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Die Herrin der Vögel

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Unionsverlagerschienen am19.08.2024
Stunde um Stunde verbringt die junge Sausan in der Bibliothek ihres Vaters. Wegen ihrer Gesundheit zu einem Leben am immer selben Ort verdammt, entdeckt sie die Vielfalt der Welt durch ihre Bücher: Sie liest von fernen Städten und alten Völkern, von Meerestieren, Motoren und wundersamen Pflanzen. Sie ist sich gewiss: Sollte sie je heiraten, dann einen Mann mit weltoffenem Geist, der die Liebe zu Geschichten im Herzen trägt. Als gleich drei Verehrer um ihre Hand anhalten, stellt sie ihnen eine Aufgabe: Acht Jahre lang sollen sie die Ferne bereisen und ihr nach Ablauf dieser Zeit einhundert Vögel zurückbringen. Dann wird sie ihre Berichte hören, jedem in die Augen schauen und prüfen, ob sie darin den Reichtum dieser Welt erblickt.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR26,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextStunde um Stunde verbringt die junge Sausan in der Bibliothek ihres Vaters. Wegen ihrer Gesundheit zu einem Leben am immer selben Ort verdammt, entdeckt sie die Vielfalt der Welt durch ihre Bücher: Sie liest von fernen Städten und alten Völkern, von Meerestieren, Motoren und wundersamen Pflanzen. Sie ist sich gewiss: Sollte sie je heiraten, dann einen Mann mit weltoffenem Geist, der die Liebe zu Geschichten im Herzen trägt. Als gleich drei Verehrer um ihre Hand anhalten, stellt sie ihnen eine Aufgabe: Acht Jahre lang sollen sie die Ferne bereisen und ihr nach Ablauf dieser Zeit einhundert Vögel zurückbringen. Dann wird sie ihre Berichte hören, jedem in die Augen schauen und prüfen, ob sie darin den Reichtum dieser Welt erblickt.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293310919
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum19.08.2024
SpracheDeutsch
Dateigrösse2100 Kbytes
Artikel-Nr.15120610
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




4


Nach einer Reihe von Katastrophen in Bagdad überlegte Fikrat Guldantschi, ob es nicht besser wäre, in den Norden zu ziehen. Bis 1985 war er in Bagdad Angestellter in der Direktion des Versorgungsamtes gewesen und hatte einige große Hallen, in denen Mehl für die Armee gelagert wurde, verwaltet. Zu Beginn des Krieges waren diese Lager zwei Mal von iranischen Kampfjets bombardiert worden. Beide Male entstieg er unversehrt der staubigen Mischung aus Mehl, Schießpulver und Erde, musste aber mit eigenen Händen tote Kollegen, Lastenträger und Frauen aus der Buchhaltung ins Freie tragen, wobei die besondere Farbe von Blut, vermengt mit Mehl, seine Aufmerksamkeit erregte.

Fikrat, der Anfang der Fünfzigerjahre zum Studieren nach Bagdad gegangen war, kehrte nun, nach fünfunddreißig Jahren, in die kurdische Region im Norden zurück. Er war ein belesener Mann, der aufgrund seiner Bildung in Ministerien und höheren Ämtern sehr angesehen war. Sein Wissen umfasste unterschiedliche Bereiche, die weit auseinanderlagen: Er wusste viel über seltene Pflanzen und einzigartige Blumen, aber genauso detailliert kannte er sich im Bereich der Mechanik von Kraftfahrzeugen und der Entwicklung von Hydraulikmotoren und Raketen aus. Seine Kenntnisse umfassten beinahe alles. Angefangen bei Literatur und Kunstgeschichte, den Biografien großer Wissenschaftler und mächtiger Könige. In einer Phase seines Lebens hatte er überlegt, ein Buch über untergegangene Städte zu schreiben. Er wusste viel über Städte, die von Gottes Hand zerstört worden waren, angefangen bei Sodom und Gomorra, bis hin zu Städten, die Menschenhand dem Erdboden gleichgemacht hatte, wie Dresden und Stalingrad. Aber nie ergab sich die Gelegenheit, sein Wissen niederzuschreiben. Nur vier Artikel zu verschiedenen Themen hatte er geschrieben, die in unterschiedlichen Zeitschriften veröffentlicht worden waren.

