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Eine Welt in den Händen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
269 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am17.06.20191. Auflage
Eine junge Frau, Paula Karst, entschließt sich, ihre Heimatstadt Paris zu verlassen und nach Brüssel umzusiedeln: Dort besucht sie die Akademie für angewandte Kunst und lernt, auch die schwierigsten Aspekte der Wirklichkeit mit der Hand täuschend nachzuahmen. Da solche Fähigkeiten in einer Zeit, die sich mit Surrogaten zufriedengibt, en vogue sind, ist sie ständig mit der termingerechten Erfüllung ihrer Aufträge beschäftigt: Mal ist ihre Kunst in Russland gefragt, mal soll sie in Paris die entsprechend luxuriösen Apartments illuminieren, schließlich bricht sie nach Rom auf, in das Reich der Cinecittà, um an der Illusion von Wirklichkeit zu arbeiten.

Doch die Serienproduktion von geschäftlichen Erwägungen dienenden Nachahmungen ist ihr nicht Herausforderung genug: Deshalb beschließt sie, sich bei den Nachbildungen der berühmten Höhlen von Lascaux (Entstehungszeit: zwischen 17000 und 15000 v. Chr.) in der Dordogne zu engagieren. Die Aufgabe unterscheidet sich zunächst in nichts von den gängigen, den Effekt der Realität erzeugenden Zeichnungen. Während der Arbeit an der millimetergenauen Rekonstruktion der berühmten Wandmalereien drängen sich ihr allerdings unabweisbare Fragen auf: Kann man als Gegenwartsmensch prähistorische Gemälde reproduzieren, müsste man sich dafür nicht in einen Urzeitmenschen verwandeln? Oder ist umgekehrt die Rettung der Zeichnungen durch Vortäuschung das einzige Gegenmittel zum die (Um-)Welt zerstörenden Lebensstil? Ist eine Welt, die jederzeit und überall zuhanden ist, nicht notwendigerweise dem Untergang geweiht? Gibt es überhaupt noch einen eindeutigen Unterschied zwischen Realität und Nachahmung, zwischen harten Fakten und inszenierten Illusionen, zwischen Nachrichten und fabrizierten Meldungen?


Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, zählt zu den einflussreichsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungsbände veröffentlicht. Für ihren 2010 erschienenen Roman Die Brücke von Coca wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, Die Lebenden reparieren gewann zahlreiche Preise und wurde 2016 verfilmt. Kerangal lebt mit ihrer Familie in Paris.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextEine junge Frau, Paula Karst, entschließt sich, ihre Heimatstadt Paris zu verlassen und nach Brüssel umzusiedeln: Dort besucht sie die Akademie für angewandte Kunst und lernt, auch die schwierigsten Aspekte der Wirklichkeit mit der Hand täuschend nachzuahmen. Da solche Fähigkeiten in einer Zeit, die sich mit Surrogaten zufriedengibt, en vogue sind, ist sie ständig mit der termingerechten Erfüllung ihrer Aufträge beschäftigt: Mal ist ihre Kunst in Russland gefragt, mal soll sie in Paris die entsprechend luxuriösen Apartments illuminieren, schließlich bricht sie nach Rom auf, in das Reich der Cinecittà, um an der Illusion von Wirklichkeit zu arbeiten.

Doch die Serienproduktion von geschäftlichen Erwägungen dienenden Nachahmungen ist ihr nicht Herausforderung genug: Deshalb beschließt sie, sich bei den Nachbildungen der berühmten Höhlen von Lascaux (Entstehungszeit: zwischen 17000 und 15000 v. Chr.) in der Dordogne zu engagieren. Die Aufgabe unterscheidet sich zunächst in nichts von den gängigen, den Effekt der Realität erzeugenden Zeichnungen. Während der Arbeit an der millimetergenauen Rekonstruktion der berühmten Wandmalereien drängen sich ihr allerdings unabweisbare Fragen auf: Kann man als Gegenwartsmensch prähistorische Gemälde reproduzieren, müsste man sich dafür nicht in einen Urzeitmenschen verwandeln? Oder ist umgekehrt die Rettung der Zeichnungen durch Vortäuschung das einzige Gegenmittel zum die (Um-)Welt zerstörenden Lebensstil? Ist eine Welt, die jederzeit und überall zuhanden ist, nicht notwendigerweise dem Untergang geweiht? Gibt es überhaupt noch einen eindeutigen Unterschied zwischen Realität und Nachahmung, zwischen harten Fakten und inszenierten Illusionen, zwischen Nachrichten und fabrizierten Meldungen?


Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, zählt zu den einflussreichsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungsbände veröffentlicht. Für ihren 2010 erschienenen Roman Die Brücke von Coca wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, Die Lebenden reparieren gewann zahlreiche Preise und wurde 2016 verfilmt. Kerangal lebt mit ihrer Familie in Paris.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518761199
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum17.06.2019
Auflage1. Auflage
Seiten269 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2520 Kbytes
Artikel-Nr.4016757
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Von den zwanzig Schülern, die zwischen Oktober 2007 und März 2008 am Institut de peinture, Rue du Métal 30A in Brüssel, ausgebildet wurden, sind drei in Verbindung geblieben, haben sich Kontakte und Aufträge weitergereicht, vor unrealistischen Plänen gewarnt, einander ausgeholfen, um eine Arbeit fristgerecht hinzukriegen, und diese drei - darunter Paula mit ihrem langen schwarzen Mantel und ihren smokey eyes - treffen sich heute Abend in Paris.

Es war eine einmalige Gelegenheit, eine Planetenkonjunktion, wie sie schöner nicht sein konnte, so selten wie die Wiederkehr des Halley'schen Kometen! - sie hatten im Netz ihre Aufregung geteilt, ihre Posts großspurig mit Bildern illustriert, die sie von Astrofotografie-Webseiten geklaubt hatten. Am späten Nachmittag jedoch blickte jeder Einzelne dem Widersehen eher zurückhaltend entgegen; Kate hatte den Tag auf einer Trittleiter in einem Hausflur der Avenue Foch verbracht und hätte nichts dagegen gehabt, daheim vor Game of Thrones abzuhängen und Tarama mit den Fingern zu essen, Jonas hätte lieber noch länger an diesem Tropendschungelfresko gearbeitet, das in drei Tagen fertig sein musste, und Paula, am Morgen erst aus Moskau zurückgekommen, litt unter einem Jetlag und wusste nicht mehr so recht, ob dieses Treffen eine gute Idee war. Etwas Stärkeres hat die drei nun aber hinausgetrieben, als es Abend wurde, ein Bauchgefühl, eine körperliche Sehnsucht, die Sehnsucht, einander wiederzuerkennen, ihre Gesichter und Gebärden, den Klang ihrer Stimmen, ihre Art, sich zu bewegen, zu trinken, zu rauchen, alles, was geeignet war, sie auf der Stelle wieder in die Rue du Métal zurückzuversetzen.

Das Café schwarz vor Menschen. Jahrmarktgeschrei und Kirchendämmer. Sie erscheinen pünktlich zur Verabredung, die drei, perfekte Übereinstimmung. Stürzen als Erstes aufeinander zu, Umarmungen und Eröffnungsgeplänkel, dann bahnen sie sich einen Weg, im Gänsemarsch, zusammengeschweißt, ein Block: Kate, platinblondes Haar mit schwarzem Ansatz, ein Meter siebenundachzig, mollige Schenkel in slalomtauglicher Steghose, Motorradhelm in der Armbeuge und so große Zähne, dass die Oberlippe zu kurz ist; Jonas, Eulenaugen und graue Haut, Arme wie Lassos, Yankeemütze; und Paula, die schon viel besser aussieht. Sie finden einen Tisch in einer Ecke, bestellen zwei Bier, ein Spritz - Kate: Ich mag die Farbe - und beginnen dann gleich mit dem Dauerpendeln zwischen Drinnen und Draußen, das die Abende der Raucher im Café rhythmisiert, gehen auf die Straße mit der Fluppe im Mund, das Feuer in der hohlen Hand. Die Müdigkeit des Tages verschwindet im Handumdrehen, die Erregung ist zurück, die Nacht bricht an, man wird reden.

