324 Kbytes
Artikel-Nr.3421219
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1


Im Morgengrauen des ersten Tages erkannte ich, dass er mich eingesperrt hatte. In einem Schloss, mitten in einem schwer zugänglichen, abgelegenen Wald. Er sagte, draußen habe sich eine Art tödliche Krankheit verbreitet, eine Seuche, ähnlich der Pest. Wenn er log, flogen die Vögel davon. Schon als Kind war er so gewesen. Jedes Mal, wenn er log, geschah etwas. Entweder begann es zu regnen, oder Bäume fielen um, oder ein Vogelschwarm flog über unsere Köpfe hinweg.

Ich war in einem großen Schloss eingesperrt. Er brachte mir einen Stapel Bücher und sagte, ich solle sie lesen.

Ich antwortete nur: »Lass mich gehen.«

»Die Welt ist von Kopf bis Fuß von dieser Krankheit befallen, Muzafari Subhdam«, sagte er. »Bleib hier, hier ist die Welt in Ordnung. Dieses Schloss habe ich mir selber erbaut, für mich und meine Engel, für mich und meine Teufel. Setz dich und lehne dich zurück, meine Engel und meine Teufel gehören dir. Dort draußen lauert die Pest, und du musst verschont bleiben, verstehst du?«

Ja, hier war von dieser Pest nichts zu spüren.

Schon als wir Kinder waren, hatte er mir jeweils seine Sachen überlassen und ich ihm meine. Jakobi Snauber, der Mann, der Dinge geschehen ließ, wenn er in den Himmel blickte: Plötzlich wuchsen Wolken, eine Sternschnuppe fiel, blitzschnell drang Erleuchtung in unsere Herzen, oder die Nacht brach vorzeitig an. An seiner Seite war die Welt schon immer eine andere gewesen. Ich hatte ihn oft auf seinen Märschen begleitet. Wie ein Magier verwandelte er den Weg unter seinen Füßen und die Dinge, die ihn umgaben. Er konnte uns tage- und nächtelang auf seinen Wegen mitführen, ohne dass wir Hunger verspürten. Jakobi Snauber war ein Mann voller Fantasie. Ich war sein einziger, langjähriger Gefährte, denn wir kannten uns seit unserer Kindheit. Die anderen, die an unserer Seite gekämpft hatten, waren jünger gewesen. Später wurde ein Teil von ihnen zu seinen Feinden und der andere Teil zu seinen Knechten.

Wann hatte die Geschichte von mir und Jakobi begonnen? Nach einundzwanzig Jahren Gefangenschaft ist mir, außer einigen Fetzen Erinnerung, nichts geblieben. Einundzwanzig Jahre Gefangenschaft haben aus mir einen Knecht gemacht, an Leib und Seele. In diesen einundzwanzig Jahren war er der Einzige, der mir Briefe schickte. Er schrieb auf kleine Zettel: »Wenn du herauskommst, wird eine neue Epoche herrschen. Du lebst bald in einem der schönsten Schlösser der Welt.« Über Jahre hinweg schickte er mir solche Briefchen, unter die er keinen Namen schrieb, sondern nur Worte wie »ein liebender Freund vermisst Dich«. Oder er malte wie früher in die untere Ecke des Zettels einen Vogel. Mit den Jahren entwickelte ich ein Gespür für seine Handschrift. Ich erkannte in ihr die Veränderungen seiner Seele. Während dieser einundzwanzig Jahre erhielt ich außer seinen Schreiben nichts, was mir von der Welt da draußen erzählte. Seine Briefchen waren mein einziges Fenster zu den Veränderungen da draußen gewesen. Einundzwanzig Jahre immer wieder der Satz vom Schloss, das auf mich wartete.

Meine erste Nacht in diesem Schloss war kalt, still und furchterregend. Nach einundzwanzig Jahren Alleinsein und Schweigen. Ich hatte mich bemüht, die Sprache nicht zu verlernen. Nein, ich habe sie nicht vergessen. In diesen langen Jahren hatte ich Zeit gehabt, mir meine eigene Sprache zu erschaffen, eine Sprache ähnlich der Poesie. Als ich aus dem Gefängnis herauskam, konnte ich alles sagen, aber für andere war es manchmal unverständlich. Als ich herauskam, roch ich nach Wüste. Jede Wüste hat ihren eigenen Geruch. Nur wer lange mit der Wüste gelebt hat, kann diese Gerüche voneinander unterscheiden. Ich roch nach meiner Wüste. Nur ein einziges Mal hatten sie mich aus ihr herausgeholt, sie wollten mich gegen einen Staatsgefangenen austauschen. Der Plan scheiterte. Nach zehn Tagen in einem anderen Gefängnis wurde ich wieder in meine Wüste zurückgebracht.

Einundzwanzig Jahre lang hatte ich dem Sand zugehört. Mein Gefängnis befand sich am Ende der Welt. Eine kleine Zelle mitten im Sandmeer, umringt von Himmel und Wüste. Einundzwanzig Jahre lang zählte ich zu den gefährlichsten Gefangenen der Nation. Abgeschnürt von der Welt, am fernen Ende des Landes, an einem Ort, wo sogar Gott die Menschen vergisst, wo das Leben endet und das Sterben beginnt, in einer Gegend in den Farben eines unbewohnten Planeten. Dort hatten sie mich versteckt. Während dieser einundzwanzig Jahre lernte ich, mit dem Sand zu sprechen. Wundert euch nicht, wenn ich sage, dass die Wüste voller Stimmen steckt. Der Mensch wird sie nie ganz verstehen können, aber nach und nach entzifferte ich die Hieroglyphen ihrer unterschiedlichen Stimmen. Wenn du so viele Jahre in einem Zimmer mitten in einer Wüste leben musst, lernst du, wie du dein Leben füllst, wie du dir Aufgaben schaffst. Vor allem musst du vermeiden, an die Zeit zu denken. Sobald du in der Lage bist, nicht an das Verrinnen der Zeit zu denken, schaffst du es auch, den Ort zu vergessen. Was einen Gefangenen umbringt, ist das andauernde Denken an die Zeit und an andere Orte.