Dass er im Getreidehandel tätig wurde, ergab sich Mitte der Sechzigerjahre. Damals bereiste er mit einer stattlichen Delegation die Sowjetunion, wo er einen wichtigen Vertrag für den Mehlimport mit ukrainischen Unternehmen abschloss. Seine Sprachkenntnisse führten dazu, dass er für weitere Vertragsabschlüsse Anfang der Achtzigerjahre herangezogen wurde. Fikrat Guldantschi nutzte seine Geschäftsreisen, um besondere Bücher, alte Karten und Antiquitäten zu kaufen. Innerhalb kurzer Zeit sammelte er Dutzende Werke über Pflanzen, Motoren, Ballons, Parfums, Meerestiere und alte Völker. Seine seltenen Atlanten, an die zweihundert Stück, waren in den Siebzigerjahren nirgendwo sonst, weder in Bagdad noch in anderen Bibliotheken des Landes zu finden. Die Privatbibliothek wurde zu seinem großen Stolz. Jeder, der sie zu sehen bekam, fragte erstaunt: »Großer Gott, Fikrat, wie hast du das geschafft?« Aber trotz seiner wertvollen Bibliothek, trotz seiner närrischen Wissbegier wurde aus ihm kein bekannter, erfolgreicher Mann. Die Sorge um die Familie ließ ihn so tief im Mehlhandel versinken, dass ihm wenig Zeit blieb, sich seiner wahren Leidenschaft zu widmen. Das machte ihn zu einem wortkargen, mürrischen und traurigen Mann, von dem zu Hause niemand wusste, worüber er im Stillen grübelte. Seine Frau erkrankte Anfang der Siebziger an Tuberkulose. Gut möglich, dass Fikrats Versunkenheit in seine eigene Welt - den Beruf und die Bücher - der Hauptgrund für die Erkrankung seiner Frau war. Qamar, die all die ungelesenen, staubigen Bücher satthatte, fand in ihrer Einsamkeit nur bei den Frauen in der Nachbarschaft Trost. Sie traf sich so oft mit den Nachbarfrauen, um Reis zu verlesen, grüne Bohnen zu schneiden und Okraschoten zu putzen, dass sie von einer Nachbarin mit dieser bösen Krankheit angesteckt wurde. Zwei Jahre lang lag sie isoliert in einer Spezialklinik außerhalb von Bagdad. Währenddessen war Fikrat, wie üblich, unablässig mit seiner Arbeit, Firmentreffen und dem Ausbau seiner Bibliothek beschäftigt. Jahr für Jahr waren es mehr Bücherregale geworden, sodass es im Haus beinahe keinen Platz mehr für etwas anderes gab. In den achtzehn Jahren Eheleben schenkte ihm Qamar drei Kinder: seinen Ältesten, Nizar, Prusche, die mittlere Tochter, und seine Jüngste, die kranke, schwache Sausan, die erst sehr spät gehen lernte.

Qamar erlag nach einem zweijährigen Quarantäneaufenthalt ihrer Krankheit. Nizar war damals vierzehn, Prusche zwölf und Sausan erst fünf Jahre alt. Nach Qamars Tod durchlebte die Familie einige bittere Jahre. Nizar vergeudete seine Jugend wild und verrückt in Bagdads Straßen. Schon mit sechzehn war er Trinker, und bereits in frühen Jahren hatte er sich einer Davul-Zurna-Gruppe angeschlossen, die in den Stadien mit ihrer Musik die Fußballmannschaften anfeuerte. Darin war er äußerst aktiv und motiviert. All dies hinderte ihn aber nicht daran, seinen Schwestern ein enger Freund zu sein. Immer behielt er sie im Auge. Zwar galt seine Leidenschaft nicht den Büchern, aber 1976 bei seinem Schulabschluss schnitt er so gut ab, dass er einen Studienplatz an der technischen Universität erhielt. Das einzige Bild von ihm aus jener Zeit, das Sausan in Erinnerung behalten hatte, zeigt einen blauäugigen Jungen mit blondem Haar, der breit lächelnd und hocherhobenen Hauptes in einem Anzug dahinschritt.

Nach dem Tod ihrer Mutter fanden die drei Kinder Zerstreuung bei der Pflege des Gartens. Wenn Nizar nicht in den Stadien mit Schreien und Anfeuern beschäftigt war, half er seinen Schwestern zu Hause beim Gärtnern.

»Zuweilen hatte ich das Gefühl, dass er, wie manche Sommerblumen, golden glänzte«, sinnierte Sausan einmal.

Die Beziehung zu seinem Vater war nicht gerade harmonisch, denn Nizar gab der intensiven beruflichen Beschäftigung des Vaters und seinem Ignorieren der Schmerzen Qamars eine Mitschuld an ihrem Tod. Bereits bevor der Krieg gegen den Iran ausbrach, hatte Fikrat überlegt, mit den Kindern in seine Heimat im Norden zu ziehen. Fikrats historische Kenntnisse hatten in ihm ein Gespür für katastrophale Entwicklungen ausgebildet.

