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Der Eiskönig aus dem Bleniotal

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
336 Seiten
Deutsch
Insel Verlag GmbHerschienen am17.06.20191. Auflage
Tessin, in den 1830er Jahren. Bittere Armut herrscht im Bleniotal. Der Straßenjunge Carlo Gatti flieht von dort, kommt auf Umwegen nach Paris. Er schlägt sich durch, verkauft Esskastanien, um zu überleben, atmet begierig das Flair der Hauptstadt. Er steigt auf durch harte Arbeit. Als energischer Selfmademan geht er nach London, ein kometenhafter Aufstieg beginnt. Er gründet Kaffeehäuser im französischen Stil, sein Erfolgsrezept: Schokolade und Speiseeis, auch für die einfache Bevölkerung.
Im brodelnden London der Jahrhundertwende wird Carlo Gatti berühmt. Der Genuss von Speiseeis war lange den Wohlhabenden vorbehalten. Doch seine »Penny Licks« können sich auch einfache Leute leisten. Anne Cuneo erzählt die wundersame Geschichte eines Aufsteigers, der es vom Straßenkind im Tessin zum Eiskönig von London brachte. Ein ergreifendes Porträt eines Lebens im viktorianischen England wie bei Charles Dickens. Nach einer wahren Geschichte.



Anne Cuneo, geboren 1936 in Paris, wuchs in Italien in Waisenhäusern auf. Sie verfasste Romane, Essays, Gedichte und Autobiografien und war als Regisseurin und Journalistin tätig. Sie starb 2015.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR28,80
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextTessin, in den 1830er Jahren. Bittere Armut herrscht im Bleniotal. Der Straßenjunge Carlo Gatti flieht von dort, kommt auf Umwegen nach Paris. Er schlägt sich durch, verkauft Esskastanien, um zu überleben, atmet begierig das Flair der Hauptstadt. Er steigt auf durch harte Arbeit. Als energischer Selfmademan geht er nach London, ein kometenhafter Aufstieg beginnt. Er gründet Kaffeehäuser im französischen Stil, sein Erfolgsrezept: Schokolade und Speiseeis, auch für die einfache Bevölkerung.
Im brodelnden London der Jahrhundertwende wird Carlo Gatti berühmt. Der Genuss von Speiseeis war lange den Wohlhabenden vorbehalten. Doch seine »Penny Licks« können sich auch einfache Leute leisten. Anne Cuneo erzählt die wundersame Geschichte eines Aufsteigers, der es vom Straßenkind im Tessin zum Eiskönig von London brachte. Ein ergreifendes Porträt eines Lebens im viktorianischen England wie bei Charles Dickens. Nach einer wahren Geschichte.



Anne Cuneo, geboren 1936 in Paris, wuchs in Italien in Waisenhäusern auf. Sie verfasste Romane, Essays, Gedichte und Autobiografien und war als Regisseurin und Journalistin tätig. Sie starb 2015.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783458762454
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum17.06.2019
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.4712
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4016763
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
I

»O Signur! Ma à l´è un bagaï!«

Er spricht nicht wie wir. Es ist schon fast fünfzig Jahre her, aber mir ist, als wäre es erst gestern gewesen. Ich sehe diese riesige Hand, die sich mir in meinem Loch entgegenstreckt. Hinter ihm regnet es in Strömen, die Räder machen jenes typische Geräusch, das man hört, wenn sie durch Schlamm fahren. Eine richtige Ratte flitzt zwischen seinen Schuhen voller Straßendreck hindurch, direkt auf der Höhe meiner Augen. Vom Mann ist nur diese Hand zu sehen und zwei Füße, die fest auf dem Boden stehen - an eine Flucht ist nicht zu denken.

Die Hand kommt näher, der Mann beugt sich noch etwas vor, um mehr Kraft zu haben, nicht etwa, weil ich dick oder schwer wäre, sondern weil ich mich festklammere. Wo ich doch endlich einen Unterschlupf gefunden habe ...

Als er mich aus dem Loch gezogen hat, sehe ich ihn besser, der Schein einer Laterne fällt auf ihn, er ist ein Riese. Ich bin augenblicklich patschnass.

»O Signur«, murmelt der Riese wieder, »das ist ja ein Kind. Ich habe dich für eine Katze gehalten. Wie alt bist du?« Ich schaue ihn an, ohne ein Wort hervorzubringen, ich verstehe seine Frage nicht. Er spricht sonderbar. Dann fragt er mich auf Italienisch: »Wie heißt du?«

»B... Boy.«

»Du heißt Boy?«

Ich nicke.