Bis zum siebenten Jahr meiner Gefangenschaft hatte ich Tag für Tag die Stunden gezählt. Anfangs zählst du ganz genau, Sekunde für Sekunde, aber eines Tages wachst du auf und siehst, dass sich alles verwirrt hat. Du weißt nicht mehr, ob du dich seit einem Jahr oder einem Jahrhundert an diesem Ort befindest. Du weißt nicht mehr, wie die Welt da draußen aussieht. Am meisten Angst macht das Wissen, dass jemand auf dich wartet. Erst wenn du dir gewiss bist, dass niemand mehr auf dich wartet und dass dich die Welt vergessen hat, beginnst du, an dich selbst zu denken.

Nach einundzwanzig Jahren in der Wüste ist der Sand das Einzige, woran du denken kannst. Es gibt Nächte, in denen ruft die Wüste deinen Namen. Schwierig daran ist, dass du nicht weißt, was antworten. Ich sah die Geister der Wüste, die Gestalten aus Sand, die der Wind wachsen ließ und die der Wind wieder zerstreute. Es dauert lange, bis man lernt, mit dem Sand zu sprechen. In einundzwanzig Jahren erkennt man das Geheimnis der Gespräche mit dem Sand. Die Kunst ist, nie eine Antwort zu erwarten, nur selbst zu sprechen und dem Echo zu lauschen. Einem Echo, das wie Erdreich vom Wüstenboden geschluckt und von tausend anderen Echos erdrückt wird.

Einmal im Monat erlaubten sie mir, hinaus in die Wüste zu gehen. Sie schickten einen Wächter, mit dem ich ein paar Hundert Meter über den Sand ging. Diese Tage waren die schönsten meines Lebens. Bereits eine Woche vorher begann ich, mich vorzubereiten. Wenn meine Füße den Sand berührten, flatterte mein Herz vor Freude. Einundzwanzig Jahre lang war der Sand mein bester Freund. Wenn ich meinen Fuß in den Sand grub, spürte ich das Leben in mir, fühlte die Erde und spürte mein grenzenloses Sein, das in dieser kleinen Hütte zum Tode verurteilt war.

Nach und nach vergaß ich die Menschen. Das Universum wurde mein Lebensgefährte. In einundzwanzig Jahren hat man viel Gelegenheit, sich Gedanken über das Universum zu machen. Im Sand ans Universum denken ... Ich wusch mich mit Sand, und dadurch kehrte meine Kraft in mich zurück. Und schließlich kommt der Tag, an dem die Freiheit, die das grenzenlose Sandmeer dir schenkt, dich ganz ausfüllt. Nach ein paar Jahren Gefangenschaft, ich weiß nicht mehr recht, wann das war, war ich von allen Gedanken über die Politik reingewaschen.

In manchen Nächten erhellte das Mondlicht mein Gefängnis so klar, dass ich alles sehen konnte wie am helllichten Tag. Dieser silbrige Glanz schenkte mir zusätzlich Kraft, vieles zu vergessen. Eine Ewigkeit war ich nun schon tot. Außer Jakobi Snauber wusste niemand, dass ich noch am Leben war. Niemand suchte mich, niemand vermisste mich. Ich kam aus dem Nichts und war wieder zu nichts geworden. Mit den Jahren verwandelten sich all meine Erinnerungen in Sand.

Ich wusste nicht, wo ich gefangen war. Diese Wüste hatte keinen Namen. Als sie mich herbrachten, saß ich tagelang mit verbundenen Augen auf der Rückbank eines Militärlastwagens. Aber ich konnte riechen, dass wir durch die Wüste fuhren. Einundzwanzig Jahre hoben sie mich auf, um mich eines Tages gegen einen Großen auszutauschen.

Zuletzt, in einer dunklen Nacht, ließen sie mich frei. Wenn du nach einundzwanzig Jahren rauskommst, siehst du nur Sand und denkst nur an Sand. Als sie mich in dieses Schloss brachten, begriff ich nichts und wollte auch gar nichts begreifen. Alles war stockfinster. Von dem Moment an, als ich aus dem Gefängnis weggebracht wurde, bis zu dem Moment, als ich in diesem Schloss meine Augen öffnete, sah ich kein Tageslicht. In der Dunkelheit wurde ich von einer Hand zur nächsten weitergereicht. Hände, verschwiegen wie die Nacht, stiller als eine Wand und stummer als eine verschlossene Tür, hinter der ein alter Gefangener wartet.

Ein Mann hatte mein Handgelenk gepackt und mich in einen anderen Wagen gesetzt. Er schwieg. Ich konnte nicht einmal sein Atmen hören. Ich hörte nur den Schrei des Sandes. Wohin brachten sie mich? Ich wusste es nicht, und es hatte auch keine Bedeutung. Wer nur ans Universum denkt, ist frei von Angst. Zweiundzwanzig Jahre alt war ich, als sie mich verhaftet hatten, und dreiundvierzig, als sie mich freiließen.

Als sie mich geholt und meine Augen verbunden hatten, fragte ich den Wächter, ob sie mich zur Exekution führten. Er sagte: »Nein, wir werden dich in die Freiheit entlassen.« Was meinte er mit Freiheit? Es ist sinnlos, nach...


mehr

Autor

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt