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Das verborgene Leben der Pflanzen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am15.12.20151. Auflage
Der Privatdetektiv Ki-Hyeon bekommt endlich einen Auftrag: Er soll eine Frau beschatten. Der Kunde bleibt anonym, und als er die Frau zu Gesicht bekommt, schreckt er zurück: Es ist seine Mutter. Soll er den Auftrag annehmen? Schicht um Schicht taucht er ein in die Geheimnisse. War es wirklich ein Unfall, dass sein Bruder, ein talentierter Fotograf, in der Armee beide Beine verlor? Warum ist das Mädchen verschwunden, das vor dem Unfall des Bruders große Liebe war? Und wer ist der große Unbekannte, der im Leben der Mutter auftaucht, als gehöre er mit zur Familie? Was weiß der Vater, der fast wortlos seine Rolle in diesem beklemmenden Familienverbund spielt? Dieser kunstvoll komponierte Roman legt eine dramatische Familiengeschichte frei, in der zum Schluss die Liebe über Schuld, Beklemmung und Schweigen siegt.

Lee Sung-U, geboren 1959 in einem kleinen Küstenort in Südkorea, studierte Theologie. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller lehrt er Koreanische Literatur an der Universität von Chosun. In seiner Heimat erhielt er zahlreiche Preise, in Frankreich war er für den Prix Femina nominiert.
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Produkt

KlappentextDer Privatdetektiv Ki-Hyeon bekommt endlich einen Auftrag: Er soll eine Frau beschatten. Der Kunde bleibt anonym, und als er die Frau zu Gesicht bekommt, schreckt er zurück: Es ist seine Mutter. Soll er den Auftrag annehmen? Schicht um Schicht taucht er ein in die Geheimnisse. War es wirklich ein Unfall, dass sein Bruder, ein talentierter Fotograf, in der Armee beide Beine verlor? Warum ist das Mädchen verschwunden, das vor dem Unfall des Bruders große Liebe war? Und wer ist der große Unbekannte, der im Leben der Mutter auftaucht, als gehöre er mit zur Familie? Was weiß der Vater, der fast wortlos seine Rolle in diesem beklemmenden Familienverbund spielt? Dieser kunstvoll komponierte Roman legt eine dramatische Familiengeschichte frei, in der zum Schluss die Liebe über Schuld, Beklemmung und Schweigen siegt.

Lee Sung-U, geboren 1959 in einem kleinen Küstenort in Südkorea, studierte Theologie. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller lehrt er Koreanische Literatur an der Universität von Chosun. In seiner Heimat erhielt er zahlreiche Preise, in Frankreich war er für den Prix Femina nominiert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293308312
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum15.12.2015
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2329 Kbytes
Artikel-Nr.3421223
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe






Ich hatte jedoch keineswegs die Absicht, ihm den Rest meines Lebens zu opfern. Das entspricht nicht meiner Veranlagung. Ich sage das weder aus Eitelkeit noch weil ich mich dafür schäme. Wenn ich geblieben bin, dann wegen dieser Erinnerung an die Verletzungen von damals, die mir Schuldgefühle bereiteten, und aus Mitleid mit den Eltern, die nichts mehr von ihren Kindern erwarteten: Meine Mutter verbrachte die Tage außer Haus, mein Vater redete selten ein Wort. Seine einzige Beschäftigung bestand darin, die Pflanzen und Blumen, von denen unser Garten überquoll, zu gießen. Ich kann mich kaum erinnern, ihn je sprechen gehört zu haben. Meine Mutter hatte einmal geklagt, dass Vater seit dem Unfall meines Bruders die Sprache verloren habe und wohl an Aphasie leide. Meine Entscheidung bedeutete nicht, dass ich glaubte, so viel leisten zu können wie mein Bruder oder ein guter Ersatz für ihn zu sein. Ein plötzlicher Schwindel hatte mich erfasst und zu Boden gedrückt, und der Zustand der Kraftlosigkeit dauerte fort und hinderte mich daran aufzustehen. Das war alles.

Insbesondere hatte ich nicht vorgehabt, den Helfershelfer zur Befriedigung seiner Geilheit zu spielen, eine gleichermaßen erbärmliche wie widerwärtige Rolle. Dieses Verlangen war ihm trotz Behinderung erhalten geblieben und hatte wie die damit verbundene Besessenheit etwas Abstoßendes. So bestürzend wie der Anblick einer Mutter, die aus Liebe ihren Sohn auf den Buckel nimmt, um ihn ins Bordell zu tragen. Ich konnte nicht ignorieren, wie sehr mich das anekelte und zugleich zutiefst betrübte, und mich packte eine immense Wut, ohne dass ich genau wusste, warum. Ich schrie meinen Bruder an, dass es doch besser wäre zu sterben, als so zu leben. Daraufhin klammerte ich mich an Mutter und heulte.