Einen Augenblick lang sieht er mich an, als ob er zögerte - er wird mich laufen lassen. Aber nein, er hebt mich auf, schlägt seinen weiten Umhang auf und hüllt mich ein.

Er drückt mich an sich und zum ersten Mal seit Langem bin ich an der Wärme. Dieser Mann kommt mir vor wie ein heißer Ofen.

Jetzt aus der Nähe sehe ich auch seinen schwarzen Bart und die dunklen Augen.

»Hast du Eltern, Boy?«

Geduldig wartet er auf meine Antwort.

»Meine Mutter ... überfahren ...«

»Wann?«

Ich mache eine hilflose Handbewegung. Ich habe sie über die Gasse laufen sehen und aus den Augen verloren, dann habe ich einen Schrei gehört und etwas Lebloses am Boden liegen sehen. Ich wollte zu ihr laufen, aber eine Kolonne schwer beladener Wagen stand mir im Weg. Als ich endlich hindurchschlüpfen konnte, war niemand mehr da. War das heute? Gestern? Ich weiß es nicht.

Er lässt es gut sein und macht sich auf den Weg.

Ich bin sicher, dieser Mann muss Kaminfeger sein, einer von denen, die kleine Jungen suchen, die für sie in enge Kamine kriechen.

Der Riese geht zügigen Schrittes, dann und wann murmelt er ein paar unverständliche Worte. Er hält mich immer noch im Arm, nach und nach wird mir wärmer.

Wir treten irgendwo ein, zuerst sehe ich nichts, dann schlägt er seinen Umhang auf und stellt mich auf den Boden. Ich befinde mich in einer Küche, so erschöpft, dass mich meine Beine im Stich lassen und ich zu Boden falle.

Wieder mache ich die Augen auf und sehe jetzt zwei über mich gebeugte Gesichter: einen jungen breitschulterigen Mann mit Bart und eine Frau neben ihm. Sie wirkt sehr klein und ist voller Runzeln wie ein Apfel, sie trägt ein Kopftuch und schaut mich mit stechendem Blick aus dunklen Augen an.

Sie sagen Wörter, die ich nicht verstehe.

Als sie sehen, dass meine Augen wieder offen sind, wedelt die Frau mit einem Finger unter meiner Nase herum und schreit etwas.

Der Mann stellt mich wieder auf die Beine und ich sehe, dass es der gleiche ist wie vorher.

»Geht´s besser, Boy?«

Er redet Italienisch.

Ich schlucke leer, schüttle schwach den Kopf, bringe nichts heraus, alles dreht sich.

»Der Kleine ist am Verhungern«, ruft der Mann plötzlich. Er setzt mich an den Tisch, an seiner Stimme erkenne ich, dass er Befehle erteilt. Die Alte stellt eine Schale vor mich hin. Der Duft lähmt mich. Ich habe schon so lange nichts mehr gegessen, dass sich mir der Magen umdreht. Der Mann schüttelt den Kopf, setzt sich mir gegenüber, greift nach einem Löffel, füllt ihn und streckt ihn mir entgegen.

»Hier, Zichinin, iss.«

Ich mache den Mund auf, und er steckt mir langsam, mit viel Geschick und Geduld den Löffel Suppe hinein, meine erste Suppe, nur ganz wenig auf einmal.

Ich weiß, dass er mich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal Zichinin (Zikinin ausgesprochen) nannte, denn später tat er es immer wieder - wenn die Leute es nicht verstanden, runzelten sie kurz ihre Stirn, aber die Tessiner, die wussten, dass Zichinin »ein kleines bisschen« oder »Prise« heißt, amüsierten sich köstlich über diesen Spitznamen - inzwischen bin ich gut sechs Fuß groß.

»Ja, aber als ich ihm diesen Übernamen gab, war er wirklich nur ein Dreikäsehoch und so leicht, dass ich ihn mit einer Hand hochheben konnte«, erklärte er jeweils.

Als ich die Suppe gegessen hatte, nahm mich die alte Frau, Nonna Gina, wie ich später erfuhr, bei der Hand, zog mich splitternackt aus und steckte mich in einen Holzbottich, mit dem sie zuvor sehr beschäftigt war, während ich keine Ahnung hatte, dass es meinetwegen war.

Ich schlug um mich, aber nur halbherzig, denn an diesem Abend war ich buchstäblich am Sterben, und sie war stärker als ich. Sie redete pausenlos mit einer für eine so kleine Frau erstaunlich tiefen Stimme, und natürlich verstand ich kein Wort. Vermutlich sagte sie, ein verlaustes Ding wie ich müsse tüchtig gestriegelt werden. Nachdem sie mich wieder aus dem Bottich gezogen hatte, scherte sie mir auch noch den Kopf, dann zog sie mir saubere Sachen an.

Der Mann, der während meiner erzwungenen Waschung nicht da gewesen war, kam zurück und brachte einen schwarzhaarigen Jungen mit, der älter war als ich.

»Agostino«, sagte er auf Italienisch, »hier ist ... wie soll ich dich denn nennen, mein Junge? Erinnerst du dich wirklich an keinen anderen Namen als Boy?« Ich dachte nach. Ganz weit hinten in meinem Gedächtnis gab es vielleicht einen Namen, vielleicht Nicolás, aber war das wirklich ich? Ich hatte bis jetzt immer nur Boy hier, Boy da gehört. Macht nichts.

»Nicolás. Nick,« stammelte ich.

»Aha, sehr gut. Also denn, Agostino, das ist Nicola.« Den Namen hat er immer so ausgesprochen, italienisch, mit Betonung auf dem o. »Er bleibt bei uns, wir werden sehen, wofür wir ihn brauchen können, später, wenn es wieder ein bisschen Fleisch gibt an diesem Knochengestell.«

Agostino sah mich an, mit skeptischem Blick, wie es mir schien, und ich fragte mich, ob ich wohl sein Prügelknabe sein würde, wie bislang auf der Straße, wo meine Mutter und ich gelebt hatten und wo es üblich gewesen zu sein schien, dass die Älteren ihren Spaß daran hatten, die Kleineren zu quälen. In Wirklichkeit war er dann zwar distanziert mir gegenüber, aber immer sehr nett.

Eine Frau mit einem Baby an der Hüfte kam hereingewirbelt, in meinen Kinderaugen schön wie die Madonna persönlich.

Sie fing zu schreien an und fuchtelte mit einer Hand herum, einmal in die Richtung des Mannes, dann in meine. Hier brauchte es keine Sprachkenntnisse, um zu verstehen. Diese Person war wütend, weil der Mann, ihr Ehemann, wie ich vermutete, einen streunenden Hund aufgelesen hatte.

»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Agostino plötzlich. »Er hört nicht auf sie und wird dich nicht wieder auf die Straße setzen.«

»Wer ... wer ist das?«

»Tante Maria, die Frau von Onkel Carlo. Er erträgt es nicht, verwahrloste Kinder auf der Straße zu sehen, und hat schon einige nach Hause gebracht. Aber nicht aus Wohltätigkeit, du wirst hart dafür arbeiten müssen, mach dich darauf gefasst.«

Erst Jahre später habe ich erfahren, dass der »Mann«, wie ich ihn immer noch nannte, an den Ort zurückgekehrt war, wo er mich gefunden hatte, eine heruntergekommene Straße in der Gegend von Seven Dials, um etwas über den Unfall meiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Aber er hat natürlich nichts herausgefunden. In Seven Dials werden keine Fragen beantwortet, die von Ausländern schon gar nicht. Von diesem Tag an war ich für ihn einer der Seinen.

»Unser Zichinin«, pflegte er zu sagen.

Am anderen Morgen, geschlafen hatte ich in einem Zimmer mit Agostino und ein paar anderen Kindern, fragte dieser mich etwas in seiner eigenen Sprache, doch weil ich ihn nicht verstand, wechselte er ins Italienische.

»Was machst du hier, wenn du nicht sprechen kannst wie wir?«

Was sollte ich antworten? Ich sah ihn nur an und zitterte innerlich - würde er mich rauswerfen können?

»Du musst es Onkel Carlo angetan haben.« Er blieb stehen und musterte mich einen Augenblick lang kritisch. »Aber sprechen kannst du schon?« Ich nickte. »Umso besser, dann sag etwas.«

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen.

»Wer ... wer ist Z... Zio Carlo?«

Zufrieden sah er mich an, als ob es sein persönlicher Erfolg gewesen wäre, mich zum Sprechen gebracht zu haben.

»Zio Carlo? Das ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters. Carlo Gatti. Der Chef.«

»Der Chef von was?«, brachte ich mühsam hervor. Er musste Kaminfeger sein, da war ich mir ganz sicher, auch wenn sein Haus nicht unter einer Schicht Kohlenstaub lag. Aber gut, irgendetwas musste ich ja sagen.

»Er stellt Schokolade her. Und er ist der Chef des Café Gatti am Markt von Hungerford und einigen kleineren Cafés anderswo. Wusstest du nicht, dass du bei einem Kuchenbäcker und Gastwirt gelandet bist?«

Nein, an jenem Tag wusste ich nicht, was ein Gastwirt war und das Wort Schokolade...
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