Paula Karst, willkommen zurück, beschreib deine Eroberungen, erzähl deine Heldentaten! Jonas reibt ein Streichholz an, sein Gesicht zuckt kurz im Schein der Flamme, kupferfarben, und augenblicklich ist Paula in Moskau, ihre Stimme heiser, zurück in den großen Mosfilm-Studios, wo sie drei Monate verbracht hat, den Herbst, doch anstatt irgendwelche allgemeinen Eindrücke zu erzählen, statt eines chronologischen Berichts fängt sie an, den Salon Anna Kareninas zu beschreiben, der im Kerzenlicht fertiggemalt werden musste, weil ein Stromausfall am Abend vor dem ersten Drehtag die Dekors in Dunkelheit getaucht hatte; sie beginnt langsam, als folgten die Worte Bildern wie bei einer Simultanübersetzung, als erlaubte die Sprache zu sehen, und lässt die Räumlichkeiten erstehen, die Gesimse und Türen, die Täfelungen, die Form der Lambris' und die Gestalt der Fußleisten, die Feinheit der Stuckaturen und die so besondere Farbgebung der Schatten, die es an den Wänden aufzubringen galt; sie zählt genau die Töne der Palette auf, Seladongrün, Blassblau, Gold und Zinkweiß, nach und nach kommt sie in Fahrt, hohe Stirn, glühende Wangen, und schildert diese Malnacht, diese Wahnsinnsschinderei, beschreibt ausführlich die überreizten Produzenten in schwarzer Daunenjacke und Yeezy Sneakers, die in rollendem und schmeichelndem Russisch die Maler anfeuerten und daran erinnerten, dass kein Verzug geduldet werde, keiner, aber mögliche Prämien in Aussicht stellten, und wie sie plötzlich begriff, dass sie die ganze Nacht würde arbeiten müssen, und in Panik geriet, weil es halb dunkel war, überzeugt, dass die Farbtöne nicht richtig sein konnten und die Übergänge im Scheinwerferlicht zu sehen sein würden, es war Wahnsinn - sie tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, während Jonas und Kate zuhören und schweigen, sie erkennen hier einen erstrebenswerten Wahnsinn, einen, den auch sie stolz für sich beanspruchen -; dann erzählt sie weiter, beschreibt ihre Verblüffung, als am Abend plötzlich eine Handvoll Studenten von der Kunsthochschule auftauchte, die der Chefdekorateur zur Verstärkung geholt hatte, talentierte Hilfskräfte, die knapp bei Kasse waren, gewiss, aber auch auf dem besten Weg, alles zu versauen, also war sie es, die ihnen in dieser Nacht auf dem abgedeckten Boden kniend die Paletten vorbereitete und im Licht eines iPhone-Lämpchens, das einer von ihnen auf die Tuben richtete, die Farben mischte, worauf sie jedem einen Abschnitt der Dekoration zuwies, zeigte, welcher Effekt erreicht werden sollte, und dann von einem zum andern ging, um einen Pinselstrich zu verfeinern, einen Schatten zu setzen, ein Weiß aufzuhellen, zugleich gezielt und zufällig bewegte sie sich, so als führte ihr elektrisierter Körper sie instinktiv zu demjenigen, der zögerte, oder zu derjenigen, die abschweifte, so dass um Mitternacht jeder an seinem Platz war und schweigend, konzentriert malte, die Atmosphäre am Set gespannt wie ein Trampolin, knisternd, irreal, die bewegten Gesichter von Kerzen erleuchtet, funkelnde Blicke, marsschwarze Pupillen, man hörte nur das Wischen der Pinsel auf den Holzplatten, das Quietschen der Sohlen auf der Plastikplane, die verschiedenen Atemgeräusche, einschließlich der Schnaufer eines apathischen Hundes, der zusammengerollt mitten in dem Chaos lag, eine plötzlich von wer weiß woher ertönende Stimme, ein Ausruf - Ð±Ð»Ñ ÑмоÑÑи, ÑмоÑÑи здеÑÑ ÐºÐ°Ðº кÑаÑиво, verflucht, schau mal, schau dir das an, ist das nicht schön -, und wenn man die Ohren spitzte, vernahm man im Hintergrund den Rhythmus eines russischen Rap; das Studio summte wie ein Bienenstock, erfüllt von menschlicher Anwesenheit, und bis zum Morgengrauen war die Spannung mit Händen zu greifen, Paula arbeitete ohne Müdigkeit, je weiter die Nacht fortschritt, desto lockerer, freier, sicherer wurden ihre Gesten; und dann hielten gegen sechs Uhr morgens feierlich die Elektriker Einzug mit den Stromaggregaten, die sie in Moskau abgeholt hatten, einer mit Tenorstimme rief fiat lux!, und alles wurde hell, starke Strahler warfen ein sehr weißes Licht aufs Set, und Anna Kareninas großer Salon zeigte sich im silbrigen Schein eines Wintermorgens: er war da, er existierte; die hohen Fenster waren reifbedeckt und die Straße verschneit, aber innen war es warm und behaglich, ein majestätisches Feuer loderte im Kamin, und Kaffeegeruch zog durch den Raum, im Übrigen waren die Produzenten zurückgekehrt, geduscht, rasiert, strahlend, sie öffneten Wodkaflaschen und Pappschachteln, in denen sich lauwarme, mit Zimt und Kardamom bestäubte Blinis stapelten, verteilten Cash an die Studenten, die sie mit der männlichen Komplizenhaftigkeit von Mafiapaten im Nacken packten, oder brüllten englisch auf Mailboxen ein, die Telefone in Los Angeles, London oder Berlin vibrieren ließen; der Druck wich, das Fieber aber nicht, alle blickten sich blinzelnd um, geblendet von den Milliarden Photonen, die jetzt die Textur der Luft bildeten, staunend über das, was sie vollbracht hatten, trotzdem ein bisschen fertig, Paula schaute instinktiv nach den heiklen Anschlüssen, ängstlich gespannt auf das Ergebnis, aber nein, es war gut, die Farben waren richtig, und nun gab es Schreie, aneinanderklatschende Handflächen, Umarmungen und ein paar Tränen der Erschöpfung, manche legten sich mit ausgebreiteten Armen auf den Boden, andere deuteten Tanzschritte an, Paula küsste ein wenig lang einen der Aushilfsmaler, der große Kerl mit den dunklen Augen schob eine Hand unter ihren Pulli und auf ihre heiße Haut, verweilte in ihrem Mund, während die Handys wieder anfingen zu läuten, jeder seine Sachen zusammensuchte, seinen Mantel zuknöpfte, sich den Schal umschlang, die Handschuhe anzog oder seine Zigarette zückte, die Außenwelt sich wieder belebte, aber irgendwo auf diesem Planeten, in einem der großen Mosfilm-Studios, wartete man jetzt auf Anna, Anna mit den schwarzen Augen, Anna, die unsterblich Verliebte, ja, alles war bereit, das Kino konnte losgehen und mit ihm das Leben.

Die Kälte ist schneidend, die Tür des Cafés öffnet und schließt sich wie...
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