Es war eines Abends nach dem Essen. Ich saß müßig vor dem Fernseher, als Mutter meinen Bruder auf dem Rücken tragend aus dem Zimmer trat. Mein Vater hatte sich zurückgezogen und spielte allein eine Partie Go. Wenn ich lauschte, konnte ich bis ins Wohnzimmer hören, wie er die Steine setzte. Zuweilen vernahm ich es auch, wenn ich nicht darauf achtgab. Denn mittlerweile reagierten meine Ohren automatisch auf das Geräusch der Spielsteine.

»Nein, lass mich!«, protestierte mein Bruder ärgerlich hinter ihrem Rücken. Als er sah, wie ich vom Sofa aus zu ihm hinstarrte, wandte er den Kopf ab. Dann wurde er still, allem Anschein nach resignierend, und verbarg sein Gesicht zwischen den Schultern meiner Mutter. Seine Hosenbeine baumelten ins Leere.

»Wo geht ihr hin?«, fragte ich beiläufig. Weder Bruder noch Mutter antworteten auf meine Frage. Von beiden ging eine Bestimmtheit aus, die eine Antwort nicht erwarten ließ, und so unterließ ich es nachzubohren. Mutter setzte meinen Bruder auf dem Rücksitz unseres Wagens ab und schob sich hinter das Lenkrad. Mir kam in den Sinn, dass sie normalerweise mich darum bat zu fahren. Irgendetwas entging mir da, so viel war klar. Heimlich sprang ich hinter ihnen in ein Taxi, um ihnen zu folgen.

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin sie fuhren und was sie vorhatten. Als ich sah, wie das Auto meiner Mutter auf dem Markt der Lotusblüten anhielt, traute ich meinen Augen nicht. Das Freudenviertel wird seit ewigen Zeiten so genannt, aber ich weiß nicht, woher der Name stammt. Vor den mit roten Laternen dekorierten niedrigen Bretterverschlägen machten halb nackte Mädchen die Vorbeigehenden an. Manche wippten mit einem Bein, andere kauten ziemlich vulgär Kaugummi, so als gehörte es für eine Prostituierte dazu. Was wollte meine Mutter hier, vor allem mit meinem Bruder?

Sie schleppte ihn, und er vergrub sein Gesicht zwischen ihren Schulterblättern. So steuerte sie auf eines der eng nebeneinanderstehenden Häuser zu und verschwand darin. Er wirkte jämmerlich, so hinter ihr versteckt, aber Mutters zielstrebiger und selbstbewusster Gang belegte, dass sie nicht zum ersten Mal dorthin kam. Auch die Kaugummi kauenden und Beine schwingenden Huren ließen sie kommentarlos passieren, wobei ihre wissenden Blicke verrieten, dass der Anblick ihnen nicht neu war.

Ich war der Einzige, den das Ganze wirklich befremdete, und ich fühlte mich wie ein Schauspieler wider Willen, den man ohne eine einzige Probe auf die Bühne gestellt hatte. Mein Blick huschte verschämt über die lange Reihe von Gesichtern der Mädchen. Nicht weil ich ihre Gedanken zu erraten suchte, sondern um herauszufinden, ob sie mich musterten. Die Mischung aus Mitleid und Abscheu in ihren Zügen löste in mir ein Gefühl von tiefer Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit aus.

Ich war innerlich aufgewühlt und wollte die Gegend eilig verlassen, da ich nicht wusste, wie damit umgehen. Da näherte sich mir ein Mädchen und zog mich am Arm: »Komm mit. Ich werde nett zu dir sein.«

Mir gelang es, meinen Ärmel aus ihrem Griff zu befreien, und ich erkundigte mich leise: »Wer ist die Dame, die gerade dort hineinging?«

»Du meinst die mit ihrem Sohn auf dem Rücken?«, fragte sie zurück. Anscheinend kannte sie die beiden. »Dieser Anblick ist ein Jammer, nicht wahr? Aber es gibt sicher einen Grund dafür. Ach, lass uns aufhören, darüber zu reden. Komm, amüsier dich lieber mit mir!«

Erneut zupfte sie an meinem Arm. Sie hatte offenbar wenig Interesse, das Gespräch weiterzuführen. Ich bat sie, mir alles zu erzählen, was sie wisse. Sie schaute verständnislos und erwiderte: »Du hast doch selbst gesehen, was los ist. Was gibt es da noch zu erzählen?«