Als Saddam Hussein die Macht an sich riss und von einem hohen Balkon herunter die Entstehung einer neuen Welt ankündigte, fand sich Fikrat erstaunt inmitten der euphorischen Menge der Untertanen wieder und starrte den neuen Präsidenten an. Die Szene rief ihm die Karrieren anderer Diktatoren ins Gedächtnis, über die er gelesen hatte und die ihn warnten, dass schwarze Zeiten auf das Land zukämen. Als er in den alten doppelstöckigen Bus stieg, der durch die jubelnden und singenden Menschenmassen vom Maidan-Platz ins Al-Bayaa-Viertel fuhr, war ihm bereits in den Sinn gekommen, sich, um den kommenden Ereignissen auszuweichen, in das Versorgungsamt im Norden versetzen zu lassen.

Nizar war gerade im sechsten Semester. Der Plan seines Vaters rief in ihm großes Unbehagen hervor. Er wollte nicht sein Studium in einer für ihn fremden Stadt fortsetzen müssen, und er wollte seine Bagdadi-Freunde und die regelmäßigen Stadion-Besuche nicht aufgeben. Am schlimmsten war für ihn, dass er die Liebesbeziehung zu Asil Yalmaz nicht würde fortsetzen können. Der Junge ahnte nicht, dass sein Vater einen Krieg voraussah. Seine Kenntnisse der gesamten Region und ihrer Stammeskriege ließen in Fikrat die Furcht keimen, dass die Diktatur dieses Mannes, der so unbedingt im Mittelpunkt stehen wollte, nicht ohne Krieg vorübergehen würde. Seine Erfahrungen in Bagdad besagten, dass die Zeit reif war für eine Katastrophe. Da er sich nicht traute, dem Sohn seine wahren Befürchtungen zu verraten, gab er als Grund für den Umzug vor, alt geworden zu sein und seinem Beruf nicht mehr so intensiv wie bisher nachgehen zu können. Sein Umzugswunsch löste bei Nizar und Prusche eine echte Revolte aus. Sie waren nicht bereit, ihr weiteres Leben in einer der kleinen toten Städte im Norden zu verbringen. Besonders aufgebracht reagierte Prusche. Schuld daran war die Liebe. 1976, einige Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag, hatte sich in einem der großen Parks eine Beziehung zu Nashaat Niema, dem Sohn eines hochrangigen Offiziers, entwickelt. Der junge arabische Mann hatte ihr versprochen, nächstes Jahr um ihre Hand anzuhalten. Zöge sie nach Kurdistan, würden ihre Träume vom Winde verweht, und sie müsste ihre Liebe aufgeben. Das einzige Kind, das Fikrat gesagt hatte, es würde ihn überallhin begleiten, bis zum Tode bei ihm bleiben und sich niemals von ihm trennen, war seine jüngste Tochter Sausan. Als Einzige hatte sie ein enges Verhältnis zu ihrem Vater. Nach Qamars Tod schenkte Fikrat ihr besonders viel Aufmerksamkeit. Viele meinten, dass ein Büchernarr wie Fikrat nicht in der Lage sein würde, sich um ein kleines Mädchen zu kümmern. Seine Tochter litt von Geburt an unter Blutmangel, ihr Knochenbau war fragil. Deshalb war er ständig in Sorge. Erst nach dem Tod ihrer Mutter lernte sie zu sprechen und zu gehen. Sie sprach ein gepflegteres Kurdisch als ihre Geschwister, da ihr Vater auf seine Worte achtete, wenn er mit ihr sprach. Fikrat Guldantschi war es auch gelungen, dem Mädchen ein märchenhaftes Bild von Kurdistan und dessen Städten und Urlaubsorten zu vermitteln. In einem Album aus seiner Jugendzeit zeigte er ihr Fotos von schneebedeckten Bergen, verschlafenen Dörfern in grünen Wäldern und von Seen mit glücklichen Fischen, verschwieg ihr aber, was in Kurdistan vor sich ging. So wuchs sie auf, und die Namen kurdischer Städte wie Erbil, Halabja, Amedi oder Urlaubsorte wie Solav und Sarsang klangen in ihren Ohren fantastisch. Fikrat Guldantschi wagte vor den Kindern nicht, laut auszusprechen, dass er einen entsetzlichen Krieg heraufziehen sah. Nur Sausan wisperte er etwas von einer blutigen Zukunft ins Ohr.
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Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

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