Ob die beiden öfter kämen, fragte ich. Das Mädchen antwortete, dass sie nur gelegentlich da wären. Dann fügte sie melancholisch, mehr zu sich selbst gewandt, hinzu: »Wirklich eine traurige Geschichte. Der muss wohl einiges auf dem Kasten gehabt haben. Während seines Militärdienstes hat es ihn dann erwischt. Ich habe keine Ahnung, wie es dazu kam. Jetzt kümmert sich seine Mutter um ihn. So eine Frau gibt es kein zweites Mal, meinst du nicht?«

Ich riss mich los und ging über den Markt der Lotusblüten. Mir war zum Erbrechen übel. Nein, es gab keine zweite Mutter wie sie, schrie es in mir drin. Nein, keine zweite konnte so etwas tun! Und diese Stimme tief in meinem Innersten wollte mir das Herz zerreißen.

Ich lief eine Weile umher. An einem Straßenausschank machte ich halt und trank Soju, einen aus Getreide und Süßkartoffeln gebrannten Schnaps, ohne mich lange zu besinnen. Ich hoffte, der Soju würde mir sofort zu Kopf steigen, aber mein Verstand wurde zunehmend klarer und meine Sinne schärften sich. Ich spürte den Alkohol kaum. Ohne festes Ziel kehrte ich zum Markt der Lotusblüten zurück. Meine Mutter wartete vor dem Haus.

Wie sie so dastand, an die Glastür des Gebäudes gelehnt, in dem ihr Sohn verschwunden war, erinnerte mich ihre Erscheinung an etwas. Am Tag meiner Aufnahmeprüfung hatte sie genauso vor dem eisernen Tor am Eingang der Universität gestanden und gebetet, ich möge bestehen. In ihrem Leben hatte sie zweimal für mich beten müssen. Wer weiß, vielleicht hätte sie sich gerne öfter in dieser Pose gezeigt. Doch ich habe ihr keine weiteren Gelegenheiten dazu geboten. Denn ich hatte mich über die Mauer des Instituts davongemacht, in dem ich die Wiederholungsprüfung für die Aufnahme an der Universität hätte vorbereiten müssen. In einem abgelegenen Bauerndorf im Norden von Gyeonggi hatte man ein Betongebäude errichtet, eine sogenannte Militärakademie, die damit warb, eine völlig neuartige, bahnbrechende Lehrmethode erfunden zu haben. Dort wandte man die Zucht des Militärs und die Strenge einer Haftanstalt auf Privatleben wie Schlafen, Essen und Ausgehen ebenso an wie auf das Lernen, wodurch absolute Kontrolle ausgeübt wurde. Die Zeit dort war für mich die Hölle gewesen, und ich hatte irgendwann dieses Eingesperrtsein nicht mehr ertragen können. Das war meine erste Flucht gewesen.

Was mochte sie gebetet haben, an die Tür gelehnt, während ihr verunstalteter Erstgeborener seine Sinneslust befriedigte? Welche Art von Gebet gestattete ihr Gott wohl in dieser Situation? Nach meinem Dafürhalten gab es keinen Gott, der solch ein Gebet gutheißen würde, und daher war es in meinen Augen heuchlerisch. Mit einem Mal kam mir meine Mutter verabscheuungswürdig vor. Ich näherte mich ihr, bis mein Kinn ihre Schulter streifte.

»Mutter!« Meine Stimme kam mir vor wie das Brüllen eines wilden Tieres. Den Ablauf ihrer Bewegung, wie sie ihre Augen aufschlug, den gesenkten Kopf hob und ihren Rumpf in Richtung meiner Stimme drehte, nahm ich wahr wie einen Film in Zeitlupe. Nie werde ich das Entsetzen in ihrer Miene vergessen. Es war der Gesichtsausdruck eines Menschen, der eine verbotene Szene beobachtet hatte. Dabei war ich derjenige, der etwas Unerlaubtes gesehen hatte. Doch meine Mutter behielt ihre Gefühle unter Kontrolle, was ganz ihrer geistesgegenwärtigen Art entsprach. Wer meine Familie kennt, wird bestätigen, dass wir nur dank ihres Geschicks durchs Leben gekommen sind. Auch innerhalb der Familie sind wir uns darüber einig.

»Ah, da bist du ja!«, erwiderte sie so selbstverständlich, als hätten wir uns dort verabredet gehabt. Ihr Tonfall war so beiläufig, dass ich mich fragte, ob das Treffen nicht tatsächlich ausgemacht gewesen war und ich es nur vergessen hatte. »Aber du wärst besser nicht gekommen«, fügte sie hinzu, während sie ihren Blick in die Ferne richtete. Ihre Worte klangen sehr bestimmt, als sie mich aufforderte, unverzüglich heimzukehren, da mein Bruder bald fertig sein würde. In ihrer Stimme schwang eine Strenge...


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